Kapitel 6

Italien veränderte Gabrielle. Dem einen Flirt sollte zwar kein zweiter folgen, aber als sie zurück nach Paris reiste, fühlte sie sich erholt wie nie zuvor und von neuer Lebenslust bereichert.

Es kam ihr vor, als würde sie aus einem dunklen Traum erwachen. Allein die Tatsache, dass sie von einem Mann der gesellschaftlichen Klasse eines Dimitri Pawlowitsch Romanow so respektvoll umworben wurde, gab ihr Auftrieb. Natürlich, Boy war viel vermögender gewesen als Dimitri in der Emigration. Aber er gehörte eben nicht zum Hochadel, sondern kam aus großbürgerlichen Verhältnissen und hatte sich seinen Status selbst erarbeitet. Letzteres war im Frankreich der Vorkriegsjahre ebenso imponierend wie heute der Glanz, den die aus Sankt Petersburg und Moskau geflohenen Großfürsten nach Westeuropa mitbrachten. Hinzu kam, dass Gabrielle nicht nur in diesem einen Russen einen Seelenverwandten ausmachte, sondern eine echte Affinität zu der schwermütigen russischen Kultur entwickelte. Sie wusste nicht mit letzter Gewissheit, ob Dimitri sein Versprechen wahr machen und sie ihn jemals wiedersehen würde, aber sie nahm aus ihrer Begegnung mehr mit als die wiederentdeckte körperliche Lust. Es war wie ein wunderschöner Traum, aus dem sie gestärkt erwachte.

Zu ihrer neuen Stärke trug auf seine Weise auch José Sert bei. Durch ihn erfuhr sie fast alles über die Malerei der italienischen Renaissance und die Bildhauer des Barock. Misias Mann war ein Meister seines Fachs und führte seine Schülerin behutsam in die Kunstgeschichte ein. Plötzlich öffnete sich ihr Blick für diese neue Welt – genauso, wie sie sich vor vielen Jahren der Literatur geöffnet hatte.

Als junge Frau hatte sie alle Romane aufgesogen, die ihr zwischen die Finger kamen, gleichgültig, ob Schund, gute Unterhaltung oder höhere Literatur. Sie war überzeugt, dass in jedem geschriebenen Text etwas stand, das sie irgendwie weiterbrachte. Boy hatte ihr dann die Klassiker nahegebracht, so dass sie inzwischen ausgesprochen belesen war. Die bildende Kunst hatte bis jetzt hintangestanden. José jedoch zeigte ihr Magie und Faszination seines Fachs, und es bereitete ihr große Freude, sich mit diesem neuen Thema zu befassen. Nicht, dass sie selbst Bilder oder Skulpturen kaufen und in ihrem Haus ausstellen wollte. Sie fand, dass die Kunstobjekte in den Museen, in denen sie sie betrachten durfte, am besten aufgehoben waren.

Ihre Begehrlichkeiten entwickelten sich in eine andere Richtung: Sie begann davon zu träumen, ein Theaterstück oder ein Ballett auszustatten, so wie damals Paul Poiret die Uraufführung von Le Sacre du Printemps. Sie hatte keine Ahnung, wie man ein Bühnenbild erschuf, aber sie konnte Kostüme entwerfen, davon war sie überzeugt. Um dieses Ziel zu erreichen, musste sie von Männern wie Sergej Djagilew jedoch nicht nur bemerkt, sondern womöglich ebenso angebetet werden wie Misia Sert. Wäre es nicht eine glückliche Fügung, wenn die Arbeit mit berühmten Kulturschaffenden die Lücke in ihrer Gefühlswelt füllte, die Boys Tod gerissen hatte? Natürlich kannte sie durch die Serts eine Reihe von bekannten Malern, aber Männer wie etwa Pablo Picasso waren Einzelgänger. Diese Künstler besaßen zwar Freunde, vielleicht auch einen Galeristen, waren aber bei ihrer Tätigkeit mit sich allein. Eine Balletttruppe indes war auf Helfer und Unterstützer angewiesen.

Während sie noch darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass ihr die Serts mit der Reise nach Italien ein großes Geschenk gemacht hatten: Gabrielle begann sich über sich selbst zu identifizieren und nicht mehr über den Mann, den sie mehr geliebt hatte als ihr eigenes Leben.

