Fei Dao
Das Schamgefühl ist überwunden
Aus dem Chinesischen von Lukas Dubro, Felix Meyer zu Venne und Chong Shen
Vor einigen Jahren bin ich auf einer Veranstaltung einem Arthouse-Regisseur begegnet, den ich sehr schätze. Dieser Regisseur ist vor allem für seinen Realismus bekannt. Mit seiner Kamera hielt er die großen Veränderungen fest, denen die kleinen Städte und Dörfer Chinas in dieser wechselvollen Zeit ausgesetzt sind. Ich musste dabei an mein eigenes Zuhause denken. In seinem Vortrag sprach er darüber, dass für die chinesische Gesellschaft das »Heute« von großer Bedeutung ist – die »Vergangenheit« und die »Zukunft« hingegen bleiben vage. Deshalb habe er sich dazu entschieden, mit seinem nächsten Film zurück in die »Vergangenheit« zu gehen, um einen anderen Blick auf Chinas Geschichte zu werfen. In der anschließenden Fragerunde mit dem
Publikum fragte ich ihn: Könnten Sie danach nicht einen Film drehen, der sich mit der Zukunft befasst? Einen Science-Fiction-Film? Das Publikum brach in Gelächter aus. Für die Anwesenden schien der Begriff Science-Fiction in einem vornehmen Ambiente wie diesem vollkommen fehl am Platz zu sein. Es war, als hätte jemand Luciano Pavarotti zum Beatboxen gebeten.
Mir war das alles ehrlich gesagt sehr peinlich. Ich dachte, vielleicht halten mich die ganzen Leute in diesem Raum für einen Exzentriker, der bei öffentlichen Vorträgen immer seltsame Fragen stellt. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass diejenigen, die Science-Fiction mögen, nur einen winzigen Teil der riesigen Bevölkerung Chinas ausmachen. Leute, die sich mit Science-Fiction nicht auskennen, halten das Genre für Kinderkram – ähnlich wie Animes, Martial-Arts-Geschichten, bizarre Kostüme und provokante Frisuren. Willst du erwachsen werden, solltest du all das hinter dir lassen. Kurz gesagt: Die meisten finden es unrealistisch und lebensfern. Dabei kennen sie sich damit überhaupt nicht aus. In den Köpfen der Leute ist Science-Fiction wie ein weit entferntes Land – sie mögen davon gehört haben, wirklich etwas darüber wissen tun sie nicht. Wie auch? Schließlich interessieren sie sich nicht im Geringsten dafür. Wenn dann doch mal der Begriff »Science-Fiction« an ihr Ohr dringt, fragen sie mit ratloser Miene: »Ist Harry Potter
Science-Fiction?«
Allerdings war ich damals noch sehr jung und besaß einen exzentrischen Wagemut. In einer Teepause während einer internationalen Wissenschaftskonferenz kam mir deshalb der plötzliche Gedanke, zu einem bekannten Sinologen aus Deutschland zu gehen und ihn zu fragen, ob er schon einen Science-Fiction-
Roman aus China gelesen habe. Dieser alte Herr mit grauem Haar hatte einmal gesagt: In der chinesischen Literatur nach 1949 gibt es weder Autoren noch Werke von internationaler Bedeutung. Das sehe ich anders. Zu dem Zeitpunkt hatte Mo Yan noch nicht den Literaturnobelpreis erhalten, aber der zweite Band von Cixin Lius Trisolaris
-Trilogie mit dem Titel Der dunkle Wald
war schon erschienen. Im gesamten Science-Fiction-Kosmos des Landes herrschte große Begeisterung über die Reihe. Ich war mir ganz sicher: Im Feld der Science-Fiction hatten chinesische Schriftsteller Meisterwerke geschrieben, die es ohne Weiteres mit den Klassikern aus dem Westen aufnehmen können. Dennoch beendete der Herr das Thema höflich mit dem Satz: »Ich lese keine Science-Fiction, auch nicht aus Deutschland.« Das kann ich ihm selbstverständlich nicht vorwerfen: Schließlich lesen Chinesen auch nicht gern Science-Fiction aus ihrem eigenen Land.
Ehrlich gesagt gehörte ich noch nie zu jenen fanatischen Fans, die ihr geliebtes Genre für das beste der Welt und die breite Masse, die das nicht so sieht, für blind halten. Ich streite mich nicht mal gern mit anderen darüber. Meine Fragen waren eher so etwas wie Performance-Kunst: Aus Gründen der Sicherheit oder auch, weil es einfach ist, haben die Leute eine emotionale Firewall um sich aufgebaut, die viele nutzlose Informationen der Außenwelt herausfiltert – Science-Fiction gehörte leider dazu. Meine Idee war, das »nutzlose« Genre auf die andere Seite der Firewall zurückzuwerfen, damit die Menschen es sich noch mal genauer ansehen müssen, und zwar mit vollem Bewusstsein! Viele Leute mögen denken, dass das sinnlos ist. Geschadet habe ich damit sicherlich niemandem
.
