Kapitel 5

Misia ließ sich von Coco über jeden Fortschritt ausführlich informieren, den die Nase der Freundin in den folgenden Wochen machte. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit trafen sie sich in der Parfümabteilung der Galeries Lafayette, wo es die größte Auswahl an Düften gab. Es war der geeignete Rahmen für Cocos immer professioneller klingende Vorträge. Unabhängig von Cocos Referaten, liebte Misia die schwere Wolke unterschiedlichster Aromen, die über den ausgestellten Waren hing, und das Glitzern der Flakons im Licht. Gerade erklärte Coco, dass das berühmte Jicky, seit Jahrzehnten der Verkaufsschlager der Gebrüder Guerlain, aus Patschuli und Vanille bestand. Und sie stellte Misia über den Tisch mit den funkelnden Flakons hinweg eine Frage, die Misia zutiefst verwirrte: »Wie drückt sich Erotik in einem Duft aus?«

»Moschus«, entfuhr es Misia spontan. »Sexualität riecht immer nach Moschus.«

»Ich will kein Bordell aufmachen, sondern ein Parfüm entwickeln.«

Misias Augenbrauen hoben sich. Coco hatte ihr erst kürzlich erklärt, dass ein Duft immer eine Botschaft seiner Trägerin war. Wollte die Freundin mit ihrer Suche nach einer sinnlichen Formel womöglich andeuten, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben gab? Nichts hätte Misias Herz mehr Freude gemacht. Allerdings war schwer vorstellbar, dass Coco unbemerkt eine Affäre eingegangen war. Wie sollte sie denn überhaupt einen geeigneten Kavalier kennenlernen? Meist ging sie nur zur Arbeit und für ihre Parfümstudien aus dem Haus. Die Pariser Gesellschaft sah sie höchstens bei einem dîner, einer Theaterpremiere oder auf einem Ball, wenn ihre Anwesenheit für das Modehaus Chanel unbedingt von Bedeutung war. Ansonsten zog sie sich sogar von ihren besten Freunden zurück, nur mit Misia pflegte sie noch regelmäßigen Kontakt. Seit Boys Unfall waren inzwischen drei Monate vergangen, aber Coco verschloss sich nach wie vor der Welt, die ohne ihn weiterexistierte.

»Also kein Moschus«, erwiderte Misia lahm, während sie ebenso automatisch wie wahllos nach einem Probierfläschchen griff und es öffnete. Die süßen Aromen von Rosen, Jasmin und Pfirsichen wehten ihr entgegen.

»Eine moderne Frau sollte zu ihrer Sexualität stehen. Die Modernität ist Ausdruck meiner Mode, deshalb sollte sie auch in meinem Parfüm erkennbar sein.« Coco schluckte. »Ich möchte, dass meine sinnliche Verbindung zu Boy eines der tragenden Elemente dieses Duftes wird. Deshalb ist mir die Erotik hier so wichtig.«

Misia seufzte. Tatsächlich kein neuer Liebhaber. Kurz hatte sie erwogen, dass ihre Freundin dem Charme François Cotys erlegen sein könnte. Nur wenige Frauen waren vor ihm sicher. Offenbar gehörte Coco dazu. Oder ihre Besessenheit, einem Toten ein Denkmal zu setzen, schreckte Coty ab. Wie jeden anderen Mann vermutlich auch.

Misia bewunderte Coco für diese bedingungslose Liebe. Sie selbst liebte José Sert so sehr, dass sie ihr eigenes Glück hintanstellte, und der Mann, mit dem sie lebte, war diese Hingabe auch wert. Davon war Misia überzeugt. Aber galt dies auch für Arthur Capel? Natürlich sollte sie über einen Verstorbenen nicht einmal schlecht denken, aber die kürzlich erfolgte Veröffentlichung seines Testaments in der Times hatte nicht nur bei Klatschbasen für einige Spekulationen gesorgt: Die Haupterbinnen seines Vermögens in Höhe von siebenhunderttausend Pfund waren natürlich seine Gattin und seine kleine Tochter, ein paar Legate gingen an seine Schwestern; für Aufsehen sorgten jedoch die Zuwendungen an Gabrielle Chanel und an eine Prinzessin Yvonne Giovanna Sanfelice, verwitwete Yvonne Viggiano – es handelte sich jeweils um exakt dieselbe Summe: vierzigtausend Pfund. Seither fragte sich tout le monde, ob Boy mehr als ein Doppelleben geführt hatte. Hinzu kam, dass inzwischen die zweite Schwangerschaft seiner Witwe bekannt geworden war. Wollte Boy seine Frau wirklich verlassen, wie Coco behauptete? Oder hatte er sich vielmehr hoffnungslos in seine Beziehungen verstrickt? Vielleicht handelte es sich ja gar nicht um einen tragischen Unfall …

