Jedes Mal, wenn Misia das Haus Rue La Boétie 23 betrat, war sie erstaunt über die Verwandlung, die mit Pablo Picasso geschehen war. Seine Wohnung war nicht mehr zu vergleichen mit dem leicht verwahrlosten Atelier eines aufstrebenden Künstlers mit wechselnden Liebesaffären und diskutierfreudigen, mehr oder weniger erfolgreichen und finanziell unzuverlässigen, manchmal glücklosen Freunden – es war die herrschaftliche Residenz eines Malerfürsten. Sein Galerist und Förderer Paul Rosenberg hatte das neue Domizil vor drei Jahren in der Nähe seiner Galerie gemietet. Es war eine Art Hochzeitsgeschenk, ein Symbol für den Beginn von Picassos neuem Leben als Ehemann der schönen Olga.
Seiner großen Produktivität hatte die Veränderung seiner Wohnsituation nichts anhaben können. Anders verhielt es sich mit Picassos Privatleben, das inzwischen für allerlei Klatsch sorgte: Es hieß, dass sich der Künstler von seiner Frau zu entfremden begann. Vielleicht lag das an dem Ehepaar Murphy aus New York, das kürzlich zu der Clique gestoßen war, denn besonders Sara Murphy schien Picasso zu vereinnahmen. Möglicherweise war sein Verhalten aber auch die Folge von Olgas Schwangerschaft. Anfang des Monats hatte sie nun einen Sohn geboren, der das Glück des jungen Ehepaares vervollkommnen sollte, aber die Freunde waren uneins, ob ein Säugling im Haushalt für noch größere Entfremdung sorgen oder tatsächlich unvermutete Gefühle in dem als rücksichtslos bekannten Picasso wecken würde.
Misia sah es als ihre Pflicht, sich persönlich von der Stimmung zu überzeugen; außerdem wollte sie dem Neugeborenen einen Willkommensbesuch abstatten.
Ein Hausmädchen öffnete Misia die Tür und nahm ihr den Mantel ab.
Beladen mit unzähligen Päckchen, Geschenken für Olga und den kleinen Paulo, folgte sie der Angestellten in einen Salon, in dem die Wöchnerin Hof hielt. Anders konnte Misia es kaum bezeichnen, denn die Ballerina versank nicht nur in einem Aufbau aus Seidenkissen, sondern ließ sich auch in eine dramatische Mutterrolle fallen.
Olga Picasso thronte auf einer Chaiselongue, anmutig, bleich, erschöpft, doch mit glänzenden Augen. Sie hob kaum ihre kleine weiße Hand zum Gruß, beschrieb mit den Fingern eine Art Winken und deutete dann auf den Stubenwagen in der Ecke neben dem Kamin.
Das dort knisternde Feuer warf Schatten auf die weiße Spitzenbettwäsche und das kleine Gesichtchen des Kindes. Das Baby war nach russischer Tradition eng in Stoffbahnen eingewickelt und erinnerte an eine Matroschkapuppe. Misia wusste, dass man Säuglinge in Frankreich anders bettete, und fragte sich, ob der Kleine nicht schrecklich schwitzte. Sie sah nur seine geschlossenen Lider und zarten Wangen, die im Licht der Flammen rosig wie andalusische Orangen schimmerten.
»Ein ganz bezaubernder kleiner Kerl«, lobte Misia pflichtschuldig. Sie konnte viel zu wenig von dem Baby sehen, um dies wirklich beurteilen zu können.
Nervös sah sie sich nach einem Tisch um, auf dem sie ihre Mitbringsel ablegen konnte. Schweiß brach ihr aus allen Poren. Ihr war zu warm in dem überheizten Raum. Doch der einzige Tisch diente als Ablagefläche für allerlei persönliche Utensilien wie eine kleine Ikone und ein Buch, zudem für Kindersachen. Nachdem sie die Päckchen endlich in einem Sessel deponiert hatte, zog sie sich seufzend den Schal vom Hals und wandte sich wieder der jungen Mutter zu.
