Kapitel 9

François Cotys Rückmeldung ließ überraschend lange auf sich warten. Nach mehreren Wochen meldete er sich telefonisch: »Es gibt keine Ergebnisse, Mademoiselle Chanel.« Seine ernste Stimme hallte durch den Hörer direkt in ihren Kopf. »Wir haben alles versucht. Wir können ein paar Blütendüfte unterscheiden, aber es fehlt ein wesentlicher Bestandteil, den wir nicht ausmachen können. Meiner Ansicht nach sind synthetische Moleküle im Spiel, aber dem Labor ist eine genaue Analyse der Synthese allein aus dem Taschentuch nicht möglich.«

»Was sind ›synthetische Moleküle‹?«, fragte Gabrielle.

»Es ist ein wenig kompliziert, denn es handelt sich um künstliche Stoffe, die in der Chemie gewonnen werden.« Coty seufzte, und sie stellte sich bildlich vor, wie er am anderen Ende der Telefonleitung den Kopf schüttelte. »Vielleicht irre ich mich. Vielleicht auch nicht. Es ist ziemlich ungewöhnlich, ein Parfüm aus einem synthetischen Stoff herzustellen, eigentlich ist das viel zu teuer. Aber möglicherweise war für die Zarenfamilie nichts zu teuer. Andererseits war es meines Erachtens zum Zeitpunkt der Komposition noch gar nicht möglich, die Moleküle zu trennen. Mit dem Taschentuch allein kommen wir jedenfalls nicht weiter. Mit unseren Proben sind wir auch von einer nur ähnlichen Duftkomposition weit entfernt.«

Gabrielle ließ sich nicht anmerken, wie niederschmetternd Cotys Anruf für sie war. Obwohl ihr danach war, ihre Enttäuschung herauszuschreien, sagte sie sanft: »Danke, dass Sie sich so viel Mühe gemacht haben. Ich lasse das Taschentuch morgen von meinem Chauffeur abholen.«

»Sie können mein Laboratorium jederzeit wieder benutzen«, versprach der Parfümkönig, bevor sie das Gespräch beendeten.

Wenigstens Djagilew wird sich freuen, seinen kostbaren Besitz zurückzuerhalten, dachte sie grimmig. Er hatte Gabrielle bereits mehrmals danach gefragt. Stets diskret und auch nicht impertinent, aber sie hatte sich schuldig gefühlt, weil sie sich in der wichtigen Phase seiner Premierenvorbereitungen seines Talismans bediente. Djagilew ließ ihr durch Boris Kochno wiederholt Einladungen zukommen, sich die Ballettproben anzusehen: Der junge Sekretär sprach immer wieder in ihrem Atelier vor, überbrachte Einladungen und persönliche Nachrichten seines Auftraggebers. Doch bislang hatte sie jedes Mal abgesagt.

Während sie am Boden kniete – Stecknadeln zwischen den Lippen und ein auf einem Armreif befestigtes Nadelkissen am Handgelenk, dabei Stoffbahnen um eine Kleiderpuppe drappierend –, vorgeblich in ihre Arbeit versunken, lauschte sie aufmerksam, wie sich Kochno nach der Überbringung einer weiteren Einladung eher beiläufig nach der Leihgabe erkundigte. Sie steckte die Nadeln fest und vertröstete ihn. Doch ihre Beklommenheit wuchs. Sie kam sich bei jedem Besuch des jungen Mannes ein wenig schäbiger vor. Russen waren sehr abergläubisch, das wusste sie von Dimitri. Deshalb mied sie Djagilew, suchte nach Ausflüchten, um seinen Sekretär mit freundlichen Absagen ins Hôtel de Crillon zurückzuschicken. Ihr Einstand als Mäzenin verlief nicht gut. Das Gleiche galt für die Herstellung eines Eau de Chanel.

Und nun erwies sich das Souvenir auch noch als wertlos für Gabrielle. Als sie das Gespräch mit Coty beendet hatte, fiel ihr Blick fast automatisch auf den Beistelltisch unter dem Wandtelefon. Auf ihrem in schwarzes Leder gebundenen Kalender, der bei den Terminen der nächsten Woche aufgeschlagen war, lagen lose verstreut ein paar beschriftete Zettel, und zwischen den Seiten für die kommenden Wochen lugte die Ecke eines Billetts mit dem Wappen des Hôtel de Crillon hervor.

