Kapitel 2

Es war abzusehen, dass sie spätestens binnen kürzester Zeit zum Gesprächsthema Nummer eins werden würden. Dimitri Pawlowitsch Romanow war viel zu bekannt, um sich mit Gabrielle zu zeigen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Die Klatschbasen kannten ihn aus den Gesellschaftsnachrichten, die amerikanischen Dollar-Prinzessinnen, die unbedingt echte Prinzessinnen werden wollten, umflatterten russische Aristokraten wie ihn wie die Motten das Licht, und sogar viele Männer wussten auf den ersten Blick, um wen es sich bei ihm handelte, weil Dimitri durch seine Beteiligung am Mord von Rasputin die mysteriöse Aura eines zweifelhaften Helden umgab. Bereits nach ihrem zweiten Abendessen im Ritz tratschte tout Paris über Gabrielle und Dimitri, was noch durch ein gesprächiges Zimmermädchen befeuert wurde, das erzählte, der Großfürst habe Mademoiselle Chanels Suite am Nachmittag betreten und erst am Vormittag des nächsten Tages wieder verlassen.

Gabrielle ignorierte das Getuschel im Restaurant ihres Hotels ebenso wie die neugierigen Blicke ihrer Kundinnen und Angestellten. Ihr war es schon immer gleichgültig gewesen, was die Leute über sie redeten. Irgendjemand zerriss sich ja immer den Mund über irgendetwas. Nun also war ihre Romanze mit Dimitri an der Reihe. Na, und?

Sie fragte ihn, ob es ihm etwas ausmache, dem Klatsch auf dem Silbertablett serviert zu werden.

»Nein.« Er lächelte sie an, stand von seinem Stuhl auf und legte zärtlich die Arme um ihre schmalen Schultern. Sie saßen gerade beim Frühstück in ihrer Suite, ein Serviertisch war ans Fenster gerollt worden, obwohl der Februar noch grau war. »Ich kenne keine Frau, mit der ich lieber gesehen werden möchte als mit Coco Chanel.«

Ihr Herzschlag machte unwillkürlich einen kleinen Sprung. Als er seine Stirn auf ihren Kopf lehnte, wagte sie eine Frage, die sie seit dem Vortag beschäftigte. Seit Misia sie daran erinnert hatte, dass an diesem Abend der Maskenball des Comte de Beaumont stattfand. »Hast du Lust auf einen großen Spaß?«

»Ja, natürlich. Immer.« Er drückte einen Kuss auf ihre Haare und richtete sich auf. »Worum geht es?«, fragte er sie auf dem Weg zurück zu seinem Sitzplatz.

»Um die Verteidigung meiner Ehre.«

»Werden Pistolen oder Degen benutzt?«

»Unsere Anwesenheit ist unsere Waffe.« Schmunzelnd fügte sie hinzu: »Sagt Misia.«

»Wenn deine Freundin das sagt, wird sie wohl recht haben«, räumte Dimitri ein, legte dann jedoch seine hohe Stirn in Falten und fragte verwundert: »Warum sagt sie das?«

»Ach, es ist eine lange Geschichte. Ein wenig albern vielleicht, und Misia fühlt sich mehr gekränkt als ich …«

Gedankenverloren zerkrümelte Gabrielle das Endstück ihres Croissants auf dem Teller. Plötzlich war sie nicht mehr so überzeugt, ob sie überhaupt gegen die gesellschaftliche Elite auftrumpfen wollte. Anders als Misia, war Gabrielle mit einem Mal verunsichert. War es wirklich richtig, einen Skandal zu provozieren, weil Coco Chanel in den Augen der exklusiveren Kreise eine kleine Modistin geblieben war? Eine einfache Frau, die trotz ihrer allgemein anerkannten Kreativität und modischen Innovationskraft weit unter erfolgreichen und gern gesehenen Geschäftsmännern wie Paul Poiret oder François Coty stand, sich erst recht nicht auf einer Ebene mit literarischen Genies oder Malerfürsten bewegte? Vor allem: Tat sie gut daran, Dimitri in eine so persönliche Angelegenheit hineinzuziehen? Doch da meldete sich ein Schelm in ihrem Kopf, der ihre Zurückhaltung und Verunsicherung in Trotz verwandelte und der durchaus bereit war, sich über althergebrachte Konventionen hinwegzusetzen – koste es, was es wolle.

