Die Gläser stießen mit einem leisen Klirren aneinander.
»Santé«, wünschte Dimitri und sah Gabrielle tief in die Augen. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, die Musiker auf der Terrasse schwiegen, und die vielen Gäste in der Bar des Hotel Excelsior erstarrten zu Puppen. Selbst die Luft rührte sich nicht, die Palmenwedel erzitterten nicht mehr in der milden Brise, die Zikaden unterbrachen ihr Trommeln, die Wellen schwappten lautlos um die Pfeiler der hoteleigenen Mole. Da waren nur der Klang von Dimitris sanfter Stimme und sein bis in ihre Seele vordringender Blick.
»Cheers«, erwiderte Gabrielle auf Englisch. Es war mehr Zufall als Absicht, stellte sie verwundert fest. Sie kannte den Ausdruck von Boy.
Der Zauber zerbrach, die übliche Geräuschkulisse stellte sich wieder ein: Die Kapelle spielte den Song »Whispering«, den man allerorts hörte, und der Sänger pfiff den Refrain, auf der Tanzfläche bewegten sich die Paare, die Kellner eilten von Tisch zu Tisch. Bar und Restaurant befanden sich unter freiem Himmel, begrenzt von orientalisch anmutenden Mauern und dem von üppigen Grünpflanzen beherrschten Garten, der sich zum Strand hin öffnete. Millionen von Sternen brachten das Himmelsdach zum Glitzern, und im Gebüsch setzten die Grillen ihr Brautwerben fort.
»Wie sagt man zum Wohl auf Russisch?«, fragte Gabrielle, die ihren Champagnerkelch nach einem ersten kleinen Schluck wieder abgestellt hatte.
»Bei Hofe sprachen wir alle Französisch. Deshalb tranken wir stets in Ihrer Sprache auf unser Wohl.« Versonnen drehte Dimitri den Stiel des Glases zwischen seinen Fingern. Er schwieg einen Moment, hing wohl seiner Erinnerung nach, dann schmunzelte er. »Das Französische hatte durchaus seine Vorteile, denn Santé ist erheblich kürzer, man kam schneller zu seinem Genuss. Die russischen Trinksprüche sind meist sehr lang, weil man damit die Lebensfreude und diesen und jenen ehrt und natürlich auch das Leben und die Gesundheit und was weiß ich noch alles. Das dauert. Aber bei uns sagte man eben auch, Trinken ohne Trinkspruch sei eine unwürdige Sauferei.«
»Ich mag solche Geschichten.« Sie erwiderte sein Lächeln.
»Eigentlich sind es traurige Geschichten, weil sie von der Vergangenheit handeln und nicht von der Zukunft.«
»Welchen Toast würden Sie jetzt auf Russisch anbringen?« Erwartungsvoll hob sie wieder ihr Glas.
»Sa ljubow!«
»Und was heißt das?«
Seine Augen verrieten es ihr, bevor er es sagte: »Auf die Liebe!«
Gabrielle zögerte. Die Musik hallte plötzlich in ihren Ohren, alles um sie herum wirkte lauter und deutlicher, sogar Dimitris Blick. Wie unter einer Lupe. Als sollte sie den Moment in all seiner Klarheit in sich aufnehmen. Ihr Verstand wusste, dass sie sich entscheiden musste – und ihr Herz kapitulierte vor ihrem Körper. Diesmal stieß sie nicht mit Dimitri an, sondern ließ einzig ihre Augen sprechen, die in den seinen versanken, während sie von ihrem Champagner nippte.
Wenig später lag sie in seinen Armen. Sie schwebten zu der von der Tanzkapelle verjazzten Version des neapolitanischen Liedes »O sole mio« über das Parkett. Dimitri war ein wundervoller Tänzer, so leidenschaftlich wie elegant. Er führte sie mit einer verborgenen Kraft, die ihr Begehren auf verheißungsvolle Weise weckte. Unter ihren Fingern spürte sie das Muskelspiel an seinen Schultern, nahm seinen Duft wahr, seine Wärme übertrug sich auf sie. Sie ließ es zu, dass er sie enger an sich zog, so dass sich ihre Hüften berührten. Ihre Schenkel bewegten sich im Einklang, als wären sie eine einzige Person. Ihre Drehungen wurden langsamer, fanden einen eigenen Rhythmus und verloren den Kontakt zu der schwungvollen Melodie. Der Tanz war wie ein Versprechen.
