Kapitel 14

Natürlich verriet sie Misia nicht, was sie vorhatte. Gabrielle versuchte, so taktvoll zu sein, wie es unter den gegebenen Bedingungen nur möglich war. Obwohl Igor in ihrem Haus lebte, wollte sie aus Rücksicht auf seine Familie nicht in direkten Kontakt zu ihm treten. Über kurz oder lang würde sie nicht umhinkommen, Jekaterina Strawinska in die Augen zu sehen, aber bis dahin würde sie seine Frau wenigstens davon befreien, mit einem Mann verheiratet zu sein, über dessen Liebeskrankheit alle Welt lachte. Sie sorgte dafür, dass sie Ernest Ansermet über den Weg lief, und bat den Dirigenten bei dieser Gelegenheit, Strawinsky eine Nachricht von ihr zu überbringen: »Richten Sie ihm bitte aus, dass er mich jederzeit besuchen kann.«

Ansermet spielte den Postillon d’Amour anscheinend so überzeugend, dass Igor Strawinsky noch am selben Abend im Hôtel Ritz auftauchte, bis zum Morgen blieb und von da an jede Nacht zu ihr kam.

Doch die schlaflosen Nächte, die ihr neuer Liebhaber ihr aufzwang, zehrten schon bald an Gabrielles Nerven. Strawinskys Lebensrhythmus passte nicht zu ihrer Arbeitsweise. Es stellte sich als unfassbar anstrengend heraus, seine Geliebte zu sein. Er ließ ihrem Körper keinen Moment der Entspannung, nahm sie in jeder Nacht mehrmals – aber auch das schien ihm nicht zu genügen. Gabrielle kam es vor, als würde er ihr keine Luft zum Atmen lassen. Strawinsky versuchte, sie zu vereinnahmen, reagierte mit unkontrollierter Eifersucht auf ihre Unabhängigkeit und forderte so leidenschaftlich wie verzweifelt immer wieder ein, über sie verfügen zu können – was ihm als verheiratetem Mann und Familienvater ohnehin nicht zustand. Aber er wollte Gabrielle ganz. Ihren Leib, ihr Wesen, ihre Seele, ihr Herz und wahrscheinlich auch ihre Zeit. Es schien ihr manchmal, als wollte er ihre Liebe erzwingen. Doch Gabrielle empfand nie mehr für ihn als diese Mischung aus Mitleid, Trotz und Stolz, mit der sie ihn in ihr Bett geholt hatte.

Strawinsky beharrte eigensinnig darauf, der Mann ihres Lebens zu sein. Ein Gespräch über ihre Verbindung zu Boy lehnte er ab. Er betrachtete sich als ihre Zukunft – was scherte ihn ihre Vergangenheit? Dennoch nahm sie an, dass er vor allem deshalb in der Öffentlichkeit zum Mann an ihrer Seite werden wollte, um dem Schatten ihrer großen Liebe, den er trotz seines Schweigens darüber nicht vertreiben konnte, zu begegnen. Gabrielle ging zwar auf seinen Wunsch ein und ein paar Mal mit ihm aus, aber sie achtete wie eine altjüngferliche Gouvernante darauf, niemals mit ihm allein gesehen zu werden. Zwar billigte Misia die Beziehung noch immer nicht, aber die Freundin war stets zur Stelle, um mit Gabrielle und Strawinsky etwa ein Konzert zu besuchen. Diese Stunden mit ihm genoss Gabrielle sehr – ebenso wie Misia. Von einem Musikgenie in die Geheimnisse der Klassik eingewiesen zu werden, war unschätzbar wertvoll. Er brachte Gabrielle die Musik Wagners und Beethovens näher, wobei sie seine Faszination für die Opern Richard Wagners teilte, nicht jedoch für die Sinfonien von Ludwig van Beethoven. Er war ein ausgesprochen unterhaltsamer Begleiter, dem sowohl sie als auch Misia seine gelegentliche Rechthaberei und Überheblichkeit verziehen. Mit Liebe hatte das jedoch alles nichts zu tun.

»Djagilews Corps ist zu einer Tournee durch Spanien eingeladen worden«, berichtete Strawinsky in einem der seltenen Momente in einer Nacht Ende Januar, in denen er ihnen beiden eine Ruhepause gönnte. »Die Spanier wollen unbedingt das neue Le Sacre du Printemps sehen.«

Gabrielle lag auf der Seite, ihrem Liebhaber zugewandt, hatte die Augen jedoch geschlossen. Sie dämmerte schläfrig dahin. »Ich weiß«, murmelte sie. »Sergej hat mir schon davon erzählt.«

»Ich muss mit der Truppe reisen. Niemand kann meine Musik so dirigieren wie ich selbst. Stell dir vor, sie würde falsch interpretiert. Nicht auszudenken.«

»Ja. Das ist richtig.« Sie war so zerschlagen, dass sie gar nicht richtig erfasste, was er ihr sagte.