Anfangs noch schüchtern, dann mit immer festerer Stimme erzählte sie Dimitri von dem Auftrag Edith de Beaumonts, einige Kostüme für deren alljährlichen Maskenball zu entwerfen. »Madame la Comtesse war sehr angetan von meinen Kleidern. Aber ihre Begeisterung reichte nicht aus, mir eine Einladung zu schicken. Misia fühlt sich durch diesen Snobismus persönlich beleidigt und hatte die Idee, heute Abend das Defilee zu stören. Dafür trommelt sie all unsere bekannten Künstlerfreunde zusammen. Und da ich sie nicht enttäuschen möchte, werde ich natürlich auch dabei sein.«

»Warum hast du nicht gesagt, wie wichtig es dir ist, zu diesem Fest zu gehen?« Er wirkte bestürzt. »Ich hätte uns eine Einladung besorgt, und dann …«

»Das ist gut gemeint, aber darum geht es nicht«, fiel sie ihm sanft ins Wort. »Es geht um meine Stellung, um meine Reputation als selbständige Frau. Ich dachte nur, du möchtest vielleicht dabei sein, wenn wir für einen Skandal sorgen.«

»Nun … ja … aber … ich …«, stammelte Dimitri, unterbrach sich dann jedoch. In seiner Verlegenheit und Hilflosigkeit wirkte er fast rührend.

Eine Weile lang schwiegen beide. Sie sah ihm an, dass er mit seinen Gedanken weit entfernt war. Viel weiter als sie, als sie eben im Stillen ihre Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, ihre Jugend im Kloster und die ersten Jahre im Tingeltangel mit dem luxuriösen, erfolgreichen Leben verglichen hatte, das sie heute führte. Das eine schien sich gesellschaftlich nicht mit dem anderen verbinden zu lassen. Dimitri kannte eine solche Situation nicht. Auch wenn er im Exil vom Geld anderer abhängig war, hatte er doch niemals seinen privilegierten Status verloren. Er konnte sie nicht verstehen, resümierte sie. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass sie ihn überhaupt mit dieser Sache behelligte. Warum erinnerte sie ihn an die Unterschiede in ihrer Herkunft? Wenn er sich jetzt daran störte und in Misia eine Randaliererin erkannte – was sie durchaus war –, wenn er jetzt also Misia wegen deren Vorhabens verurteilte und sich weigerte, den sogenannten Spaß mitzumachen, müsste sich Gabrielle wohl von ihm trennen. Dabei genoss sie die Zeit mit ihm. Wie dumm von ihr, die Sache anzusprechen.

Schweigend wartete sie auf seine Antwort – und auf das Ende ihrer erst seit ein paar Tagen bestehenden Beziehung, die ihren Höhepunkt in dem bevorstehenden Urlaub an der Riviera finden würde.

Er sah ihr lange in die Augen. Dann sagte er zu ihrer größten Überraschung: »Ich weiß, wie man sich als Ausgestoßener fühlt.« Nach einem kurzen Moment des Zögerns fuhr er fort: »Als Felix Felixowitsch Jussupow Mitstreiter für die Ermordung des Wanderpredigers Rasputin suchte, war ich von Anfang an dabei. Wie er sah ich den einzigen Ausweg, die einzige Möglichkeit zur Rettung Russlands in Rasputins Tod. Dieser Mann übte einen fatalen Einfluss auf meine Tante, die Zarin, aus und fügte unserem geliebten Land einen immensen Schaden zu. Die Zarin war natürlich außer sich und forderte unsere Hinrichtung. Nach den damaligen Gesetzen durften aber weder Mitglieder der Zarenfamilie noch andere Großfürsten überhaupt verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Jussupow wurde auf den feudalen Landsitz seiner Familie in Südrussland verbannt, nach der Abdankung des Zaren kehrte er jedoch nach Petrograd zurück und schaffte es sogar, Juwelen und wertvolle Gemälde mit ins Exil nach London zu nehmen, so dass er als einer der wenigen Exilanten keine finanziellen Probleme hat. In London lässt er sich heute als Mörder von Rasputin feiern.«