Der Gedanke an einen möglichen Selbstmord war natürlich eine noch größere Sünde als üble Nachrede. Misia war entsetzt über die eigene Torheit. Um sich mit etwas anderem als dem Liebesreigen von Arthur Capel zu beschäftigen, blickte sie auf das gelbgoldene Etikett des Flakons, an dem sie gerade geschnuppert hatte: Mitsouko. Es war der neue Duft von Guerlain. Ohne noch einmal daran zu riechen, stöpselte sie die Flasche wieder zu. Dabei versuchte sie eine vernünftige Antwort auf Cocos Monolog zu finden.

»Ich habe vor langer Zeit einmal gelesen, dass sich Cleopatra vor ihrer ersten Begegnung mit Marc Aurel mit Sandelholz parfümierte und in ihren Räumlichkeiten Zimt, Myrrhe und Weihrauch verbrennen ließ. Vielleicht sind das ja die Stoffe, nach denen du suchst.«

»Madame Pompadour vertraute ebenfalls auf die Wirkung eines Aphrodisiakums. Allerdings wohl eher auf eines, das man essen kann.« Endlich lächelte Coco.

Die schweren Düfte lasteten inzwischen ebenso auf Misia wie ihre unerfreulichen Gedanken. Es wurde Zeit, dass sie ein wenig frische Luft schnappte. »Apropos: Was hältst du von einem kleinen Imbiss? Ich habe Hunger, und vielleicht treiben wir irgendwo ein paar frische Austern auf. Es sollten die letzten Bélons für diese Saison sein.« Sie hakte sich bei der Freundin unter, als müsste sie Coco mit Gewalt aus der Parfümabteilung zerren.

Doch die hatte nichts gegen eine kleine Schlemmerei. »Wenn wir einen Tisch haben, werde ich dir von meinem neuen Haus erzählen.«

Misia, die sich bereits anschickte, mit Coco zum Ausgang zu gehen, blieb auf dem Fuß stehen: »Du willst umziehen?«

»Ich habe eine Villa in Garches gefunden, ganz in der Nähe meines alten Hauses«, antwortete Coco leichthin. »Es ist die beste Gelegenheit, das Geld zu investieren, das Boy mir vermacht hat.«

Misia war sich nicht sicher, ob sie erfreut über Cocos Pläne sein sollte oder enttäuscht war, weil sie nicht früher darin eingebunden worden war. Im ersten Moment überwog die Kränkung. »Warum hast du ein Geheimnis um dein neues Zuhause gemacht?«

»Das mache ich doch überhaupt nicht. Ich erzähle dir ja gerade davon. Und ich bitte dich, mir bei der Einrichtung zu helfen. Komm endlich, Misia, gehen wir ins Café de la Paix. Ich bin sicher, dass es dort noch Austern gibt. Und dann klären wir, wann du dir das Anwesen ansehen kannst.«

Sie blickt nach vorn, dachte Misia. Endlich.

Doch als sie mit Coco beschwingt das Kaufhaus verließ, hatte sie noch keine Ahnung von den wahren Hintergründen dieses Hauses.

* * *

»Du hast – was …?« In Misias Ton schwangen Unglaube und Empörung. Ihre Worte hallten von den kahlen Wänden des unmöblierten Salons wider.

Gabrielle hatte nicht mit dieser Fassungslosigkeit gerechnet. Warum störte sich Misia daran, dass sie Boys Haus gekauft hatte? Mit dem Testament waren auch all seine Besitztümer in der Times veröffentlicht worden. Bei der Lektüre war sie auf dieses Anwesen nicht weit von La Milanaise gestoßen. Anfangs war sie irritiert, weil sie nichts davon wusste. Dann beauftragte sie einen Makler, Nachforschungen anzustellen. Schließlich erfuhr sie, dass Monsieur Capel erst kürzlich der Eigentümer von Bel Respiro geworden war. Er hatte diese wunderschöne, architektonisch ebenso schlichte wie stilvolle dreistöckige Villa für sie erworben – davon war Gabrielle überzeugt. Für wen sonst, wenn nicht für sie? Wahrscheinlich sollte es sein Weihnachtsgeschenk sein. Da er nicht mehr dazu gekommen war, ihren Namen in die Urkunden eintragen zu lassen, hatte sie die Übernahme eben auf anderem Wege vollzogen. Der Kaufpreis belief sich auf vierzigtausend Pfund, und Boys Witwe erfuhr erst durch die Unterschrift auf dem Kaufvertrag, wer die Person war, die durch einen Rechtsanwalt vertreten wurde. Gabrielle hatte diese Vorsichtsmaßnahme gewählt, damit Diana nicht aus Eifersucht einen Rückzieher machte.

