Würde sich die Leere, die sich immer stärker in ihr ausbreitete, von einem Duft füllen lassen wie Vakuum mit Gas? Gabrielle stellte sich diese Frage fast täglich. Vor allem, wenn Misia zu ihr kam, um ihrem ersten Gespräch über ein Eau de Chanel so bald wie möglich Taten folgen zu lassen – und sie besuchte sie fast jeden Nachmittag, sei es in ihrem Atelier, sei es zu Hause, kein Weg war der Freundin zu weit.
Zwar war sich Gabrielle nicht sicher, ob der spontane Entschluss, Boys Idee zu verwirklichen, die richtige Entscheidung war. Das ging ihr alles ein wenig zu schnell. Aber sie folgte Misias energiegeladenem Vorhaben wie in Trance. Dabei schien ihr ganzes Leben nur noch das einer Marionette zu sein. Es war das Schicksal, das die Strippen zog, vielleicht auch Misia. Gabrielle hatte kein Bedürfnis, zu ergründen, warum sie jeden Morgen aufstand, ihre Arbeit im Atelier wie gewohnt aufnahm und jeden Abend wieder zu Bett ging. Sie funktionierte, ohne jedoch einen Sinn darin zu erkennen. Genauso, wie sie, ohne zu hinterfragen, die Bücher über Botanik und Chemie studierte, die Misia anschleppte, obwohl sie kaum ein Wort des Inhalts verstand. Sie las die alten und neuen Zeitungsberichte über François Coty, die Misia irgendwo aufgetrieben und ihr in Ordnern sortiert vorgelegt hatte. Sie tat alles, was von ihr verlangt wurde. Automatisch. Pflichtbewusst. Zufriedenstellend. Wie damals als Waisenmädchen, das den Nonnen im Kloster von Aubazine gehorchen musste.
Als Gabrielle schließlich vor den Toren der Fabrik von François Coty im Pariser Vorort Suresnes stand, stellte sie sich die Frage erneut – und wieder konnte sie nicht sagen, aus welchem Antrieb heraus sie wirklich hierhergekommen war. Sie blickte zu dem Relief auf, das im milchigen Licht dieses spätwinterlichen Morgens etwas Magisches hatte, und dachte, dass letztlich alles, was sie tat, irgendetwas mit Boy zu tun hatte. Mit nichts und niemandem sonst. Nicht einmal mit ihr selbst.
Die Wandskulptur zog sie in ihren Bann. Zwei Frauen waren dort zu sehen, die andächtig vor einem Destilliergefäß knieten. Wunderschön, geheimnisvoll, anziehend. Waren sie Göttinnen, die einen besonderen Duft erschufen? Oder huldigten die Gestalten als irdische Wesen einem göttlichen Parfüm? Es war das Firmenlogo, erschaffen von René Lalique, das sich auch als Wasserzeichen auf dem Briefpapier befand, mit dem der Chef ihren Termin in schwungvoller Handschrift bestätigt hatte. Wahrscheinlich handelte es sich um die Darstellung einer Anbetung der Aromen, die hinter diesen Mauern verarbeitet wurden, entschied sie für sich. Sie suchte das Bildnis nach einer magischen Zahl ab – eins, zwei, drei, vier, fünf. Vergebens.
Ein Rempler brachte sie in die Gegenwart zurück. Eine Gruppe junger Frauen lief an ihr vorbei, unachtsam und in Eile. Es war die Uhrzeit, zu der die meisten Mitarbeiterinnen in das Werk strömten. Gabrielle hatte bei ihren Nachforschungen erfahren, dass Coty rund neuntausend Angestellte und Arbeiter in den Laboratorien, Werkstätten, in der Glashütte und in diversen Verpackungsabteilungen in Suresnes beschäftigte, ebenso viele Frauen wie Männer. Er hatte im Laufe von etwa zehn Jahren ein Zentrum der Düfte erschaffen, mit der Zeit waren andere Firmen dazugekommen, und inzwischen trug das Industriegebiet an der Seine den Namen Perfume City. Boy hatte natürlich recht gehabt: Dies war tatsächlich der beste Ort, um die Herstellung eines Eau de Chanel voranzutreiben.