Sein Ton wurde hart, und Gabrielle hielt den Atem an, weil sie bereits ahnte, was nun kam: »Mir erging es anders. Obwohl ich ein direktes Mitglied der Zarenfamilie bin, wurde ich vor Gericht gestellt und verurteilt. Auf die Todesstrafe wurde verzichtet, weil Rasputins Ende vom Volk gefeiert wurde. Dennoch dachte ich damals, eine Hinrichtung wäre besser als der Kerker. Niemand konnte die Zarin umstimmen. Mit mir wurde wie mit jedem anderen Mörder umgegangen. Dabei habe ich persönlich Rasputin nicht einmal ein Haar gekrümmt. Ich habe Wache für meine Freunde geschoben. Dennoch wurde nur ich zum Aussätzigen meines gesellschaftlichen Standes.« Ein bitteres Lächeln umspielte seine Züge. »Letztlich war etwas Gutes an der Sache: Irgendwann bekam ich eine Hafterleichterung und wurde ohne Privilegien in den unteren Dienst eines Regiments nach Persien versetzt. Das rettete mein Leben. Ich war zu weit weg, um in das Visier der Bolschewiki zu geraten. Die Roten erschossen meinen Vater und meinen Halbbruder, während ich nach Teheran floh. Den Rest der Geschichte kennst du. Nun bin ich hier und …« Er unterbrach sich, schluckte und fügte hinzu: »… und bin zutiefst dankbar, dass ich dir begegnet bin.«

Sie nickte stumm. Den Todesstoß hatte er ihrer Affäre noch nicht versetzt. Immerhin. Ihre Finger schlossen sich um seine Hand, die er ihr über den Tisch hinüberreichte.

»Selbstverständlich werde ich dich heute Abend begleiten. Ein Romanow hat sich noch nie vor einem Duell gedrückt, einerlei, welche Waffen dafür gewählt wurden. Wir Russen haben dafür ein Sprichwort: Das Risiko ist eine edle Sache. Also, Coco, sorgen wir für einen Skandal.«

Jetzt werden die Klatschmäuler noch mehr zu reden haben, fuhr es Gabrielle durch den Kopf. Der Skandal war gewiss. Sie spürte, wie ihr ganzer Körper von einem vergessenen Glücksgefühl erfüllt wurde.

* * *

Die Wagenschlange bewegte sich im Schritttempo durch die Rue Pierre Demours bis vor den Eingang des Château des Ternes, die Kolonne begann bereits in der Avenue des Ternes und verstopfte alle Nebenstraßen im vornehmen Teil des 17. Arrondissements. Limousinen und Cabriolets reihten sich Stoßstange an Stoßstange und spuckten unter dem runden Portal des im Glanz Dutzender Fackeln und Kerzen erleuchteten mittelalterlichen Palastes sowohl Mitglieder der Hautevolee als auch berühmte Bohémiens aus. Hupen, das dumpfe Zuschlagen der Autotüren und Stimmengewirr erfüllten die Straßen, noch war das Gelächter albern, es würde erst mit zunehmendem Champagnerkonsum hysterischer werden. Aus einem der hohen Fenster, das man geöffnet hatte, wehten die Rhythmen eines schmissigen Jazz-Songs heraus. Als der Chauffeur der Serts wie die anderen Fahrer vor dem Tor hielt, eilten sofort als Hofpagen gekleidete Diener herbei, um den Schlag zu öffnen.

»Ihre Einladung, bitte«, wandte sich einer der jungen Männer mit einem höflichen Kratzfuß an José, nachdem dieser ausgestiegen war.

»Wir haben keine«, flötete Misia. Sie sprach so laut, dass die geladenen Gäste, die sich ebenso in einer geschlossenen Reihe ins Haus bewegten wie ihre Automobile davor, jedes Wort verstehen mussten.

»Sind das nicht Misia und José Sert?«, flüsterte eine aufgeregte Frauenstimme in der Nähe.

»Hallo Misia, trinken Sie nachher ein Glas Champagner mit mir?«, rief eine andere.