»Finden Sie nicht, dass Paulo der hübscheste kleine Junge der Welt ist?«, fragte Olga.
»Natürlich ist er das«, versicherte Misia.
»Er ist wunderschön«, fuhr Olga fort, als habe sie Misias Bestätigung nicht gehört, »und er wird bestimmt einmal ein kluger Kopf. Er sieht schon jetzt sehr intelligent aus, nicht wahr?«
»Ja, Olga.«
»Wenn Sie seine Hände sehen könnten, wüssten Sie, dass ein großer Künstler aus ihm werden wird. Mit diesen Händen muss er malen oder dirigieren. Nun, die Kreativität hat er natürlich im Blut.«
Misias Unruhe wuchs. Sollte sie lieber gehen? Sie fühlte sich nicht willkommen. Die Unterhaltung verlief etwas einseitig, aber das war sie von Olga Picasso eigentlich gewohnt. Misia hätte sich gern hingesetzt, aber die junge Mutter vergaß anscheinend, ihrer Besucherin einen Platz anzubieten. Viele Möglichkeiten gab es dazu auch nicht in diesem Zimmer. Über den zweiten Sessel war so geschickt ein Negligé geworfen worden, dass es ein Stillleben aus einem Gemälde von Renoir hätte sein können. Und Misia kannte sich mit Bildern von Auguste Renoir aus – in ihrer Jugend war sie von ihm portraitiert worden. Damals wäre sie allerdings ebenso ungehalten darüber gewesen, sinnlos herumstehen zu müssen, wie heute.
Ungeduldig marschierte sie zum Fenster, nahm die Bücher von dem Stuhl, der dort stand, und legte sie in den Sessel zu ihren Geschenken. Dann schob sie die Sitzgelegenheit neben Olgas Lager und ließ sich darauf nieder.
»Ich hätte nie für möglich gehalten, dass man ein kleines Wesen so lieben kann. Sie haben keine Kinder, deshalb können Sie sich gewiss nicht vorstellen, was in einer Frau nach einer Geburt vor sich geht …«
Entschlossen wechselte Misia das Thema: »Wie geht es Pablo?«
»Paulos Vater?« Olga wirkte kurz irritiert, als müsste sie sich erst daran erinnern, dass es sich bei ihm um ihren Ehemann handelte. »Ich sehe ihn nur selten. Die meiste Zeit verbringt er mit Malen oder mit seinen neuen Plastiken. Er experimentiert mit der Bildhauerei. Ich weiß eigentlich gar nicht, wie es ihm geht. Vermutlich weiß Sert besser über Pablos Zustand Bescheid als ich.«
Den Unterton, der Olgas Worte begleitete, konnte Misia nicht zweifelsfrei einordnen. Klang die andere verletzt, beschämt oder verärgert? Jedenfalls stimmten die Gerüchte wohl, dass sich Pablo Picasso von seiner Frau entfremdete. Neulich Abend vor dem Château des Ternes hatte er auch eher abwehrend auf Misias Frage nach Olga reagiert. Mitleid für die schöne Russin wallte in ihr auf. Auch wenn die Inszenierung der Wöchnerin ein wenig übertrieben schien, war die Szenerie doch kein Grund für den frischgebackenen Vater, Olga zu ignorieren.
»Ich bin sicher, Pablo muss sich erst an die neue Situation gewöhnen«, versuchte Misia zu trösten. »Männer tun sich manchmal schwer mit ihrer neuen Rolle als Vater.«
»Sie müssen es ja wissen«, zischte Olga.
Sie würde Djagilew, dem engsten gemeinsamen Freund, sagen, dass sie ihr Möglichstes versucht hatte, aber an Olgas Starrsinnigkeit gescheitert war. Und wenn Olga mit Picasso ebenso umging, konnte Misia ihm eigentlich nicht verdenken, dass er mehr Zeit mit seiner Arbeit als mit Frau und Kind verbrachte. Sie entschied, in spätestens fünf Minuten aufzubrechen. Ja, fünf Minuten wollte sie noch bleiben. Das sollte reichen. Dann hatte sie ihre Schuldigkeit getan.