Sie schob die Notizen mit der Fingerspitze hin und her, bis sie fand, was sie suchte. Obwohl sie ursprünglich abgesagt hatte, hatte sie Ort, Datum und Uhrzeit eines Soupers, das Djagilew anlässlich des Fortschritts der Proben von Le Sacre du Printemps für seine Freunde veranstaltete, notiert. Sie wusste selbst nicht, warum sie einen Termin, den sie nicht wahrnehmen wollte, aufgeschrieben hatte. Nach den schlechten Neuigkeiten von Coty war dieses Essen jedoch eine wunderbare Gelegenheit, die Leihgabe ihrem ursprünglichen Besitzer zurückzugeben.

Entschlossen ging sie zu ihrem Schreibtisch, setzte sich und zog ein Blatt ihres Briefpapiers aus der Schublade. Die Nachricht, die sie an Djagilew schrieb, war kurz: Sie habe es sich anders überlegt und nehme seine Einladung sehr gern an. Das Taschentuch erwähnte sie nicht, sie wollte es ihm als Überraschung mitbringen.

* * *

Es waren seine Künstlerfreunde und ausgewählte Mitarbeiter, die Sergej Djagilew in der Bar La Gaya um sich versammelte. Obwohl sich das Lokal praktisch um die Ecke von ihrem Atelier befand, traf Gabrielle verspätet ein. Die anderen Gäste standen in kleinen Gruppen unter einem riesigen Leuchter bei einem Aperitif zusammen und diskutierten lebhaft, mehrfach reflektiert von den verspiegelten Wänden.

Auf Anhieb entdeckte sie José Sert, der in eine Unterhaltung mit Pablo Picasso vertieft war. Er blickte kurz zu ihr hin, winkte und wandte sich dann wieder seinem Gesprächspartner zu, der ihr ebenfalls nur kurz zunickte, bevor er die Diskussion fortsetzte. Picasso benutzte zum Sprechen nicht nur seinen Mund, sondern gestikulierte wild mit seinen Händen und der Zigarre, die er in der einen hielt. Gabrielle war fasziniert von der Ausstrahlung dieses Mannes, er besaß Esprit, obwohl er eigentlich nicht besonders attraktiv und häufig nicht einmal charmant war. Sie kannte Josés Landsmann durch ihre Freunde, und sie verband durchaus mehr als eine lose Bekanntschaft: Olga Stepanowna Chochlowa, bis zu ihrer Hochzeit mit Pablo Picasso Tänzerin in Djagilews Compagnie, trug Kleider von Gabrielle – und das nicht nur bei gesellschaftlichen Anlässen als eine Art lebendige Schaufensterpuppe: Vor rund drei Jahren war die damals frischgebackene Madame Picasso von Pablo in einem Badeanzug gemalt worden, der aus dem Hause Chanel stammte. »Die Badende« hieß das Gemälde. Ein Liebesbeweis in Öl. Jetzt stand Olga Picasso neben Misia am Fenster, ein Glas in der Hand, an dem sie nur nippte. Gabrielle wusste, dass die frühere Primaballerina schwanger war, doch das Hängerkleid kaschierte ihre beginnenden Rundungen. Sowohl Olga als auch Misia wurden umringt von Bewunderern.

Gabrielle bediente sich von dem Tablett, das ein Kellner herumreichte, und blieb auf einem Beobachtungsposten zwischen Tür und Klavier stehen. Das La Gaya war bekannt für seine Musik, häufig spielten hier der Komponist Darius Milhaud und seine Freunde der Groupe des Six. Doch heute bestimmten keine Akkorde die Geräuschkulisse, das Stimmengewirr herrschte vor. Djagilew hatte gut zwanzig Gäste eingeladen, im Wesentlichen Männer, alle erstaunlich formell gekleidet, viele Tänzer darunter, die an ihrer Geschmeidigkeit zu erkennen waren. Gabrielle nippte an ihrem Champagner und sah zu, wie sich die Stimmung seltsam auflud, als warteten hinter den eleganten Fassaden Dramen darauf, wachgerufen zu werden.