Zu ergänzen wäre noch, dass Science-Fiction in China lange Zeit unsichtbar geblieben ist – man konnte das Genre mit der Lupe suchen. Als Philologie-Student konnte man in einer chinesischen Literaturgeschichte keine Spur von Science-Fiction entdecken. (Natürlich tauchen in westlichen Büchern zur Literaturgeschichte hier und da die Namen Margaret Atwood, Kurt Vonnegut und Thomas Pynchon auf, dann aber immer mit folgender Erklärung: Diese Autoren betrachten die Science-Fiction als literarisches Experiment. So als bestünde die Angst, dass sich irgendein Science-Fiction-Autor in die glorreiche Literaturgeschichte einschleichen könnte.) Auf den eleganten, ernsten und ehrenvollen Literaturkonferenzen waren Science-Fiction-Autoren oder -Forscher nur schwer zu finden. Und auch in den Mainstream-Medien tauchte die Science-Fiction nur sehr selten auf. Wenn eine Zeitung oder eine Zeitschrift eine Meldung zu dem Thema machte oder die Zeitschrift eines bekannten Schriftstellers für Young Adult Fiction Werke eines Science-Fiction-Schriftstellers veröffentlichte, war das für einen Science-Fiction-Fan eine große Sache. Bei einem Text wie Mara und Dann
von Doris Lessing, ohne Frage Science-Fiction, vermieden der Verleger und der Verfasser des Vorworts, das Genre beim Namen zu nennen, aus Angst, die Verkaufszahlen dadurch zu beeinträchtigen. Angesichts solch großer Ignoranz vereinigten sich die Science-Fiction-Fans unter dem Banner der Zeitschrift Science Fiction World
, die ganz diesem Genre gewidmet ist. Über Fanclubs und Internetforen an Universitäten fanden Fans im ganzen Land zueinander und wurden zu einer engen Gemeinschaft, die sich und ihre Leidenschaft feierte. Tiefes Mitleid empfanden sie für diejenigen, die ihren Blick nur selten in die Sterne richten
.
Deshalb stellte ich einigen Literaturkoryphäen auf einer Konferenz die ihnen fast vollkommen unbekannten chinesischen Science-Fiction-Autoren mit einer Metapher vor: Im heutigen Literaturbetrieb bilden sie eine Gruppe versteckter Kämpfer, die von ihren Getreuen vergessen worden sind. Einsam lauern sie in einer verlassenen Wildnis und warten auf ihren Tag. Ist der gekommen, stürmen sie aus ihrem Hinterhalt, um die Welt aus den Angeln zu heben. Es kann aber auch passieren, dass dieser Tag niemals kommt und sie in der Wildnis sterben, ohne dass jemand von ihnen Notiz genommen hätte. Später würden die Leute an derselben Stelle vielleicht ein unvollendetes wundervolles Schwert finden, dessen Schmied und Träger aber keine Spuren hinterließen.
Nicht lange nach dieser Konferenz jedoch erschien Jenseits der Zeit
, der dritte Teil der Trisolaris
-Trilogie. Und plötzlich änderte sich alles. Science-Fiction, jahrzehntelang hinter jene Firewall verbannt, rückte ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Die jungen Leute, aus denen sich die Science-Fiction-Community rekrutiert, waren erwachsen geworden. Als Berufstätige wurden sie Teil der chinesischen Gesellschaft, ohne dabei ihre Leidenschaft für das Genre zu verlieren. Sie sind wie treue Konzertgänger. Bricht die Nacht herein, wedeln sie mit Tausenden Lichtern in der Luft. Ihre wellenartig auf- und abebbenden Zurufe münden in einen einheitlichen Chor. Alles ist bereit. In diesem Augenblick tritt Liu Cixin mit seinen Die drei Sonnen
auf die Bühne, und die Anspannung entlädt sich in wilder Ekstase.
