Gabrielle hätte gern mit Misia über Strawinskys »Liebe« gesprochen – oder was er eben dafür hielt –, aber sie verkniff sich jeden Hinweis darauf. Sie erwähnte ihre Affäre nicht und sprach nicht einmal über seine Bearbeitung von Le Sacre du Printemps. Vielleicht hätte Misia auch gar nicht verstanden, dass ihr Verhältnis zu Strawinsky eher geistiger Natur war – auch wenn ihr Körper in seiner Gegenwart ziemlich lebendig wurde. Es war eine andere Liebe als die zu jedem anderen Mann in ihrem bisherigen Leben, Boy eingeschlossen. Und deshalb war Strawinsky keine Konkurrenz für den Toten, ihre Lust schmälerte ihre Trauer nicht.
Es tat so gut, wieder mit der Freundin zusammen zu sein, und Gabrielle wollte keinen Keil in ihre neue Verbundenheit treiben. Sie fühlte sich unendlich wohl, als sie mit Misia durch die Ausstellungsräume des Hôtel Drouot spazierte, das als Auktionshaus über ein Monopol in Frankreich verfügte. Entsprechend lagerten in dem fabrikartigen Gebäude mit seinen hohen Sälen wahrscheinlich mehr Kostbarkeiten als in manchen Museen. Antike Möbel, Gemälde, Skulpturen, italienische Kristalllüster, orientalische Teppiche bis hin zu alten Handschriften und Juwelen. Gabrielle fragte sich, wie vielen Russen es wohl gelungen sein mochte, ihre wertvollsten Besitztümer auf der Flucht außer Landes zu schmuggeln; der größte Teil davon war gewiss an diesem Ort versteigert worden.
In einem Ausstellungsraum, ausgelegt mit dicken roten Teppichen, beleuchtet von gedämpftem Licht und unter abgedunkelten Fenstern, wurden die Lose für die nächste große Auktion präsentiert. Vor einem Schaukasten blieben Gabrielle und Misia stehen. Hinter Glas lagen aufgefächert jene Schriftstücke, wegen derer sie gekommen waren. Engbeschriebene Papiere, die schwarze Tinte überraschend gut erhalten, die Buchstaben wohlgesetzt, aber dennoch in ihrer Form nicht zu entziffern, nur die Zahlen wirkten auf den zweiten Blick für sich genommen verständlich.
»Das kann kein Mensch lesen«, sagte Misia enttäuscht.
»Irgendjemanden wird es schon geben, der sich mit alten Handschriften auskennt«, meinte Gabrielle.
»Natürlich. Das weiß ich auch. Aber wir können es nicht lesen. Kein Schmökern bei einem Glas Champagner in deinem Salon.« Misia seufzte. »Und diese Mühe! Ich meine, du müsstest erst nach einem Historiker mit diesem Spezialgebiet suchen, und am Ende weißt du nicht, ob er dir die Wahrheit sagt. Nein, Coco, es tut mir leid, aber ich glaube, diese Dokumente sind doch nichts für dich.«
Misia hatte recht. Wie immer. Es war albern, Geld in eine Sache zu investieren, von der Gabrielle nicht wusste, worum es sich eigentlich handelte. Pure Verschwendung.
Dennoch fühlte sie sich magisch angezogen von den gelb verfärbten Papieren. Sie betrachtete die Sache nicht ganz so nüchtern wie Misia. Immerhin besaß sie inzwischen ein größeres Wissen über das Wirken der Medici-Königinnen: Katharina hatte einen Parfümeur aus Florenz nach Paris geholt, der als Begründer der Duftkultur in Frankreich galt. Über diesen René schrieb auch Alexandre Dumas in seinem Roman »Die Bartholomäusnacht«. Gabrielle hatte dieses Detail völlig vergessen, es war lange her, dass ihr Boy die Lektüre empfohlen hatte. Aber zwischen den Büchern, die sie in den vergangenen Tagen verschlungen hatte, war es ihr wieder eingefallen. Darüber hinaus hatte sie gelesen, dass Maria von Medici ein erstes Labor im südfranzösischen Grasse hatte einrichten lassen, in dem sich die Alchemisten ausschließlich mit der Herstellung von Düften beschäftigten.
Gabrielle presste ihre Nase gegen die Glasscheibe. Die Anordnung der Zahlen – und einiger Buchstaben – ließ eindeutig eine Formel vermuten. Es könnte sich also durchaus um die Zusammensetzung des Wunderparfüms handeln, nach dem Maria von Medici hatte forschen lassen. Ein Duft, der die Schönheit einer Frau konserviert. Was für eine Entdeckung wäre dies!
»Ich bin sicher, dass es eine Rezeptur ist.«
»Möglicherweise«, stimmte Misia zu. »Bedenke aber: Wir können nicht entziffern, ob es sich um ein Nudelrezept oder die Zusammensetzung eines Toilettenwassers handelt.«
So war Misia. In einem Moment unfassbar begeisterungsfähig und im nächsten unerträglich realistisch. Gabrielle lächelte. Wie gut, dass sie ihre Freundin so gut kannte. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Faszination, die das Manuskript auf sie ausübte, und ihrer Vernunft, die ihr einflüsterte, dass Misias Zweifel berechtigt waren.