Als sie Hand in Hand an ihren Tisch zurückkehrten, wanderte Gabrielles Blick zufällig zum Eingang, einem in die maurische Wand eingelassenen Durchgang. Sie war noch ganz benommen, vibrierte unter dem Eindruck der Lust und Musik. Deshalb musste sie zweimal hinschauen, um Sergej Djagilew zu erkennen. In Begleitung mehrerer Herren, darunter auch sein Sekretär Boris Kochno, wurde er von dem Oberkellner gerade an einen Tisch gebeten. Die Gruppe setzte sich in Bewegung, wobei deutlich zu erkennen war, wer sich mit der Geschmeidigkeit eines Balletttänzers bewegte und wer die Geschäftsleute waren, die wahrscheinlich an diesem Abend die Rechnung bezahlen würden. Möglicherweise gewährte Djagilew diesen Herren seine Aufmerksamkeit nur in der Hoffnung auf eine großzügige Spende. Keiner aus diesem Kreis sah zu ihnen herüber.
Dimitri bemerkte ihren Blick. »Kennen Sie Sergej Pawlowitsch Djagilew? Möchten Sie ihn begrüßen?«
»Ja. Nein. Ich meine, das ist nicht nötig.« Obwohl es sich nicht gehörte, konnte sie die Augen nicht von dem Impresario abwenden. Als Djagilew sein Einstecktuch herauszog und sich damit kurz Luft zufächelte, entfuhr ihr: »Ich wünschte, ich könnte erfahren, welches Parfüm seine Großfürstin benutzte.«
»Welche Großfürstin?«
Gabrielle, die sich gerade auf ihrem Stuhl niedergelassen hatte, sah zu Dimitri auf. Erstaunen über die eigene Dummheit erfasste sie. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht, ihren neuen Verehrer nach dem Duft der verstorbenen Maria Pawlowna zu fragen? Die Großfürstin war seine Tante gewesen, wenn sie Misias Exkursion in den Stammbaum der Romanows richtig verstanden hatte. Jedes Mitglied des russischen Hochadels schien Großfürst und Großfürstin zu sein, da kam man leicht durcheinander. Außerdem war fraglich, ob ein Neffe überhaupt wusste, welches Toilettenwasser seine Base bevorzugte. Dennoch war es einen Versuch wert.
»Großfürstin Maria Pawlowna, geborene Prinzessin zu Mecklenburg«, erklärte sie und schickte ein Dankesgebet in den Himmel für Misias Wissen über die Genealogie des Hauses Romanow.
Ohne zu zögern, antwortete Dimitri: »Ich vermute, dass es sich um Le Bouquet de Catherine handelt. Meine Schwester benutzt es auch.«
Ihre Augen weiteten sich. »Oh!« Mehr brachte sie vor Überraschung nicht über die Lippen.