Ihre Rolle als stille Zuschauerin wurde von Djagilew selbst unterbrochen, der sie bemerkte und mit ausgebreiteten Armen auf sie zueilte. »Mademoiselle Chanel! Was für eine Freude, Sie zu sehen!«

Niemand in der Bar konnte sich dieser lautstarken Begrüßung entziehen, deren Krönung mehrere Küsse waren, die Djagilew in der Luft rechts und links von Gabrielles Wangen platzierte.

»Ich freue mich sehr, hier zu sein«, erwiderte sie freundlich. Dann reichte sie ihm ihr Mitbringsel. »Vor allem aber bin ich gekommen, um Ihnen etwas wiederzugeben.«

In einer theatralischen Geste presste Djagilew das Taschentuch auf Mund und Nase, offensichtlich zu gerührt, um ein Wort des Dankes zu finden.

Die Szene war Gabrielle ein wenig peinlich, zumal die Gespräche um sie herum weitgehend verstummten. Nur Picassos spanisches Lamento prasselte unverändert weiter.

»Ich hatte Ihnen versprochen, dass ich Ihnen Ihr Eigentum unversehrt zurückgebe.«

»Coco!« Misia löste sich von ihren Bekannten und stürzte auf Gabrielle zu.

»Was tust du denn hier?«, flüsterte sie in ihr Ohr, als sie die Freundin umarmte. »Ich wusste gar nicht, dass du den Maestro kennst.« Der beleidigte Unterton war selbst bei Misias gesenkter Stimme nicht zu überhören.

»Du hast mich in Venedig vorgestellt«, erinnerte Gabrielle mit einem erzwungenen Lächeln.

»Ja, aber …«, hob Misia an, unterbrach sich dann jedoch. Ihre Augen flogen von Gabrielle zu Djagilew.

Er zog das bisher dort untergebrachte Ersatztuch aus der Einstecktasche an seinem Jackett, ließ es achtlos zu Boden fallen und ersetzte es durch sein Andenken an die verstorbene Großfürstin. »Misia, Ihre wundervolle Freundin muss unbedingt Strawinsky kennenlernen«, flötete er. Bei seinen letzten Worten war er bereits auf dem Weg zu der Gruppe am Fenster. Ein Dutzend Augen folgten ihm und den beiden Frauen in seinem Schlepptau.

»Was machst du hier?«, wiederholte Misia neben Gabrielle.

Misias Ton war ein Wispern, die Unwilligkeit, mit der sie ihren Platz in dieser Gesellschaft verteidigte, deutlich herauszuhören. Offensichtlich war sie verärgert. Zum ersten Mal kam Gabrielle der Gedanke, dass ihre Freundin eifersüchtig sein könnte. Misia Sert war die große Förderin der Balletts Russes – und wollte es auch bleiben. Wen immer sie hinter der Spende vermutete, die zu der Neuaufführung führte, an Gabrielle Chanel dachte sie dabei natürlich nicht.

»Monsieur Djagilew war so freundlich, mir eine Einladung zu schicken«, erwiderte Gabrielle. »Und die habe ich angenommen.«

»Aber du hast mir nichts davon erzählt!«, protestierte Misia.

»Ich hab’s vergessen«, murmelte Gabrielle.

»Aber wir … wir sprechen doch sonst über alles.«

Gabrielle hörte ihrer Freundin kaum noch zu, gefesselt von den klugen Augen eines Mannes, die sie hinter einer goldgerahmten Brille anstarrten, als sei er in diesem Moment vom Blitz getroffen worden. Er stand neben Olga Picasso, mittelgroß, eher schmächtig, vielleicht vierzig Jahre alt, sein Haar begann sich hinter der hohen Stirn zu lichten, über den vollen, ernsten Lippen trug er einen Schnurrbart. Sein Anzug war einst sicher von vorzüglicher Qualität gewesen, wirkte inzwischen jedoch abgetragen, seine Haut fahl – der optische Eindruck eines Menschen, dem es weder finanziell noch durch seine Lebensumstände besonders gutging, der jedoch ein anderes Leben gewohnt war.

»Das ist Igor Strawinsky, der Komponist«, stellte Djagilew vor. »Mademoiselle Coco Chanel, die Modeschöpferin.«

Der durchdringende Blick tauchte in ihre Augen ein. »Guten Abend.« Er neigte sich über ihre Hand, als befänden sie sich auf einem Ball in seiner untergegangenen Heimat.