Nach ihrer Rückkehr wurde sie von ihrem Alltag stark in Anspruch genommen, doch ihre Gedanken kreisten um ihre künftige Rolle in der Bohème. Die Kunst kam ihr vor wie ein schönes Spielzeug, die Theater glichen einem Puppenhaus und die Darsteller den Figuren darin. Als kleines Mädchen hatte sie keine Puppen besessen, dafür war sie zu arm gewesen, doch dieses Manko wollte sie nun durch reale Menschen wettmachen. Da Misia und José Sert von Venedig aus in Richtung Balkan aufgebrochen waren und nicht so bald zurückerwartet wurden, erschien ihr die Gelegenheit günstig, allein in die Fußstapfen der Freundin zu treten. Außerdem war da noch eine andere Mission.

So stand sie eines späten Nachmittags vor dem Spiegel, rückte ihren schwarzlackierten Strohhut zurecht und sprach der künftigen Mäzenin leise Mut zu. Sie verließ ihr Atelier nicht wie sonst erst um sieben Uhr abends, sondern machte sich zwei Stunden früher auf zu einem Spaziergang. War die Teestunde nicht die beste Zeit für einen unangemeldeten Besuch? Derartige Gedanken waren ein Überbleibsel der gesellschaftlichen Erziehung eines Engländers, fuhr es ihr durch den Kopf, und sie lächelte amüsiert.

Gabrielle war überrascht, wie wohl es ihr tat, dass sie nun ohne Schmerz an Boy denken konnte. Voller Wehmut – ja. Aber nicht mehr ganz so verzweifelt. Er hätte mit ihr gelacht, wenn sie ihm erzählt hätte, was sie gerade dachte. Konnte man Trauer mit Humor nehmen? Jedenfalls ließ es die Sehnsucht nach einem Toten erträglicher werden, wenn man nach vorn blickte. Es machte ihn nicht wieder lebendig, dass sie ein Leben wie in einer Gruft führte. Das hatte sie in den vergangenen Wochen gelernt.

Frohen Mutes lief sie über die Rue Saint-Honoré zur Rue Royale. Es war ein milder Septembertag, fast noch sommerlich, wie geschaffen für einen Bummel, und ihr Weg führte sie durch eine der ältesten und schönsten Straßen der Stadt. Doch Gabrielle schlenderte nicht, sie schritt zielstrebig in Richtung der Place de la Concorde. Sie hatte in Venedig gut zugehört und erfahren, dass Sergej Djagilew nach seiner Abreise aus der Lagunenstadt im Hôtel de Crillon in Paris logieren würde.

Das Crillon war ein luxuriöses Haus, nicht ganz so feudal wie das Ritz, wo Gabrielle nächtigte, wenn sie abends nicht mehr nach Garches in ihre neue Villa fuhr. Aber das Crillon war zweifellos in einem der schönsten Palais untergebracht und dazu modern ausgestattet, da es erst kurz vor dem Großen Krieg von einem Privathaus umgewandelt worden war. Gabrielle wunderte sich ein wenig, wie Djagilew die Zimmerrechnung bezahlen konnte, aber es war natürlich angenehmer, sich an der Rezeption eines Luxushotels zu melden, als mit der zweifelhaften Wirtin irgendeiner Kaschemme verhandeln zu müssen.

Der Lift brachte sie in die zweite Etage. Vorbei an in Elfenbeintönen gehaltenen Wänden schritt sie zu der Zimmerflucht, die der Ballettmeister bewohnte. Als Boris Kochno, der ihr bereits die Tür aufhielt, die Besucherin sah, verbeugte er sich formvollendet. »Monsieur Djagilew erwartet Sie.«

Der Impresario stand am Fenster des Salons. Im Licht wirkte er beinahe wie ein lebendig gewordenes Auferstehungsgemälde. Der Heiland des Balletts, fuhr es Gabrielle durch den Kopf.