Er wartete, bis der Kellner ihre Champagnergläser auffüllte und sich entfernte, dann fragte er: »Warum interessieren Sie sich dafür?«
Aus der körperlichen Sehnsucht, die Gabrielle in seinen Armen erfasst hatte, wurde mit einem Mal geschäftiger Jagdeifer, aus der trauernden Geliebten die zielgerichtete Geschäftsfrau. Selbst als Dimitri eine Zigarette anzündete und diese wortlos an sie weiterreichte, stellte sich die erotische Magie nicht mehr ein. Gabrielle nahm einen Zug, bevor sie erklärte: »Ich hatte bei einer Begegnung mit Monsieur Djagilew den Eindruck, ein besonderes Aroma gerochen zu haben. Das Taschentuch, das ihm die Großfürstin schenkte, duftet nach einem Parfüm, das anders ist als alles, was ich kenne. Es war nicht dieser stereotype Rosenduft, der nur dazu da ist, den eigenen Körpergeruch zu überdecken. Es war eine wundervolle Mischung, ganz ungewöhnlich. Ein bisschen wie Chypre von Coty, aber viel, viel besser. Leider ergab sich keine Gelegenheit, Monsieur Djagilew nach dem Namen des Parfüms zu fragen.«
Dimitri steckte sich eine eigene Zigarette an. Sein Mund stieß kleine Rauchwolken aus, als er sprach: »Ich bin sicher, dass es sich um Le Bouquet de Catherine handelt. Es wurde zu Ehren der Zarin Katharina die Große kreiert, aber wegen ihrer deutschen Herkunft zu Beginn des Krieges nach dem Namen des Hoflieferanten in Rallet No 1 umbenannt. Nur die allerhöchsten Damen in Petrograd und Moskau durften es tragen.«
»Ich beglückwünsche die Damen zu ihrem Geschmack.«
»An keinem Hof Europas waren Düfte ein so großes Thema wie in Petrograd. Wir waren ganz versessen auf Parfüms.« Wieder versank er kurz in seiner Erinnerung, blickte versonnen und ernst über die Tanzfläche, dann wieder Gabrielle in die Augen, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet: Warum interessieren Sie sich für diesen Duft? Sie selbst tragen kein Parfüm, nicht wahr?«
»Stimmt. Ich benutze meist nur Seife.«
»Weil Sie auf ein einzigartiges Parfüm gewartet haben?« Dimitri schüttelte traurig den Kopf. »Ich würde Ihnen gern einen Flakon des Bouquet de Catherine schenken, aber ich fürchte, es gibt keinen mehr. Dieser Duft ist wie das alte Russland – als flüchtiger Hauch der Erinnerung hat er überlebt, dennoch ist er für immer verloren.«
»Die chemische Formel würde genügen«, entfuhr es ihr.
Seine Augenbrauen hoben sich erstaunt, aber er schwieg, offensichtlich erwartete er eine weitere Erklärung.
Gabrielle ärgerte sich über ihre Unbedachtheit. War es richtig, diesen Mann ins Vertrauen zu ziehen, ihn in ihre Pläne einzuweihen? Hier ging es nicht um Persönliches, sondern ums Geschäft. Ihr Herzschlag beschleunigte sich vor Aufregung. In dem Versuch, ihm auszuweichen, versprach sie: »Worum es mir geht, erzähle ich Ihnen, wenn wir uns wiedersehen. Das ist zu viel für einen Abend.«
Zärtlich umschloss seine Hand die ihre, die gerade die Zigarettenkippe in den Aschenbecher drückte. »Sie machen mich glücklich, Mademoiselle Chanel.«
Sie wünschte, der Zauber von vorhin wäre nicht verflogen. Aber ihr Herz schlug nicht wegen dieses attraktiven Mannes schneller, sondern wegen eines Duftes, dessen Namen sie nun zumindest kannte. Sie lächelte Dimitri freundlich an. »Wollen wir spielen gehen?« Ihr Blick schloss jede Zweideutigkeit aus.
In ihrem tiefsten Inneren fragte sie sich, wie es wäre, wenn er sie absichtlich missverstand. Doch Dimitri Pawlowitsch Romanow war kein Mann für doppelsinnige Frivolitäten.
* * *
Gabrielle verlor. Sie gewann. Sie verlor noch mehr. Doch obwohl sie am Ende das Doppelte ihres Einsatzes beim Roulette verspielt hatte, ging sie bedachtsamer mit dem Geld um als Dimitri. Der Großfürst verjubelte seine Jetons mit einer Leichtsinnigkeit, als gäbe es noch den Hof in Sankt Petersburg. Das Vergnügen, mit Dimitri angespannt auf die kleine Kugel im Rouletterad zu starren, zu hoffen, zu jauchzen, wenn die Kugel im richtigen Nummernfach liegen blieb, oder für ein paar Sekunden maßlos enttäuscht zu sein, wenn es nicht so war, war jede einzelne Lira wert. Es war wundervoll, mit ihm zu lachen, verschwenderisch und gleichzeitig großzügig sein zu dürfen. Es war wie ein Rausch. Gabrielle amüsierte sich – und vergaß ihre Trauer.
