Eins, zwei, drei, vier, fünf … eins, zwei, drei, vier, fünf 

Kein Laut drang aus ihrem Mund, nur ihre Lippen bewegten sich. Tonlos zählte sie die Mosaiksteine zu ihren Füßen ab. Unebene, ein Jahrtausend lang abgetretene Flusskiesel, die in geometrischen Formen oder mystischen Bildern in den Boden eingelassen worden waren.

Hier waren es fünf Sterne, dort fünf Blumen, irgendwo auch ein Fünfeck. Diese Anordnung war kein Zufall. Sie hatte gelernt, dass für die Mitglieder des Zisterzienserordens die Fünf eine symbolische Zahl war: Sie galt als reine und vollkommene Verkörperung der Dinge, Rosen etwa wiesen fünfzählige Blüten auf, Äpfel und Birnen waren fünfstrahlig strukturierte Früchte. Der Mensch besaß fünf Sinne, und die fünf Wundmale Christi wurden in jeder Andacht thematisiert. Die Nonnen hatten ihr allerdings nicht beigebracht, dass die Fünf auch die Zahl der Liebe und der Venus war, die unteilbare Summe der männlichen Zahl Drei und der weiblichen Zahl Zwei. Diese für ein vierzehnjähriges Mädchen durchaus interessante Tatsache hatte sie in einem Buch gefunden, das sie heimlich auf dem Dachboden las.

Die Klosterbibliothek barg die erstaunlichsten Schätze: Weniger skandalös, aber ebenfalls nicht für die Augen eines Backfisches bestimmt, waren jene aus dem Mittelalter überlieferten Predigten Bernhard von Clairvaux’, in denen er seine Mönche daran erinnerte, welche Bedeutung Duftstoffen bei Gebeten und rituellen Waschungen zukam. Der Gründer des Zisterzienserordens riet seinen Glaubensbrüdern sogar, sich für den spirituellen, nach innen gerichteten Blick die parfümierten Brüste der Jungfrau Maria vorzustellen, die im Hohelied besungen wurden. Weihrauch und Jasmin, Lavendel und Rosen auf dem Altar sorgten dafür, die Kontemplation mit Hilfe des Geruchssinns zu vertiefen.

Für Waisenkinder wie das einsame junge Mädchen, das sie selbst war, blieben die aus den Pflanzen im Klostergarten gewonnenen Aromen jedoch nur ein ferner Traum, ebenso wie die Vorstellung, sich an die üppigen Brüste einer liebevollen Mutter zu werfen. Die Zöglinge wurden regelmäßig in einem Waschzuber mit billiger Kernseife abgeschrubbt, so dass sie nicht mehr schmutzig von der Arbeit auf dem Feld oder in der Küche waren und nach Sauberkeit statt nach Angstschweiß und Erschöpfung rochen – von duften konnte keine Rede sein. Die groben weißen Laken, die sie waschen, gegebenenfalls flicken und ordentlich zusammengelegt in der Wäschekammer stapeln musste, wurden mit mehr Fürsorge behandelt als die Haut der Waisenkinder.

Eins, zwei, drei, vier, fünf 

Sie vertrieb sich die Zeit mit Zählen, während sie in einer Reihe mit den anderen Mädchen darauf wartete, dass ihr der Pfarrer die Beichte abnahm. Nachdem sie in ewig dauernder Monotonie wie Soldaten auf einem Kasernenhof strammgestanden hatten, betrat eine nach der anderen den Beichtstuhl. Sie nahm an, dass die Nonnen diese stille, gerade Haltung verlangten, die kein Kind über lange Zeit aushalten konnte, damit die Kleinen anschließend etwas zu gestehen hatten. In der Regel hatte seit der letzten Beichte am vorigen Sonnabend keine von ihnen gesündigt. Hier oben auf dem windumspielten Felsen, auf dem im zwölften Jahrhundert das Kloster von Aubazine errichtet worden war, gab es gar keine Gelegenheit für Sünden.

Seit rund zwei Jahren lebte sie nun schon in dieser abgeschiedenen Welt in der Mitte Frankreichs, weit genug von der Hauptstraße nach Paris entfernt, um nicht auf den Gedanken zu kommen fortzulaufen. Über siebenhundert Tage waren seit dem Tod ihrer Mutter und der Stunde vergangen, als der Vater sie auf einen Pferdewagen gesetzt und bei den Zisterzienserinnen abgeliefert hatte. Einfach so. Als wäre sie eine Last. Danach war er für immer verschwunden, und für die zerbrechliche Seele der Kleinen öffnete sich die Hölle. Sie begann nach dem Augenblick zu lechzen, an dem sie alt genug war, um das Kloster verlassen und ein eigenständiges Leben beginnen zu dürfen. Vielleicht war die Nähnadel der Schlüssel dorthin. Wer nähen konnte und zäh war, kam womöglich bis nach Paris und dort in einem großen Modehaus unter. Sie hatte davon reden hören, aber im Grunde wusste sie nicht, was damit wirklich gemeint war.

Es klang jedoch verheißungsvoll. Modehaus war ein Wort, das in ihr eine Erinnerung zum Klingen brachte. An schöne Stoffe, knisternde Seide etwa, duftende Volants und feinste Spitze. Nicht, dass ihre Mutter jemals eine Dame gewesen wäre. Sie war Wäscherin gewesen und ihr Vater ein Hausierer. Niemals hatte er so feine Sachen verkauft, dennoch verband sie jeden Gedanken an schöne Dinge mit Maman. Sie vermisste sie so sehr, dass ihr manchmal schwindelig wurde vor Sehnsucht nach der Geborgenheit, die sie bei ihr stets empfunden hatte.

Doch sie war auf sich allein gestellt, erlebte Härte und Drill, Strafe und gelegentlich göttliche Absolution. Dabei wünschte sie sich nichts mehr als ein bisschen Zuneigung. War das eine Sünde, die sie beichten sollte? Würde dieses Geheimnis jemals zu schwer auf ihr lasten, um ihrer Seele Frieden zu geben? Vielleicht, sinnierte sie stumm. Vielleicht aber auch nicht. Sie würde ihrem Beichtvater nicht gestehen, dass sie einfach nur Liebe wollte im Leben. Heute nicht. Und wahrscheinlich auch an keinem anderen Tag.

Stumm zählte sie die Mosaiksteinchen im Fußboden auf ihrem Weg zur Kathedrale von Aubazine: Eins, zwei, drei, vier, fünf