In einem letzten Versuch, Olga auf andere Gedanken zu bringen und die verbleibende Zeit ein wenig amüsanter zu verbringen, begann Misia die Unglückliche mit dem neuesten Klatsch zu versorgen: »Coco Chanel will mit ihrem neuen Freund an die Riviera verreisen …«
»Ich dachte, Strawinsky toure durch Spanien«, unterbrach Olga.
»O nein«, Misia lachte, »Strawinsky hat sie abgelegt. Sie werden nicht glauben, wer ihr neuer Freund ist.«
Olga wirkte alarmiert. »Picasso?«
»Natürlich nicht, Schäfchen. Nein. Nicht Picasso. Ich hoffe sehr, dass Sie wüssten, wenn Ihr Mann mit einer anderen Frau in aller Öffentlichkeit poussierte.« Misia fragte sich, ob die Schweißperlen, die ihren Nacken hinabrannen, nur durch das heiße Raumklima zu erklären waren. »Nein, meine Liebe. Coco ist mit Großfürst Dimitri Pawlowitsch Romanow unterwegs. Ganz Paris spricht darüber.«
»Oh!«, machte Olga, endlich beeindruckt.
Misia war über diese Reaktion sehr zufrieden, endlich war sie in ihrem Element. »Seit einer Woche zeigen sie sich in der Öffentlichkeit. Sie dinieren gemeinsam im Ritz, und natürlich weiß jeder, dass die Abende nicht nach dem Dessert enden. Und bei dem kleinen Skandal zu Ehren des Comte de Beaumont war er auch zugegen.«
Olga erkundigte sich nicht nach dem Skandal, sie schien sich mehr für einen anderen Aspekt der Geschehnisse zu interessieren: »Ich dachte, Consuelo Vanderbilt würde die Scheidung vom Herzog von Marlborough so energisch vorantreiben, weil sie mit Seiner Hoheit zusammen sei. An der Affäre ihres Mannes kann dieser Ehrgeiz ja kaum liegen.«
Die letzte Bemerkung empörte Misia, aber sie widersprach Olga nicht. Sie war eine Verfechterin von klaren Verhältnissen. Das hatte sie in ihrer ersten Ehe ebenso gehalten wie bei der Trennung von ihrem zweiten Mann. Dreiecksbeziehungen lagen ihr nicht. Deshalb war sie auch so vehement gegen das Verhältnis ihrer Freundin Coco mit Strawinsky.
Mit einer gewissen Zufriedenheit in der Stimme verkündete sie: »Nein, nein, nein. Dimitri Pawlowitsch ist ein freier Mann, der tun und lassen kann, was ihm beliebt. Und Consuelo Vanderbilt – oder besser: Lady Spencer-Churchill – hat ohnehin bereits ein Auge auf Louis-Jacques Balsan geworfen.«
Sie fügte nicht hinzu, dass es sich bei der neuen Liebe der bekannten amerikanischen Multimillionärin um den Bruder von Étienne Balsan handelte. Die Welt, in der wir leben, ist so klein, sinnierte sie. Und dann kam ihr ein Gedanke: Wusste Strawinsky eigentlich schon, dass er Coco an einen unverheirateten Großfürsten verloren hatte?
»Consuelo Vanderbilt hat also ein Auge auf Louis-Jacques Balsan geworfen«, wiederholte Olga seufzend. »Ach, seit ich im Kindbett liege, erfahre ich nichts mehr. Gar nichts. Wissen Sie, wie die Tournee durch Spanien läuft? Ich hoffe so sehr, dass Djagilew, Strawinsky und die Compagnie Triumphe feiern.«
Bestürzt sah Misia sie an. Hatte sie ihre Überlegungen zu Strawinsky laut ausgesprochen? Wenn ja, war sie damit gewiss zu voreilig gewesen. Olga oder Pablo Picasso sollten keinesfalls diejenigen sein, die tout le monde über Cocos neue Liebe informierten. Das charmante Ausplaudern von Vertraulichkeiten übernahm sie lieber selbst. Gerüchte verbreiteten sich so rasch – und Misia hasste nichts so sehr, wie eine Rolle im Hintergrund des Geschehens zu besetzen. Immerhin hielt Olga sie für so bedeutsam, sich bei ihr nach dem Erfolg der Tournee zu erkundigen.