Gabrielle ließ sich von dem Strom mitreißen. Sie folgte den anderen, ohne sonderlich darüber nachzudenken. Natürlich war sie eleganter gekleidet, aber insgesamt entsprach ihr Typ dem vieler Mitarbeiterinnen von Coty. Wer modisch etwas auf sich hielt, zeigte sich im neuen Stil, trug nur gut wadenlange Röcke und zu einem kurzen Bob geschnittene Haare, und wer weibliche Rundungen besaß, kaschierte diese mit einem speziellen Büstenhalter. Es war die Mode, die Gabrielle als Coco Chanel entwarf und die nach dem Großen Krieg eine neue Generation von selbstbewussten, emanzipierten Frauen schuf – in allen Bevölkerungsschichten, wie sie nun feststellte. Der Anblick ließ ihr Herz höherschlagen und ihren Stolz wachsen, was – zumindest für den Moment – die Traurigkeit von ihrer Seele nahm. Zuversicht machte sich in ihr breit und wärmte ihr Innerstes wie der mit Pelzbesatz verbrämte Mantel, den sie übergeworfen hatte.
Die Direktion des Parfümimperiums befand sich in der Villa am Rande des Fabrikgeländes, die den beziehungsreichen Namen La Source – die Quelle – trug. Es war ein provenzalisch anmutendes zweistöckiges Haus mit roten Schindeln und schmiedeeisernen Geländern am Treppenaufgang und an den Balkonen. Für einen Mann, der den Ruf genoss, Renaissance- und Rokokoschlösser zu sammeln wie andere Männer Briefmarken, wirkte es überraschend wenig feudal, was Gabrielle jedoch als angenehm empfand. Protz hatte sie schon immer verachtet. Vielleicht würde sie sich mit François Coty besser verstehen, als sie anfangs vermutet hatte.
Erstaunlicherweise duftete es im Inneren nicht nach den Parfüms, Pudern und Lippenstiften, die von hier aus weltweit vertrieben wurden. Genau genommen roch es in der von schlichter Eleganz geprägten Eingangshalle des Verwaltungsgebäudes nach nichts, was die Sinne beflügelte, nur nach der hereingewehten feuchten Winterluft und nach der Nässe in der Kleidung der Menschen, die den Raum auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle passierten. Unwillkürlich spürte Gabrielle Enttäuschung in sich aufsteigen. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Stofffetzen, Musterschnipsel und Nadeln, die in ihrem Atelier herumlagen, auch keinen Aufschluss über die Modelle zuließen, die dort entworfen, zugeschnitten und genäht wurden.
Sie musste sich eine Weile gedulden, bevor sie in das Allerheiligste geführt wurde. Das Chefbüro bestand aus viel Holz, ein barockes Mobiliar mit sicher überaus wertvollen Gemälden, die Gabrielle jedoch nicht einzuordnen wusste. Den Mittelpunkt bildete neben dem Schreibtisch ein Regal, in dem die Dosen und Flakons aus einmalig schönem Kristall neben gewöhnlichen Arzneiflaschen im hereinfallenden Licht geschickt in Szene gesetzt wurden. Gabrielle wusste, dass die Glaswaren von René Lalique hergestellt wurden, dessen Name seit Jahrzehnten in aller Munde war; spätestens der Schmuck, den er für die Schauspielerin Sarah Bernhardt angefertigt hatte, machte ihn zu einer Berühmtheit.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ«, sagte François Coty zur Begrüßung und führte ihre Hand an seine Lippen.
Gabrielle war ihm bereits bei gesellschaftlichen Anlässen begegnet, und sie bezeichnete ihn im Stillen als Napoleon. Diese Bezeichnung bezog sich nicht nur auf Cotys Machtfülle: Tatsächlich stammte er auch von Korsika, es ging sogar die Legende, er sei mit der Familie Bonaparte verwandt. Coty war wie der große Kaiser von kleiner Statur, darüber hinaus galt er als Weiberheld und natürlich als prunksüchtig. Es hielt sich das Gerücht, dass er in seiner Hosentasche eine Handvoll Diamanten verwahrte, mit denen er spielte wie mit Murmeln.
»Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass es bei uns gerade drunter und drüber geht«, fuhr Coty fort. Er hielt ihre Hand ein wenig länger als schicklich. »Mein Flaschenlieferant kann die Nachfrage nicht mehr erfüllen. Die Herstellung von einhunderttausend Flakons, die wir am Tag umsetzen, ist natürlich eine Herausforderung, aber ich bin nicht bereit, die Produktion der Duftwasser zu drosseln, weil Lalique dem Bedürfnis meiner Kundinnen nicht nachkommt.« Die beiläufig erwähnte Zahl streute er gewiss absichtlich ein, um seiner Besucherin deutlich zu machen, dass er ein Weltreich regierte.