»Ich darf Sie ohne Einladung nicht einlassen, Madame.« Ganz offensichtlich fühlte sich der junge Mann überfordert. Edith de Beaumont hatte ihren Dienern wohl höfisches Benehmen beizubringen versucht, sie jedoch nicht für die Impertinenz einer rachsüchtigen Misia Sert gewappnet. »Verzeihen Sie, Madame, ich habe meine Anweisungen.«

»Das wissen wir«, beschwichtigte José. »Wir feiern lieber mit den Chauffeuren auf der Straße.«

Während der arme Page nach Luft schnappte, stieg Gabrielle aus dem Wagen. Sie blickte sich kurz um, registrierte, dass man sie nicht sofort erkannte, und war ein wenig enttäuscht. Einen Atemzug später fragte sie sich jedoch, ob diese Unsichtbarkeit nicht angenehmer war als immerwährende Popularität. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass Misia in Paris so bekannt war wie der Obelisk auf der Place de la Concorde. Und für den geplanten Skandal war Misias Berühmtheit zweifellos von Bedeutung.

Jeder der Gäste, der auch nur ansatzweise den Dialog zwischen Misia und dem Diener mitbekommen hatte, drehte den Kopf zu ihr. Erstauntes Gemurmel erhob sich. Es war wie eine Kettenreaktion. Kaum begannen die Damen und Herren, die am nächsten zum Eingangsportal auf die Honneurs des Comte und der Comtesse warteten, zu tuscheln, setzten sich Verwunderung und Mutmaßungen zu den weiter entfernten Herrschaften fort. Als nach Gabrielle auch Dimitri aus dem Wagen stieg und zielstrebig auf eine Gruppe von Chauffeuren zusteuerte, die sich am Rande des Geschehens versammelten, schwoll das Raunen wie der leise Donner vor einem Gewitter an.

»Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?«, fragte er den Fahrer von Madame de Noailles.

Gabrielle erkannte den Diener, weil Madame eine Förderin von Jean Cocteau war und ihren Protegé gelegentlich in ihrem Automobil durch Paris fahren ließ. Sie würde sich wundern, wenn sie erfuhr, dass Cocteau heute Abend Misias Einladung gefolgt war und nicht der Étienne de Beaumonts.

Nachdem er diesen und einen anderen Chauffeur versorgt hatte, reichte Dimitri mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen Gabrielle die Zigarette, die er eben angezündet hatte. Dann ließ er erneut ein Streichholz aufflammen. Nach einem tiefen Zug Nikotin neigte er sich zu ihr und flüsterte: »Schau dich um, es scheint zu funktionieren.«

Misia stand zwischen den Dienstboten wie eine Adelige aus einem Roman von Balzac. Schön, selbstbewusst und unerschütterlich. Daneben José Sert, der sich aus ihrem Schatten löste, um mit viel Bohei Pablo Picasso zu begrüßen. Dieser spielte mit, was für die Umstehenden fast so erheiternd wie eine Komödie von Molière war. Das Defilee ging nur noch langsam voran. Die meisten Gäste fühlten sich auf der Straße offensichtlich besser unterhalten als im Ballsaal des Châteaus. Auch Gabrielles Freunde schienen sich bestens zu amüsieren, sogar Dimitri an ihrer Seite genoss den Rollentausch. Er wirkte ausgelassen wie ein kleiner Junge, der Spaß daran hat, etwas Verbotenes zu tun.

Still beobachtete sie. Ihr fielen unter den Ankommenden alte Freunde von Boy auf, die sie allerdings nur flüchtig und vom Sehen kannte. Die schönen Frauen, die am Arm dieser wohlhabenden Herren hingen, hatte sie auch schon gesehen, aber niemals kennengelernt. Boy hatte sie von jeglichem Umgang mit den Lebemännern und ihren Kokotten ferngehalten.

»Sie sahen sympathisch aus. Warum laden wir sie nicht ein?«, fragte Gabrielle, während sie neben Boy am Fluss entlangschlenderte. Beim Verlassen des Maxim’s waren sie einem Paar begegnet, das sich offensichtlich mehr über das Wiedersehen freute als ihr Begleiter. Boy nahm Gabrielles Hand und stürzte nach einem knappen Gruß fast fluchtartig in die Rue Royale. Schweigend zerrte er sie über die Place de la Concorde und ans Ufer der Seine, wo er seine Schritte endlich verlangsamte.