»Mademoiselle Chanel«, hob er an, »ich bedauere, mich nicht an Ihren Namen zu erinnern. Sind wir uns schon einmal begegnet? In Venedig vielleicht? Wie auch immer, eine Freundin der wundervollen Misia Sert ist mir natürlich willkommen.«

Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln, sagte aber nur: »Guten Tag, Monsieur Djagilew.«

Offensichtlich zerbrach er sich weiter den Kopf darüber, wo er Gabrielle schon einmal gesehen hatte. Doch dann schüttelte er wie zur Kapitulation so heftig sein Haupt, dass sein volles Haar wie elektrisiert nach allen Seiten abstand. Mit der einen Hand versuchte er es zu bändigen, während er mit der anderen auf die kleine Sitzgruppe deutete. »Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, woher wir uns kennen sollten. Aber wir werden es herausfinden, nicht wahr? Bitte, nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte etwas für Sie tun«, erwiderte Gabrielle, während sie sich setzte.

Hochgezogene Augenbrauen waren seine einzige Antwort.

Sie registrierte, dass er ihr nichts anbot. Das war aber möglicherweise eher ein Zeichen von Verwirrung als von Unfreundlichkeit. Sie beschloss, rasch zur Sache zu kommen, und zog das Ledermäppchen aus ihrer Handtasche, in dem sich ihre Scheckformulare befanden.

»Ich möchte, dass Sie Le Sacre du Printemps aufführen«, erklärte sie mit fester Stimme, während sie die Schecks auf den niedrigen Tisch vor sich legte. Der zuoberst befindliche Vordruck war bereits ausgefüllt und mit ihrer Unterschrift versehen. Ohne ein weiteres Wort schob sie das Dokument zu Djagilew. »Mit dieser Summe sollten Sie die Wiederaufnahme realisieren können.« Es war ein sechsstelliger Betrag.

Seine Augenbrauen rutschten noch ein wenig höher. Ungläubig griff er nach seinem Monokel, doch die Summe blieb dieselbe. »Mademoiselle!« In seinem Ausruf mischte sich die Empörung eines Mannes, der sich zum Narren gehalten fühlt, mit Überraschung – und einem Funken ungläubiger Freude.

»Meinen Sie, dass das nicht ausreicht?«, fragte sie, nun ebenfalls erstaunt.

»Dreihunderttausend Francs!« Er griff rasch nach dem Scheck, bevor sie es sich anders überlegte. »Ich bitte Sie, Mademoiselle Chanel, das ist überaus großzügig.« Mit der freien Hand fingerte er nach seinem Einstecktuch, zog es heraus und presste es sich an die Nase, als wäre der Duft darin sowohl Lebenselixier als auch Beruhigungsmittel. Gabrielle fiel auf, dass er zitterte. »Boris, nimm das hier an dich und verwahre es gut.«

Erst jetzt bemerkte sie, dass sich der jugendliche Sekretär im Hintergrund gehalten hatte. Mit einer leichten Verbeugung kam er dem Wunsch seines Herrn nach.

»Ich bin überwältigt«, gab Djagilew zu. »Wenn Sie als Gegenleistung die beste Aufführung erleben wollen, die die Compagnie der Ballets Russes jemals gegeben hat, können Sie dessen sicher sein.«

»Davon bin ich überzeugt.« Sie lächelte ihn an. »Ich möchte Sie allerdings um etwas anderes bitten.« Sie legte eine kleine Pause ein, um ihn ein bisschen auf die Folter zu spannen. Als sich seine Gesichtsfarbe von Puderrosa in Dunkelrot zu verwandeln begann, fügte sie hastig hinzu: »Es geht um Ihr Einstecktuch. Da ich annehme, dass Sie sich nicht für immer von dem Geschenk der Großfürstin trennen möchten, würde ich es mir gern ausleihen.«

Sie hatte lange darüber nachgedacht, wie sie an die Zusammensetzung des Duftes der Großfürstin Maria Pawlowna kommen könnte. Da ihr Dimitri wenig Mut gemacht hatte, noch einen Flakon des Bouquet de Catherine aufzutreiben, würde sie die Formel auf andere Weise finden müssen. Es erschien ihr logisch, dafür das Tüchlein zu benutzen, in dem das Parfüm noch immer hing. Sie hoffte, dass in den Labors von François Coty ein fähiger Chemiker arbeitete, der in der Lage wäre, die einzelnen Essenzen zu erkennen. Sie wusste nicht genau, ob ihr Vorhaben umsetzbar war, aber sie musste es versuchen. Selbst wenn nicht alle Ingredienzien identifiziert werden konnten, würde die Basis ausreichen, um damit zu experimentieren. Allein die Präsentation dieses ungewöhnlichen Aromas sollte genügen, um ihre Vorstellungen in eine Formel zu kleiden. Das brächte sie ihrem Ziel näher als alle bisherigen Versuche.