Er will beeindrucken, erinnerte sich Gabrielle und schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln. »Natürlich weiß ich zu schätzen, dass Sie mich trotzdem empfangen.«
»In Zukunft werde ich die Glasgefäße selbst entwerfen und produzieren. Das erleichtert den Herstellungsprozess. Gerade habe ich meiner Sekretärin ein Rundschreiben an meine Kunden mit der entsprechenden Information diktiert. Es wird morgen versandt. Sie sind die Erste, die von meinen Plänen erfährt, Mademoiselle Chanel.«
»Das ehrt mich.«
Er strahlte sie an. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
Während sie in einem der Fauteuils versank, machte sie sich eine erste Notiz in ihrem Kopf. Sie musste daran denken, einen schönen Flakon für ihr Parfüm zu entwerfen, sich nach einem Glasbläser mit einer kleinen Fabrik umzusehen. Die Schwierigkeiten, denen René Lalique in der Zusammenarbeit mit François Coty ausgesetzt war, spielten für sie keine Rolle. Gabrielle dachte nicht daran, das Eau de Chanel in einer höheren Auflage auf den Markt zu bringen. Sie hatte mit Boy über ein besonderes Weihnachtsgeschenk für ihre besten Kundinnen gesprochen – und dabei sollte es auf jeden Fall bleiben. Das bedeutete, dass nicht mehr als einhundert Exemplare hergestellt werden müssten.
Coty bot ihr einen Kaffee an, den sie dankend annahm. Es folgte das übliche Geplänkel über relativ unverfängliche Themen: Coty bedauerte den Tod des Schriftstellers Paul Adam, Gabrielle beklagte sich über das zu milde, feuchte Wetter. Dann kam sie zur Sache und erklärte ihr Anliegen. Der Parfümeur nickte wissend, einige Informationen hatte er bereits durch seine Frau von Misia erhalten, er ließ Gabrielle jedoch ausreden, bevor er galant betonte: »Es ist mir eine Ehre, einen Duft für Sie entwickeln zu dürfen, Mademoiselle Chanel. Eine Zusammenarbeit zwischen uns beiden wird gewiss Früchte tragen.«
»Deshalb bin ich hier.«
»Meine Devise lautet: Bieten Sie einer Frau das bestmögliche Produkt, präsentieren Sie es in einem vollendeten Flakon, verkaufen Sie es zu einem vernünftigen Preis – und Sie werden einen Absatzmarkt von einer Größe aufbauen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.«
»Ich suche nach einem Geschenk für meine Kundinnen, nicht nach einem großen Markt.«
Mit einer kleinen Handbewegung schien er diese Einschränkung beiseitezuwischen. »Das ist alles kein Problem. Verlassen Sie sich ganz auf mich, und …«
»Gewiss, Monsieur«, fiel sie ihm mit einem besonders liebenswürdigen Ton ins Wort. »Ich möchte aber noch anmerken, dass ich in den Prozess der Herstellung von Anfang an eingebunden sein will.«
Er zögerte. »Wie meinen Sie das? Sie sind keine Chemikerin, Sie …«
»Selbstverständlich …«, sie unterbrach ihn wieder, »selbstverständlich werde ich das Handwerk den Fachleuten überlassen.« Sie legte eine kleine Pause ein und schenkte ihm ein zuvorkommendes Lächeln, dann fuhr sie fort: »Aber ich möchte jeden Schritt der Herstellung begleiten, auch über die Formel und Fertigung informiert werden. Das ist mir sehr wichtig. Dieses Toilettenwasser ist eine Herzensangelegenheit.«
»Das ist es immer, Mademoiselle Chanel, das ist es immer. Wenn wir nicht mit dem Herzen riechen würden, besäßen Düfte keine Magie. Die Faszination kommt von hier drinnen«, er klopfte sich mit der flachen Hand auf die Brust, »und nicht von hier oben.« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe. »Um Ihre Wünsche zu erfüllen, sollten Sie allerdings eine wesentliche Voraussetzung mitbringen: Wie steht es um Ihre Nase?«
Unwillkürlich fuhr sie sich ins Gesicht. »Wie meinen Sie das?«
»Ich zeige es Ihnen.« Er stand auf, trat an das Regal mit den Glasflaschen und nahm einen Flakon und drei Apothekerphiolen in seine großen Hände. Zurück in der Sitzecke, legte er alles auf den Tisch zu den Kaffeetassen. Dann öffnete er den Flakon und reichte ihr den Stöpsel aus Kristall. »Was riechen Sie?«
Sie schnupperte. Die Antwort auf seine Frage war einfach. Sie erkannte den unverwechselbaren Duft sofort. »Das ist Chypre.«