»Aber ich kann nicht fahren!« Sein Ausruf war schmerzerfüllt, fast schon weinerlich. »Wie sollte ich dich allein lassen können, Coco?«

In ihrem Hinterkopf keimte ein Gedanke, den sie nicht fassen konnte, der aber seltsam tröstlich war. Sie wusste, dass sie diese Amour fou nicht vermissen würde. Aber da war noch etwas, das ihrem müden Verstand gerade nicht zugänglich war. »Ich verstehe dich nicht«, nuschelte sie.

Zunächst blieb er still, und Gabrielle hoffte bereits, endlich einnicken zu dürfen. Doch dann verkündete er: »Ich werde nicht ohne dich nach Madrid reisen. Du wirst mich begleiten.«

»Das ist unmöglich«, sagte sie, ohne nachzudenken.

Im nächsten Moment wurde sie sich bewusst, dass es ein Fehler sein mochte, ihm zu widersprechen. Igor würde dies eher als Anreiz verstehen, seinen Willen durchzusetzen. Aber wenn sie eine Sache wusste, dann, dass sie nicht mit ihm auf Tournee zu gehen beabsichtigte. Wegen seiner Frau. Wegen des Klatsches. Und nicht zuletzt um ihretwillen. Mit einem Mal war sie hellwach.

Sie öffnete die Augen. Durch einen Spalt in den Vorhängen fiel ein heller Streifen Licht von den Laternen auf der Place Vendôme auf Igors wutverzerrtes Gesicht. Offensichtlich haderte er mit seinem Schicksal, das ihm als Komponisten einen Erfolg, als Liebhaber jedoch die Trennung von der Geliebten bescherte.

»Ich kann Paris nicht einfach so verlassen«, erklärte sie mit gezwungen sanfter Stimme. »Ich führe ein Geschäft. Hast du das vergessen? Wenn ich wegbleibe, muss ich Vorbereitungen treffen. Umfangreiche, lange Vorbereitungen.«

»Ich kann meine Musik nicht allein durch fremde Theater schicken.«

»Das verstehe ich.« Sie richtete sich auf, stützte sich mit dem Ellenbogen ab. »Deshalb wirst du nach Spanien fahren. Ohne mich, aber mit deiner Musik.« Der Gedanke, dass ihr durch Igors Abwesenheit einige ruhige Abende und vor allem Nächte bevorstanden, in denen sie durchschlafen durfte, war für sie so verlockend, dass sie am liebsten gejauchzt hätte. Doch sie biss sich auf die Lippen, weil sie ihn nicht verletzen wollte.

»Soll ich vor dir knien? Willst du, dass ich auf die Knie falle, damit du mich begleitest?«

Um Gottes willen!, dachte sie.

»Nein«, sagte sie ruhig. »Nein. Natürlich nicht. Mach dich bitte nicht zum Narren.«

»Das ist mir einerlei.«

»Aber mir ist es nicht egal.«

Sie starrten einander an, ohne sich wirklich zu sehen. Sie hörte mehr das Knirschen seiner Zähne, als dass sie die Kieferbewegungen sah.

Einer Eingebung folgend, versprach sie ihm: »Ich werde nachkommen, sobald ich alle wichtigen Dinge im Atelier geregelt habe.«

Er wirkte überrascht. Offensichtlich hatte er diese Idee noch gar nicht in Erwägung gezogen. Seine weiche Musikerhand umfasste ihren Oberarm mit einer Heftigkeit, die sie kurz aufkreischen ließ.

»Du tust mir weh!«

Doch er ignorierte ihren Protest.

»Du gehörst mir, Coco, nur mir! Schwöre mir, dass du deine Angelegenheiten so schnell wie möglich erledigen und nach Madrid nachkommen wirst! Schwöre es bei der heiligen Mutter Gottes.«

Sie schloss wieder ihre Augen. Vor ihren Lidern formte sich das Bild eines Fußbodens, gefertigt aus Flusssteinen.

Eins, zwei, drei, vier, fünf, zählte sie im Geiste. Sie dachte daran, dass sie eine Lüge beichten müsste, wenn sie morgen in die Kirche ginge. Dann sah sie wieder auf.

»Ich verspreche es dir.«