Igor Strawinsky hatte etwas ebenso Beklemmendes wie Einnehmendes an sich. Auch etwas Selbstherrliches, wie Gabrielle schien, obwohl dies so gar nicht zu seinem bescheidenen Aufzug passte. Gabrielle konnte sich seiner Präsenz kaum entziehen, hin- und hergerissen zwischen Abneigung und Neugier. Selbst als sie mit seinem Choreografen Léonide Massine bekannt gemacht wurde und den Kunstkritiker und Bühnenbildner Alexander Benois kennenlernte, blieb ihre Aufmerksamkeit mehr bei Strawinsky. Die Namen der Tänzer, die sich in der Gruppe um Misia und Olga Picasso befanden, vergaß sie sofort wieder.

»Ich möchte, dass Sie beim dîner neben mir sitzen, Mademoiselle Chanel«, verkündete Strawinsky.

»Wollen wir die Tischordnung nicht lieber unserem Gastgeber überlassen?«

»Nein. Warum sollten wir?« Als er den Kopf wandte, blitzten seine Brillengläser im Licht der Lampen wie die Klingen von Schwertern in der Sonne. »Es obliegt den Gästen, einen besonderen Abend zu genießen. Oder sind wir eingeladen worden, um dem Gastgeber einen Gefallen zu erweisen?«

Gabrielle wurde einer Antwort enthoben. Offenbar entwickelte sich Picassos Diskussion mit Sert zu einem Streit, denn Pablos aufgebrachte Stimme übertönte plötzlich die Kulisse aus leiser geführten Gesprächen: »Max Jacob sagt, dass guter Stil die Abwesenheit von Klischees bedeutet, und ich teile diese Meinung unbedingt.«

Sofort ging ihr durch den Kopf, dass auch sie das dachte. José Sert liebte indes das Opulente in der Kunst, das durchaus klischeebehaftet sein konnte.

»Spanische Leidenschaft«, kommentierte Strawinsky amüsiert. »Das ist der Gegensatz zur russischen Schwermütigkeit. Natürlich bedeutet dies nicht, dass wir nicht auch leidenschaftlich sein können.«

Gabrielle lächelte still in sich hinein, zum ersten Mal nicht ganz bei Strawinsky, sondern bei einem anderen Mann. O ja, Dimitri Romanow wirkte in seiner Zurückhaltung wie ein Brunnen, in dessen Tiefe sich ein loderndes Temperament verbarg. Bei Strawinsky war diese Eigenschaft offensichtlicher. Aber der war auch ein Künstler, und Dimitri hatte bis zu seiner Flucht wenig anderes kennengelernt als die strengen Zeremonien bei Hofe und das Leben beim Militär. Letztlich war ihr die slawische Mentalität jedoch lieber als die südländische Offenheit. Auch Boy war auf den ersten Blick von vornehmer Distanz gewesen, aber ein Mann, unter dessen unbewegter britischer Oberfläche ein helles Feuer loderte. Ihr Herzschlag schien bei dem Gedanken an den Geliebten für einen Moment auszusetzen. Sie fing sich jedoch rasch, und das Pochen folgte wieder seinem gleichmäßigen Rhythmus.

»Du sitzt neben Strawinsky?«, fragte Misia überrascht, als man sich zu Tisch begab. Sie starrte auf die Platzkarten, die trotz der legeren Atmosphäre in dem Lokal vor den Gedecken deponiert worden waren. Ihre dünnen Augenbrauen hoben sich. Sie neigte ihren Kopf zu Gabrielle und flüsterte: »Pass auf, dass du dich nicht ansteckst. Seine Frau soll an einem chronischen Lungenleiden erkrankt sein. Tuberkulose, nehme ich an. Bei seinen prekären Verhältnissen ist das natürlich kein Wunder, aber traurig für seine Kinder. Vier sind es. Und sie sind noch klein, glaube ich. Die Schwindsucht ist ja so ansteckend.«