»Ja. Es ist mein Parfüm. Das erfolgreichste Toilettenwasser der Welt. Mir war klar, dass Sie es erkennen würden. Ich meinte vielmehr, welche Aromen riechen Sie?«
»Da ist Jasmin …«, murmelte sie stirnrunzelnd. Plötzlich war sie sich nicht sicher, ob sie einfach nur sagte, was sie wusste, oder ob sie tatsächlich die schwere Süße von Jasmin wahrnahm. Sie versuchte, sich auf ihren Geruchssinn zu konzentrieren, aber die weiteren Ingredienzien konnte sie nicht im Detail ausmachen. »Es erinnert ein bisschen an den Duft von Puder …«, sie unterbrach sich, um hinzuzufügen: »Irgendetwas erinnert mich an einen Waldspaziergang.«
»Nicht schlecht«, lobte er. »Sie sind gut, Mademoiselle Chanel. Es wird sich lohnen, Ihre Nase ein wenig auszubilden. Die Kopfnote besteht tatsächlich aus Jasmin, dazu kommen Patschuli, Vetiver, Sandelholz, Bergamotte und Eichenmoos. Diese Bouillon de Mousses ist das Geheimnis eines modernen Parfüms. Einem Parfümeur bieten sich Hunderttausende von Möglichkeiten dafür, es ist seine Kunst, die richtige Formel zu finden. Das sollten Sie alles wissen, bevor Sie in den kreativen Prozess einsteigen.«
Erwartete Coty etwa, dass sie eine chemische Lehre machte, bevor er sie in die Herstellung eines Eau de Chanel einband? »Ich habe davon gehört, wie schwer die Ausbildung zum Parfümeur ist«, gab sie zu. Aber nichts ist zu schwer, um es nicht wenigstens zu versuchen, dachte sie bei sich. Boy hatte immer ihren Mut bewundert, Dinge auszuprobieren, vor denen andere Frauen kapitulierten. Um Étienne Balsan und seinen Gästen damals zu gefallen, hatte sie innerhalb weniger Tage reiten gelernt. Bald saß sie auf seinen Pferden, als wäre sie im Sattel geboren. Dabei mochte sie Pferde nicht einmal besonders.
Coty unterbrach ihre Erinnerungen, indem er ihr den Stöpsel aus der Hand nahm und damit den Flakon verschloss. Anschließend zog er den Korken aus einer der braunen Fläschchen. »Was ist das?«
Der durchdringend würzig-süße Duft war unverkennbar. »Das ist Sandelholz«, rief sie triumphierend aus.
»Exakt.« Er tauschte Pfropfen und Glasgefäß aus. »Bitte, versuchen Sie es auch hiermit.«
Gabrielle hatte erwartet, dass er ihr eine schwierigere Aufgabe stellen würde, aber sie hatte nicht gedacht … du lieber Himmel, was war denn auf einmal los? Ihre Nase roch nichts. Es war wie bei einer schweren Erkältung. In ihr stieg schwach das Aroma von Orangen auf, aber das konnte auch Einbildung sein. Oder versuchte er, sie in die Irre zu führen, indem er ihr einen geruchsneutralen Stoff anbot? Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
»Natürlich nicht.«
Sie wusste nicht, ob sie schmunzeln oder verärgert sein sollte, weil sie sich von ihm aufs Glatteis geführt fühlte. Coty spielte also den findigen Prüfer. Wie albern von ihm.
Doch da fuhr er ruhig fort: »Die Nase verschließt sich nach spätestens drei Duftproben, bei intensiven Parfüms auch schon früher. Das ist übrigens Bergamotte.« Er langte über den Tisch zu einer antiken, mit Goldornamenten dekorierten Porzellandose, schraubte den Deckel auf. Sie hatte angenommen, er würde dort seine Zigarren aufbewahren, und war überrascht über das Aroma, das ihr entgegenwehte. »Bitte, Mademoiselle Chanel, schnuppern Sie ein wenig an diesen köstlichen Mokkabohnen. Kaffee neutralisiert den Geruchssinn.«
Ich muss noch viel lernen, fuhr es ihr durch den Kopf, während sie seinem Vorschlag nachkam. Die Wirkung war überraschend. Ihre Nase fühlte sich wieder frei und aufnahmebereit an. Ich werde zu Hause üben, beschloss sie im Stillen. Genauso, wie ich mich allein auf ein Pferd gesetzt habe und einfach losgeritten bin, werde ich mich in der Kunst der Düfte weiterbilden. Als sie reiten lernte, hatte sie nicht geahnt, dass sie kurz darauf ihrer großen Liebe in Person eines Polospielers begegnen würde. Jetzt wollte sie ihren Geruchssinn schulen, um diese Liebe für die Ewigkeit zu bewahren. Sinnlich, frisch, unvergänglich – so sollte das Eau de Chanel sein. Gabrielle lächelte zufrieden. Immerhin verhalf ihr Coty durch seine Einführung zu einer Vision.