»Das werden wir niemals tun!«

Sein harscher Ton überraschte sie. »Warum nicht?«

»Weil du keine von denen bist.«

»Diese Frau ist viel hübscher als ich«, sagte sie.

»Das mag sein, aber für mich gibt es nichts Schöneres als dich. Und außerdem solltest du keinen Kontakt zu Kokotten pflegen, denn wir werden heiraten …«

Er hatte sie nicht geheiratet, und die Kokotten würden am Ende des Begrüßungsreigens im Château des Ternes von den Gastgebern mit Luftküsschen empfangen werden, ihre Schneiderin jedoch war ausgeschlossen. Eine Schneiderin, deren »perfekter Geschmack« erst kürzlich von der Vogue ausdrücklich gelobt worden war. Gabrielle spürte, wie Galle in ihrer Kehle aufstieg.

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Dimitri. Er diskutierte lebhaft mit zwei Chauffeuren die Vorzüge verschiedener Automarken, als wäre er einer der Ihren. Immer wieder sahen die vornehmsten Leute erstaunt zu ihm hin. Der Großfürst machte sich zum Narren. Gar keine Frage. Für mich, dachte Gabrielle. Er tut es für mich. Für die kleine Midinette, die nicht fein genug war, um in der besseren Gesellschaft von Paris feiern zu dürfen. Wieder erfüllte diese Wärme ihren Körper, ihr Herz, wenn sie sich nur seine Zuneigung vergegenwärtigte.

Dimitri hatte ihren Blick wohl gespürt, denn er wandte sich mit einem strahlenden Lächeln ihr zu. »Geht es dir gut?«

»Ich weiß es nicht.« Sie gestand ihm nicht, wie sehr sie bedauerte, in diesem Moment, wie so oft, für ihre Umgebung unsichtbar zu sein. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie wünschte, dass es anders wäre. Aber selbst die Damen, die ihre Kundinnen waren, schienen sie nicht zu erkennen. »Ich würde gern etwas trinken.«

Einen Moment lang zögerte Dimitri. Er sah tief in ihre Augen, als läse er in einem Buch. Dann wandte er sich um und rief über die Menge: »Champagner! Kann ich hier irgendwo ein Glas Champagner für Mademoiselle Coco Chanel bekommen?«

»Oh! Ah!« Wieder ging ein Raunen durch die Gäste. Alle Augen schienen sich auf Gabrielle zu richten. Erstaunte Blicke flogen ihr zu. Sie vernahm Verwunderung, als einige Damen mehr oder weniger laut wisperten: »Mademoiselle Chanel macht so elegante Kleider … Wieso hat man sie nicht eingeladen? Ist Coco Chanel jetzt etwa tatsächlich mit dem Großfürsten liiert? Mon dieu, ist das alles peinlich!«

Am liebsten hätte Gabrielle der Dame, deren Stimme sie zwar hörte, die sie aber nicht sehen konnte, zugerufen, dass sie absolut recht hatte. Es war alles schrecklich peinlich. Für Gabrielle. Für die anderen Gäste. Hauptsächlich aber wohl für den Comte und die Comtesse de Beaumont. Insofern war Misias Plan aufgegangen.

Trotz ihrer Irritation ob des Ganzen begann sich Gabrielle schließlich zu amüsieren. José hatte vorgesorgt und ließ nun mitten auf der Straße eisgekühlten Champagner servieren, der im Kofferraum seines Automobils gelagert war. Es wurde ein ausgesprochen heiterer Abend. Besser noch war, dass sich einige der geladenen Gäste zu den Randalierern gesellten und mit diesen, den noch dazuströmenden Bohémiens und den Chauffeuren ausgelassen feierten. Immer mehr Fenster öffneten sich über ihnen, und immer mehr Zuschauer beobachteten, wie Gabrielle zuerst mit Jean Cocteau und dann mit Picasso im Lichtschein der Scheinwerfer zu der aus dem Ballsaal wehenden Musik Charleston tanzte. Später wirbelte sie in Dimitris Armen über das Straßenpflaster. Obwohl es eine für die Jahreszeit warme Nacht war und trotz der Ausgelassenheit und Aufregung, fröstelte sie irgendwann.

»Es wird Zeit, dass wir in den Süden fahren«, raunte sie in sein Ohr.

Er zog sie fester an sich.

Das war ihr Antwort genug.