Gabrielle schenkte der Freundin ein gewinnendes Lächeln und schwieg. Sollte Misia in ihrer Eifersucht doch behaupten, was sie wollte. Immerhin nahm Misia den Ehrenplatz neben dem Gastgeber ein. Sie konnte sich also nicht beschweren. Wahrscheinlich hätte sie sich über jeden möglichen Tischherrn für Gabrielle entrüstet, selbst wenn dieser das letzte Glied der Balletttruppe wäre. Sie ärgerte sich über Gabrielles Anwesenheit, weil sie nichts damit zu tun hatte. So war Misia, und Gabrielle maß dem keine sonderlich große Bedeutung bei. So war ihre Freundschaft. Es gab Auf und Abs, Hochs und Tiefs am laufenden Band. Jedoch keine echte Missgunst, die zu einem endgültigen Zerwürfnis führen würde. Und dabei würde es bleiben. Dessen war sich Gabrielle sicher.

Während die Kellner die Vorspeise auftrugen, wurde sie von Igor Strawinsky unterhalten. Er redete erstaunlich viel, aber es war auch anregend und lehrreich, was er zur Musikgeschichte im Allgemeinen und der sogenannten Neuen Musik mit all ihren Möglichkeiten und Stilrichtungen im Besonderen zu sagen hatte. Gabrielle hing an seinen Lippen, wie sie einst an denen Boys hing oder wie sie José Sert lauschte, wenn der über die bildenden Künste referierte.

Strawinsky sprach mit lauter, deutlicher Stimme und hielt unentwegt intensiven Blickkontakt mit ihr, um sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit zu versichern. Als der Komponist seine Ausführungen kurz unterbrechen musste, weil der junge Kellner derart ungeschickt das Fischgericht auftrug, dass beinahe die Sauce auf das Sakko des berühmten Gastes getropft wäre, wagte Gabrielle die Frage nach seiner Familie.

»Meine Frau Jekaterina ist leidend und hütet die meiste Zeit das Bett«, antwortete er bedrückt, um dann mit der unverhohlenen Begeisterung eines stolzen Vaters hinzuzufügen: »Meinen Kindern geht es hingegen ausgezeichnet. Sie sind wunderbar. Zwei Jungen und zwei Mädchen, immer abwechselnd, dreizehn, zwölf, zehn und sechs Jahre alt.«

»Wie schade, dass Ihre Frau Sie nicht zu einem Abend wie diesem begleiten kann.«

Seine Augen wanderten über das schlichte, elegante Kleid, das Gabrielle trug. Die cremefarbene Seide mit den schwarzen Applikationen schmiegte sich um ihren zarten Körper und harmonierte mit ihrem dunklen Teint und dem schwarzen Haar.

»Sie ist nicht kräftig genug, und vermutlich hätte sie nichts Passendes anzuziehen für einen solchen Anlass. Außerdem muss jemand auf die Kinder aufpassen.« Verlegen geworden, wandte Strawinsky den Blick ab und konzentrierte sich auf sein Essen.

Zufällig bemerkte Gabrielle, dass Misia sie beobachtete. Da die Freundin am anderen Ende der Tafel thronte und sich alle Gäste gut unterhielten, konnte sie sicher nicht an den einzelnen Gesprächen teilhaben, schon gar nicht mithören, was Strawinsky sagte. Doch genau daran schien sie besonders interessiert. Gabrielle schüttelte unmerklich den Kopf und wandte sich demonstrativ ihrem Tischherrn zu, indem sie ihm in einer vertraulichen Geste die Hand auf den Arm legte.

»Wie traurig für Ihre Frau, dass sie sich nicht wohl fühlt. Haben Sie hier in Paris ein angenehmes Zuhause für sich und Ihre Familie gefunden?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass das Gegenteil der Fall war.

Der Komponist zögerte – und das war eigentlich Antwort genug. Doch dann erwiderte er mit beeindruckender Offenheit: »Bedauerlicherweise kann ich es mir nicht leisten, meine Frau und meine Kinder in einer angemessenen Unterkunft unterzubringen. Wir mussten nehmen, was wir unter den gegebenen Umständen bekommen konnten. Gustave Lyon, der Geschäftsführer der Klavierfabrik Pleyel, ist so freundlich, uns zu unterstützen. Dennoch ist die Lage unerfreulich, wenn auch unabänderlich.«