Coty stellte sie noch weiter auf die Probe, ließ sie an immer neuen Aromen schnuppern und nannte ihr die Namen von Essenzen, deren Existenz ihr trotz ihrer intensiven Lektüre, mit der sie sich vorbereitet hatte, nicht bekannt gewesen war. Er benutzte nicht nur die geläufigen Bezeichnungen wie Kopf- und Herznote, sondern differenzierte auch zwischen Akkorden und Duftfamilien. Wie immer, wenn sie etwas lernen wollte, hörte Gabrielle schweigend zu, sog jede Information in sich auf. Etwa, dass die Verbindung des Toilettenwassers mit der Haut seiner Trägerin die größte Herausforderung an die Chemiker war. Die meisten Stoffe verflüchtigten sich an der Luft zu schnell. Deshalb experimentierten viele Parfümeure mit künstlichen Stoffen als Träger der natürlichen Substanzen. »Aber das wird sich nicht durchsetzen«, behauptete Coty. »Die Herstellung ist viel zu teuer für einen größeren Markt.«
Später führte er sie durch seine Fabrik. Er erklärte auf dem Weg zu den großen Hallen, dass die hochwertigsten Rosen- und Jasminarten in Südfrankreich wüchsen und er deshalb eine Sortieranlage in Grasse unterhalte. »Jeden Tag sind dort rund einhundert Frauen damit beschäftigt, die besten Blüten für die Destillation zu finden. Das Ergebnis wird dann hier weiterverarbeitet.« Die Räume, die sie durchschritten, waren von einer fast klinischen Reinheit. Gabrielle kam sich zuweilen wie in einem Krankenhaus vor, und das lag nicht nur an den weißen Kitteln, die von allen Mitarbeiterinnen getragen werden mussten. Durch eine geöffnete Tür erkannte Gabrielle einen Saal mit langen Tischen, an denen unzählige, sicher Hunderte Frauen damit beschäftigt waren, Glasflaschen aus einer Holzkiste zu nehmen, sie genau anzusehen und dann in eine andere Kiste zu legen. »Kontrolle ist der einzig mögliche Weg zur Perfektion«, sagte Coty, als er ihren Blick bemerkte. Dann kamen sie in einen Saal, in dem sich Verpackungen stapelten und von Männern in derselben klinisch reinen Arbeitskleidung für den Versand vorbereitet wurden. Die Menge an Paketen war tatsächlich beeindruckend.
»Und hier ist das Labor«, Coty öffnete eine Tür, »betrachten Sie es bitte als Ihre künftige Wirkungsstätte, Mademoiselle.« Er zwinkerte ihr zu und ließ sie eintreten.
Plötzlich war Gabrielle von einer großen Duftwolke umfangen. Die Aromen, die sie bislang nirgendwo in Cotys Imperium gerochen hatte, waberten in ungeahnter Intensität um sie herum. In der Luft des Labors schienen sich alle Stoffe zu verbinden, die in verschlossenen Phiolen, Apothekerflaschen und Reagenzgläsern aufbewahrt und an den hellen, sauberen Arbeitstischen zu Verbindungen vermischt wurden. Hinter ihren Schläfen begann sich Kopfschmerz auszubreiten. Sie betrachtete die Männer und ihre Assistentinnen in den weißen Kitteln und fragte sich, wie es die Parfümeure und Chemiker in dieser Atmosphäre schafften, die verschiedenen Bestandteile eines Toilettenwassers auseinanderzuhalten.
Als habe er ihre Gedanken erraten, sagte Coty: »Eine ausgebildete Nase kann sich auf einen bestimmten Duft konzentrieren. Aber darum geht es nicht immer. Oft werden die Herznoten nur durch die chemische Formel komponiert, so dass der Geruchssinn in diesem Moment eine untergeordnete Rolle spielt. Aber das werden Sie alles kennenlernen, wenn Sie bei mir in die Lehre gehen.«
Gabrielle drückte mit den Fingerspitzen gegen ihre Nasenwurzel und nickte ergeben.