Während sie in den Schaukasten starrte, fiel ihr Blick auf das Kärtchen aus Büttenpapier, das die Objektnummer anzeigte, die für die Versteigerung von Bedeutung war. Der Auktionator würde zunächst diese Nummer aufrufen und danach erklären, worum es sich handelte.
»Misia, ich kann die Zahl nicht genau erkennen«, behauptete Gabrielle. »Das Licht ist hier so schlecht. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Was steht dort auf der Karte?«
Die Freundin runzelte verwundert die Stirn, sagte aber nichts zu Gabrielles angeblicher Sehschwäche. Ergeben wühlte sie in ihrer Handtasche und zog ein in Silber gefasstes Lorgnon hervor. »Fünf«, erwiderte sie nach einem Blick durch das Vergrößerungsglas. »Es ist das Los fünf.«
»Meine Glückszahl.« Gabrielles Herz begann schneller zu schlagen. Sie hatte es richtig erkannt, wollte nur noch die Bestätigung ihrer Freundin. Eins, zwei, drei, vier, fünf … Die Mystik des Klosters Aubazine war ihre einzige positive Erinnerung an die Zeit in dem Waisenhaus. »Ich werde das Manuskript kaufen. Und sag mir nicht, dass es ein Fehler ist, wenn ich es um jeden Preis ersteigere. Diese Objektnummer ist ein Wink des Schicksals.«
Misia schüttelte ungläubig den Kopf. »Meine Güte, du hast dich ja Hals über Kopf verliebt.«
Gabrielle hörte kaum zu. Sie starrte auf das Manuskript. Vergeblich versuchte sie, wenigstens ein einziges Wort des Textes zu entziffern. »Was hat denn das hier mit Igor Strawinsky zu tun?«, murmelte sie in Gedanken versunken.
»Oh, là, là!«
Verwundert über diesen Ausruf hob Gabrielle wieder ihren Blick. »Was ist los?«
»Eine ganze Menge ist los, wie mir scheint.« Misias höfliches Lächeln erreichte ihre Augen nicht, die sprühten Funken. »Du verschweigst mir etwas so Wichtiges wie eine Affäre! Coco, das ist nicht nett!«
»Ich habe keine …« Gabrielle unterbrach sich, schluckte den Rest des Satzes hinunter. Ihre Kehle fühlte sich rau an. Langsam dämmerte ihr, dass sie Misias albernen Kommentar missverstanden hatte. Unbedacht war sie in eine Falle getappt, die ihr nicht bewusst gestellt worden war.
Gabrielles Augen wanderten nervös umher. Die Ströme der Besucher, die den Termin zur Vorbesichtigung der Exponate wahrnahmen, flossen wie die Seine an einem ruhigen Herbsttag dahin. Unaufgeregt, gleichförmig. Vor dem einen oder anderen Schaukasten sammelten sich kleine Gruppen, um eine Galeriesäule, auf der eine Bronzestatue präsentiert wurde, bildete sich eine Traube von Menschen. Es gab kein Gedränge und keine Neugier auf die anderen potentiellen Bieter, die einzigen aufmerksamen Beobachter waren die Sicherheitsleute und Saaldiener. Der Geräuschpegel war niedrig, ein sanftes Murmeln wie an der Quelle des Flusses am Plateau de Langres. Außer Misia schien hier niemand an Klatsch interessiert.
Dennoch senkte Gabrielle die Stimme, als sie trotzig wiederholte: »Ich habe keine Affäre.«
Was mit ihr passiert war, als sie neben dem Flügel gestanden und Strawinskys Klavierspiel gelauscht hatte, war so etwas wie ein kleiner Tod gewesen. Ein Gefühl der Bewusstlosigkeit wie nach einem sexuellen Höhepunkt. Ihre Körper waren verschmolzen, als lägen sie in einer Umarmung, und als diese dann tatsächlich darauf gefolgt war, erschien es ihr wie eine Selbstverständlichkeit. Es war fraglos der Beginn einer Eskapade. In jener Nacht hatte sie ihn zurück zu seiner Frau geschickt, aber sie wusste, dass sie die Kraft dafür nicht noch einmal aufbringen und ihn beim nächsten Mal bis zum Morgen bei sich behalten würde.
Die Erinnerung an die Lust des Augenblicks sandte ein Prickeln über Gabrielles Haut. Unwillkürlich schlang sie die Arme um sich, als würde sie frösteln. Tatsächlich war es aber wohl Misias abweisender Gesichtsausdruck, der die Kälte in ihr auslöste.
Misia deutete mit dem Zeigefinger auf das Dokument. »Vielleicht ist das ja gar keine Formel für ein Wunderparfüm«, mutmaßte sie mit spitzer Zunge, »sondern für ein Liebeselixier. Maria von Medici brauchte ein Aphrodisiakum gewiss ebenso nötig wie ein Schönheitswässerchen. Sie soll vollkommen sittenlos gewesen sein und mit fast allen männlichen Mitgliedern der Hofgesellschaft geschlafen haben, einerlei, ob verheiratet oder nicht.« Der Vorwurf war unüberhörbar.
»Ich kaufe es trotzdem.«
»Oder gerade deshalb.«
Misia strahlte Gabrielle in scheinbarer Arglosigkeit an.