»Ja, sie werden wohl von Applaus zu Applaus getragen«, erwiderte sie.
»So groß ist der Beifall? Wie schön.«
Misia hörte nicht mehr zu. Die Unterhaltung mit Olga begann sie zu langweilen. Wieder brach ihr der Schweiß aus. Sie entschied, dass sie ihrer Schuld Genüge getan hatte.
In einem Anfall von Warmherzigkeit ergriff sie Olgas überraschend kalte Hand. »Meine Liebe, ich sollte jetzt gehen.«
»Versprechen Sie, dass Sie wiederkommen und Paulos Entwicklung anschauen werden? Unser Sohn macht täglich Fortschritte, müssen Sie wissen.«
Statt einer Antwort schenkte Misia ihr ein strahlendes Lächeln und einen liebevollen Händedruck. Mehr war sie ihr nicht bereit zuzugestehen. Dann verließ sie die Wohnung in einem Tempo, das eher an eine Flucht erinnerte als an den Abschied von einer guten Bekannten.
Auf der Straße angekommen, atmete sie die feuchte Winterluft tief ein. Nach dem überhitzten Zimmer erschien ihr die Kälte unfassbar angenehm. Sie hakte nicht einmal ihren Pelzmantel zu und ließ den eisigen Wind unter ihre Kleidung fahren. Hinter ihrer Stirn löste sich ein Spannungskopfschmerz, der wie ein eisernes Band um ihren Schädel gelegen hatte. Erleichtert, Olga Picassos beklemmender Gesellschaft entronnen zu sein, stieß sie die eingesogene Luft wieder aus und beobachtete, wie ihr warmer Atem zu kleinen Wölkchen kondensierte.
Eine Weile spazierte sie durch das 8. Arrondissement mit seinen schönen Sandsteinbauten, das so stark durch die Arbeit des Stadtplaners Georges-Eugène Haussmann geprägt war und an dem sie sich niemals sattsehen konnte. Schließlich entdeckte sie das gelb-blaue Schild eines Postamtes.
Es schien ihr, als sei sie nicht mehr Herrin ihres Handelns. Sie bewegte sich wie von fremder Hand gesteuert, konnte sich ihr Vorhaben nicht erklären. Sie wusste nur, dass sie etwas unternehmen musste, um zu beenden, was sie für eine Sünde hielt. Damit täte sie allen Beteiligten nur Gutes.
Ohne diese Betrachtung weiter zu hinterfragen, bat sie am Schalter um ein Telegrammformular und um einen Stift. Der Platz an dem für Kunden reservierten Stehtisch wurde gerade von einem Mann mittleren Alters geräumt, so dass sie sich dort unverzüglich ausbreiten konnte.
Misia trat an das Pult, legte den Vordruck vor sich hin, schob ihre Handtasche vom Handgelenk hinauf zum Ellenbogen ihres linken Arms, um sich besser aufstützen zu können. Dann schrieb sie:
Coco Chanel sind Großfürsten lieber als Künstler!
Sie wandte sich rasch um, damit sie es sich nicht anders überlegte, und lief wie von Verfolgern getrieben zu dem Schalter. Dabei drängte sie eine empört protestierende Frau zur Seite, die eigentlich zuerst an der Reihe gewesen wäre.
»Entschuldigen Sie, es ist ein Notfall«, behauptete sie und fand, dass dies eigentlich keine Lüge war.
»Kabeln Sie diese Nachricht bitte unverzüglich an das Palace Hotel in Madrid«, sagte sie zu dem Postbeamten. »Zu Händen von Monsieur Igor Strawinsky.«