Verwirrung und Unglaube lagen in Djagilews dunklen Augen. Er umklammerte das Tuch, als befürchte er, seine Besucherin würde es ihm jeden Moment entreißen.

»Es wird Ihrem Tuch nichts geschehen«, versicherte Gabrielle. »Selbstverständlich gebe ich es Ihnen so rasch wie möglich zurück – unversehrt.«

»Wofür brauchen Sie es?« Seine Stimme klang heiser.

Angesichts ihrer großzügigen Spende fand Gabrielle seine Frage geradezu vermessen. Andererseits zeugte sein Verhalten auch von seiner tiefen Verbundenheit mit seiner verstorbenen Förderin. Ein Mann mit diesem Gefühl für Loyalität war durchaus nach ihrem Geschmack.

Also erzählte sie ihm von ihrem Erfolg als Modeschöpferin. »Vor vielen Jahren begann ich damit, Hüte für die weiblichen Gäste meines Freundes Étienne Balsan zu entwerfen. In einer Zeit, in der die Frauen regelrechte Wagenräder auf dem Kopf trugen, sorgten meine schlichten Modelle für ziemlich viel Aufmerksamkeit in der Pariser Gesellschaft. Also fertigte ich noch mehr Hüte und konnte schließlich mit Étiennes Unterstützung ein erstes Putzmachergeschäft in der Rue Cambon eröffnen. Dann begann ich zu schneidern, zunächst Matrosenblusen und Hosenröcke. Ich bevorzuge schon immer einen sehr schlichten Stil, die klaren Formgebungen des Mittelalters inspirieren mich. Jedenfalls wurde meine Mode so beliebt, dass ich ein Jahr vor dem Krieg Boutiquen in Deauville und später in Biarritz eröffnete.

Heute arbeite ich in einem Haus in der Rue Cambon, und die Damen der Gesellschaft sind meine Kundschaft. Ich möchte den besten und treuesten meiner Kundinnen ein Geschenk machen, aber mein Toilettenwasser soll etwas ganz Besonderes sein. So besonders wie der Duft der Großfürstin. Um die Formel herauszufinden, brauche ich das Tuch …«, sie hielt kurz inne, dann: »Und Ihre absolute Diskretion. Ich bitte Sie, über alles, was wir hier sprechen, Stillschweigen zu bewahren. Auch meine Spende sollte unter uns bleiben. Ich möchte, dass nicht einmal unsere gemeinsame Freundin Misia davon erfährt.«

Mit einem Nicken reichte Djagilew ihr sein Einstecktuch. »Ich verstehe. Die Großfürstin trug übrigens das Parfüm Rallet No 1 beziehungsweise Le Bouquet de Catherine …«

»Ich weiß«, fiel sie ihm ins Wort.

Was würde Dimitri Pawlowitsch sagen, wenn sie eine Neufassung des Duftes der Zarin herstellen ließ? Keine Kopie. Das war nicht ihr Stil. Aber eine neue, zeitgemäße Variante entspräche durchaus ihren Vorstellungen. So wie eine neue Aufführung von Le Sacre du Printemps keine Wiederholung des Vorkriegsballetts sein würde. Was würde er sagen, wenn er wüsste, dass sie diese Erinnerung an die alte russische Folklore finanzierte? Seine Vergangenheit und ihre Zukunft verbanden sich.

Ich denke zu viel an Dimitri, fuhr es ihr fast erschrocken durch den Kopf, das sollte ich lassen. Es gab Wichtigeres in ihrem Leben als einen neuen Mann.

Zusammen mit ihrem Scheckbuch steckte sie das Tuch in ihre Handtasche.