Und so wurde die Begeisterung im ganzen Land geweckt: Literaturkritiker, die von trivialen Großstadtromanzen in der Belletristik längst gelangweilt waren, zeigten sich überrascht von
den majestätischen Weltraumsagen und heraufbeschworenen Fata Morganen der Zukunft, die in der chinesischen Literatur sonst selten zu finden sind. Plötzlich erschien ein neues Feld, das von Literaturwissenschaftlern so gut wie nie zuvor beackert worden war. Die Leidenschaft der Theoretiker war geweckt. Die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten über Science-Fiction stieg rasant an, und das Genre tauchte immer häufiger in Vorlesungen renommierter Gelehrter auf. Avantgarde-Künstler luden Science-Fiction-Schriftsteller zu ihren Ausstellungen ein, um mit ihnen über revolutionäre Ideen und die unendlichen Möglichkeiten der Zukunft der Menschheit zu diskutieren. Agenten der Filmindustrie, immer auf der Suche nach der nächsten Sensation, stellten jedem Science-Fiction-Autor die Frage: »Hast du denn keine Geschichte, die verfilmt werden könnte?« Innerhalb weniger Jahre waren aus den zuvor unsichtbaren Autoren Stars geworden. Sie tauschten ihre bescheidenen Hemden gegen adrette Designerstücke und ließen sich in Modemagazinen ablichten. Jeder von ihnen wurde als ein Quell sprudelnder Ideen betrachtet. Themen, Symbole und Begriffe aus der Science-Fiction hielten Einzug in die Alltagswelt: Internet-CEOs interpretierten den »dunklen Wald« als eine Metapher über den rücksichtslosen Wettstreit in ihrem Bereich. Regierungssprecher beschrieben mit dem »dunklen Wald« das Worst-Case-Szenario für die Korea-Krise. Nie zuvor hatte Science-Fiction eine so große Wirkung entfaltet. Sogar der Vizepräsident Chinas bestätigte den wichtigen Beitrag der Science-Fiction zum Fortschritt und zur Entwicklung des Landes. Er nahm an einer Science-Fiction-Konferenz teil und bekannte sich als Fan. Alle waren sich einig: Für Science-Fiction ist in China gerade die beste Zeit
.
Natürlich hält diese Begeisterung über etwas Neues nicht für immer. Niemand kann vorhersehen, ob die lauernden Kämpfer die Erwartungen erfüllen und die Nachfrage nach Science-Fiction weiter aufrechterhalten können. Ohne Zweifel können die Wünsche nach mehr »Drei Sonnen«, »Vier Sonnen«, ja sogar »Fünf Sonnen« nur enttäuscht werden. Es gibt keinen zweiten Liu Cixin. Der »Große Liu« bleibt einzigartig, selbst wenn sein nächster Roman auf sich warten lässt. (Manche sagen, dass die Verkaufszahlen seiner Bücher höher sind als die aller in China veröffentlichten wissenschaftlichen Werke zusammen.) Zweimal hintereinander ist die Science-Fiction Chinas – dank Ken Liu – mit dem Hugo Award ausgezeichnet worden. Aber für wie viele Schlagzeilen kann das Genre noch sorgen? Wenn die vielen ambitionierten Filme, die im Moment gedreht werden, keinen kommerziellen Erfolg haben – schließlich ist das chinesische Publikum sehr an Hollywood-Produktionen gewöhnt –, wie lange wird der Enthusiasmus der Finanziers dann noch anhalten?
In Kürze werden die Antworten auf all diese Fragen ans Licht kommen. Für die meisten Science-Fiction-Autoren, die ich kenne, dürften sie keine Rolle spielen, sind sie doch Ingenieure, Journalisten, Lehrer, Forscher, Juristen oder Geschäftsleute und leben nicht vom Schreiben. Und selbst wenn das Interesse für das Genre abebbt und es wieder aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwindet – ich muss dabei an Pluto denken, der erst 1930 entdeckt wurde und mehrere Jahre den Ruf des »neunten Planeten« genießen durfte, aber auf einmal in Ungnade fiel und von der Ehrenliste gestrichen wurde. Aber selbst wenn solch eine Stunde der Genre-Dämmerung kommen sollte, werden die
Science-Fiction-Autoren wohl nur mit den Achseln zucken, sich wieder in die Finsternis abseits des Rampenlichts zurückziehen und in ihrer Einsamkeit weiter ihre fantastischen Geschichten schreiben.
Für mich ist es bereits jetzt eine große Ehre, diese Hochphase miterleben zu dürfen. Zumindest bin ich Zeuge vieler wunderbarer Dinge geworden. Jener Arthouse-Regisseur ist ein schönes Beispiel. Ich fragte ihn damals, warum es im chinesischen Film selten um die Zukunft geht, und bekam nur eine ganz allgemeine Antwort: »In unserer Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart ist die Hoffnung auf die Zukunft bereits verborgen.« Damals konnte er sich natürlich nicht vorstellen, dass er bald darauf einen Film über Ereignisse aus dem Jahr 2025 drehen würde. Als der Film ins Kino kam, wurde der Regisseur in den Medien als Pionier gefeiert, »der den Realismus der Gegenwart mit den Mitteln der Science-Fiction darstellt«. Da wusste ich auf einmal, dass mein alter Wunsch in Erfüllung gegangen ist: Wenn wir mit anderen über Science-Fiction sprechen, brauchen wir uns nicht mehr zu schämen.