»La Milanaise gehört mir nicht, ich wohne dort nur zur Miete«, erklärte sie mit ruhiger Stimme, obwohl sie sich über Misias geringe Begeisterung ärgerte. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie mit Vorbehalten durch die Freundin gerechnet hatte. Deshalb hatte sie ihr die Hintergründe auch nicht gleich erzählt, sondern sie bei dieser ersten Einladung in die neuen Räume vor vollendete Tatsachen gestellt. Gabrielle ging davon aus, dass Misia und José Sert und auch die anderen Freunde ihr von diesem Geschäft abgeraten hätten. Trotzig fügte sie daher hinzu: »Der Erwerb dieses Anwesens ist eine gute Anlage für Boys Vermächtnis.«

»Warum hast du dir kein Haus an der Côte d’Azur gekauft?«, zischte Misia.

»Es ist eine gute Investition«, beharrte Gabrielle.

»Du solltest aufhören, in der Vergangenheit zu leben, und dich von deinen Erinnerungen frei machen, anstatt dich darin zu verkriechen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Coco, du musst leben!«

Gabrielle hatte nicht erwartet, dass ihr Misias Protest ins Herz schneiden würde. »Ich möchte mich nicht von meinen Erinnerungen befreien. Und ich lebe. Sogar sehr gut. Das siehst du doch.«

Die beiden Frauen starrten sich unversöhnlich an.

Natürlich wusste Gabrielle, dass Misia auf gewisse Weise recht hatte. Aber ihr Leben würde nie wieder gut werden, ganz gleich, welche Anstrengungen die Freundin auch unternehmen wollte. Das Haus, das Boy ausgesucht und gekauft hatte, barg etwas von seinem Geschmack und seinen Visionen. Sich darin aufzuhalten gab Gabrielle einen Teil jener Geborgenheit, die sie sonst nur in seiner Umarmung gespürt hatte. Sie konnte seinen letzten Besitz niemand anderem überlassen, das wäre ihr wie ein Verrat erschienen. Doch all das sagte sie nicht. Sie fürchtete, ein falsches Wort würde Misia veranlassen, grußlos zu gehen. Und sie mochte auch nicht klein beigeben.

Doch als die Freundin stur auf ihrem Platz ausharrte und keine Erwiderung über die Lippen brachte, wagte Gabrielle schließlich einen versöhnlichen Vorstoß: »Ich habe eine Idee für die Inneneinrichtung. Alles soll in hellen Tönen gehalten sein, dazu dunkles Holz. Was meinst du?«

Misia zuckte scheinbar gleichgültig mit den Achseln, aber in ihren Augen flackerte Interesse. »Schwarz und Weiß. Ja. Das könnte große Wirkung haben.«

»Ich möchte auch das Haus weiß streichen lassen«, fuhr Gabrielle lebhaft fort, »und die Fensterläden sollen schwarz lackiert werden.«

»Schwarze Fensterläden?« Die Fassungslosigkeit, die eben in Misias Blick erloschen war, loderte wieder auf. »Ich bitte dich, das kannst du nicht machen. Das ist ein Bruch mit allen Konventionen.«

Es ist ein ewiges Zeichen meiner Trauer, fuhr es Gabrielle durch den Kopf. Laut sagte sie: »Seit wann schert mich, was sich gehört?«

Misias Mundwinkel zuckten. »Deine Nachbarn werden dich hassen.«

Trotz blitzte in Gabrielles Augen auf. »Ich weiß.«

»Aber ich liebe dich«, verkündete Misia, »und ich werde dir die schönste und exklusivste Einrichtung schenken, die je ein Haus gesehen hat.« Sie streckte die Arme aus, um Gabrielle an sich zu ziehen.

Und dann hallte das Lachen der Freundinnen von den kahlen Wänden wider.