Als sie schließlich zum Aufbruch drängte und er sie zu ihrem Hotel begleitete, war dieser Abend längst mehr als nur eine flüchtige Episode. Im Bewusstsein einer tiefen Verbundenheit hielten sie einander an den Händen. Keiner schien wirklich bewusst nach der Hand des anderen gegriffen zu haben. Ihre Finger hatten sich gefunden und ineinander verschlungen. Sie schlenderten im Gleichschritt, und wieder fiel Gabrielle auf, wie leicht ihre Körper im selben Takt verschmolzen.
»Mit Ihnen möchte ich die Spielbank in Monte Carlo sprengen«, sagte er. Obwohl er leise sprach, hallte seine Stimme laut durch die nächtliche Stille. Außer ihnen beiden war zu dieser Stunde kaum jemand zu Fuß unterwegs am Lungomare. Das leise Rauschen des Meeres und das Knattern eines Automobils waren die einzigen Geräusche in der Nacht.
Ein Traum, dachte sie, es ist nur ein Traum. Irgendwann würde sie erwachen und in ihr altes Leben zurückkehren. »Monte Carlo ist immer eine gute Idee«, erwiderte sie vage.
»Dann lassen Sie uns sofort abfahren.«
»Ich reise morgen mit den Serts nach Rom. Nur ein Abstecher. Wir kommen in ein paar Tagen zurück. Vielleicht ergibt sich danach die Gelegenheit für Monte Carlo.«
Sie waren vor dem Eingang des Hotel des Bains angelangt. Schweigend standen sie einander gegenüber. Erwartungsvoll. Gabrielle rechnete damit, dass er sich irgendeine Frage überlegte, deren Antwort ihm Einlass in ihr Zimmer bescherte. Dabei wären gar nicht viele Worte nötig. Einem Abend wie diesem konnte eigentlich nur eine gemeinsame Nacht folgen. Sie waren erwachsen, wussten, worauf sie sich einließen. Sie nahmen niemandem etwas und würden einander viel geben.
Da zog er sie sanft an sich und küsste sie auf beide Wangen. Eine freundschaftliche Geste voller Vertrauen, nicht die leidenschaftliche Zärtlichkeit eines Liebhabers. Aber deshalb nicht weniger aufwühlend. Es war die respektvolle Geste eines Mannes, der warten konnte.
»Leider bliebe uns nur wenig Zeit für Monte Carlo. Ich habe eine Einladung nach Dänemark erhalten, und dem britischen Botschafter in Kopenhagen darf ich nicht absagen. Er ist mehr als ein Freund – er hat mein Leben gerettet, als ich auf der Flucht vor den Roten war. Deshalb werde ich nicht mehr in Venedig sein, wenn Sie zurückkommen …« Er legte eine Pause ein, als überlegte er es sich gerade anders, doch dann sagte er mit fester Stimme: »Wir sehen uns wieder. Das verspreche ich Ihnen.«
Er wartete nicht ab, was sie dazu sagte, sondern machte kehrt und ging mit leichten Schritten davon. Ein Mann, der Zar von Russland sein könnte, ging offenbar davon aus, dass eine Frau seinem Versprechen ohne Widerrede glaubte.
Und das tat sie tatsächlich.
Lächelnd sah sie ihm nach. Er ist ein Meister des Spiels mit der Liebe, fuhr es ihr durch den Kopf. Ein Kavalier, der höflich und zurückhaltend wartete, anstatt forsch und geistlos zu fordern, was viele seiner Geschlechtsgenossen als ihr Recht ansahen. Dimitri wusste genau, dass er auf diese Weise eher ans Ziel kam. Das hatte sie an dem Schimmern seiner Augen erkannt. Ein Glanz, der sie anzog und ihre Vorfreude schürte. Ihr Verlangen forderte, dass sie ihn zu sich rief. Vielleicht erwartete Dimitri sogar, dass sie den ersten Schritt unternahm. Doch stattdessen trat sie wie beseelt in das Hotelfoyer.
Auch Gabrielle verstand sich auf das Spiel der Spiele.