»Wie können Sie unter diesen Bedingungen arbeiten?«

Strawinsky zuckte mit den Achseln. »Es geht. Irgendwie. Aber machen Sie sich bitte um mich keine Sorgen.«

»Ich bin eine große Bewunderin Ihrer Musik. Sie ist dramatisch – und so dominant. Sie hat nicht die Leichtigkeit, die wir nach diesem schrecklichen Krieg ersehnen. Aber Le Sacre du Printemps hat sich mir unvergesslich eingebrannt. Deshalb freue ich mich auf die Wiederaufnahme des Balletts.«

Er hatte sein Besteck ruhen lassen, als sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Nun tastete seine Rechte nach ihren Fingern. »Sie sind wunderbar, Mademoiselle Chanel.«

Amüsiert entzog sie ihm ihre Hand. Natürlich verstand er nicht, dass sie mit ihm flirtete, um ihre beste Freundin zu ärgern. Es war ein Spiel zwischen ihr und Misia, das im Grunde nichts mit Igor Strawinsky zu tun hatte. Er war ihr Spielball. Sie spürte Misias entrüsteten Blick mehr, als dass sie ihn sehen konnte. Warum neidete ihr die Freundin das Geplänkel mit einem charmanten Künstler, der vollkommen harmlos war, weil Strawinsky eine Ehefrau besaß? Misia besaß so viel mehr als sie – einen Mann, der sie liebte und der sie geheiratet hatte. Es war so ungerecht.

Gabrielle konnte nicht verhindern, dass ihr Blick doch irgendwann Misias Augen traf. Ratlosigkeit schlug ihr entgegen. Offenbar war Misia mehr erstaunt als verärgert über die neuen Verbindungen, die sich vor ihr auftaten.

Seufzend wandte sich Gabrielle wieder Strawinsky zu. Sie musste sich zwingen, ihrem Ton die Schärfe zu nehmen, die eigentlich Misia galt und nicht dem Komponisten. »Wissen Sie was? Ich lade Sie und Ihre Familie in mein Landhaus bei Paris ein. Sie können dort wohnen und arbeiten, und ich bin sicher, der Umzug tut Ihrer Frau und den Kindern gut.«

»Das ist ein sehr großzügiges Angebot. Sind Sie sicher?«, fragte er verwundert. Möglicherweise meinte er auch, sie nicht richtig verstanden zu haben.

»Natürlich bin ich das.« Sie lachte auf. Gekünstelt und freudlos, weil die Situation gänzlich unbefriedigend war. Wegen Misia. Und auch wegen Boy, der das neue Haus gekauft hatte, damit dort Leben einzog und nicht die Traurigkeit einer verlassenen Frau. »Ich besitze ein Landhaus in Garches. Dort gibt es viel Platz für eine große Familie.«

Misia würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie davon erfuhr, dass Gabrielle die neue Mäzenin von Igor Strawinsky wurde. Aber sie würde verstehen, dass Gabrielle bei dieser traurigen Familiengeschichte an den Verlust ihrer eigenen Mutter dachte. Der Hinweis auf seine Kinder und das Leuchten in Strawinskys Augen, als er von ihnen sprach, hatten Gabrielle berührt. Sie wollte die kleinen Mädchen und Jungen ebenso wenig ihrem Schicksal überlassen wie die kränkelnde Frau. Wenn sie nichts für die Strawinskys tat und die Kinder aus der Not heraus eines Tages zu Halbwaisen wurden und gar in einem Heim endeten, würde sie sich schuldig fühlen. Das könnte sie sich niemals verzeihen.

»Ich meine es ernst«, bekräftigte sie ihren Entschluss.

»Mademoiselle Chanel!«, rief Strawinsky entzückt. Offenbar fehlten ihm die Worte für mehr.

»Es ist meine Art, Ihnen für Ihre wundervolle Musik zu danken«, gab sie zurück. »Und für Ihre unterhaltsame Gesellschaft bei Tisch. Wie hat Ihnen der Fisch geschmeckt, Monsieur Strawinsky?« Sie schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln.

Es war ein wundervolles, höchst befriedigendes Gefühl, sich als Förderin der Kunst, der Musik Strawinskys zu sehen – und als Retterin seiner Familie.

Durch Gabrielles Körper zog die Wärme unendlichen, längst vergessenen Glücks.