»Ernest Beaux feierte seinen ersten Erfolg mit dem Herrenparfüm Bouquet de Napoléon«, sagte Dimitri. »Als junger Kadett habe ich diesen Duft nach Kölnisch Wasser, in dem Blüten aufgekocht werden, sehr geliebt. Ich nahm es zu den Olympischen Spielen nach Stockholm mit, wo ich zur russischen Reiterequipe gehörte. Dann kam Bouquet de Catherine auf den Markt, und ich liebte es noch mehr, weil es nach meiner Heimat roch und nach meiner Tante, die für mich wie eine Mutter war.«
Dimitri erzählte Geschichten, die Gabrielle bereits kannte, aber das störte sie nicht. Er bemerkte ihre Unruhe, und sie wusste, dass er ihr mit seinem Gerede über die Aufregung hinweghelfen wollte, die angesichts des bevorstehenden Besuchs im Laboratorium von Ernest Beaux immer stärker wurde. Es ist nur ein chemisches Labor, sagte sie sich still. Nichts Bedeutsameres als die Parfümfabrik von François Coty in Suresnes.
Unabänderlich bohrte sich jedoch eine Frage in ihr Hirn: Was sollte sie tun, wenn sie bei Ernest Beaux wieder nicht fände, wonach sie suchte? Sollte sie den Traum von diesem ganz besonderen Parfüm aufgeben? Dem Duft ihrer großen Liebe? Es war die letzte Idee gewesen, die sie und Boy geschmiedet hatten. War nun das Ende ihrer gemeinsamen Pläne gekommen? Der Moment, der ihren Verlust für immer besiegelte? Gabrielle überlegte, wovor sie sich mehr fürchtete: vor einer Niederlage bei ihrer Suche nach dem Duft selbst oder vor der endgültigen Aufgabe ihres Herzensprojekts? Sie fand keine Antwort.
»Zut!«, entfuhr es Dimitri. »Ich habe mich verfahren. Wir sind bereits am Gelände des Aéroclub de Cannes, und das ist zu weit. Ich muss die Abbiegung verpasst haben.«
Begütigend legte sie ihre Hand auf seinen Arm. »Das macht doch nichts. Dann fahren wir eben zurück.«
Nach einem weiteren Fehlversuch fanden sie das Laboratorium. Es befand sich in einem unscheinbaren kleinen Haus in La Bocca, das nicht annähernd Ähnlichkeit mit dem imposanten Bau besaß, in dem die Fabrik von François Coty untergebracht war.
»Du hättest die Fabrik von Rallet in Moskau sehen sollen«, meinte Dimitri betrübt, »die war riesig, kein Vergleich zu diesem kleinen Betrieb. Ich verstehe ja, dass Chiris Rallet gekauft hat, aber ich verstehe nicht, wieso man das Laboratorium in einem so unscheinbaren Gebäude unterbrachte. Wie können an diesem Ort Parfüms von Weltruhm entstehen? Hoffen wir, dass der Laden in Grasse ein wenig größer ist.«
Kopfschüttelnd folgte er Gabrielle in das Innere, dem es ebenso an jeglichen Attributen der glorreichen Vergangenheit zu fehlen schien.
»Léon Chiris war ein großer Mann in der Parfümherstellung und ein bedeutender Politiker«, verteidigte sie ihren Landsmann. »Ich bin sicher, dass sein Werk in Grasse andere Dimensionen hat.« Insgeheim wunderte sie sich allerdings auch über die Beschaulichkeit hier in La Bocca.
Im Eingangsbereich hing ein kleines Gemälde, vor dem Dimitri wie angewurzelt stehen blieb. »Siehst du!«, sagte er nur, und ihr war klar, dass dieses Bild ein Kapitel aus der ruhmreichen Geschichte seiner Familie zeigte.
Es war darauf ein riesig wirkendes Industriegelände zu sehen, im Vergleich zu dem sogar Cotys Reich überschaubar wirkte. Dutzende mehrstöckige Gebäude umgaben eine überdimensionierte Fabrikhalle, die als Quadrat um einen Innenhof erbaut worden war. Die dreistöckige Fassade war klassizistisch und offenbar weiß getüncht, der Rest des Gebäudes ebenso wie der in den Himmel ragende Schlot aus Backstein. Das Gelände umgaben gepflegte Gartenanlagen, und zu einer Seite hin ein dicht mit Bäumen bepflanzter Park, die Rasenflächen erinnerten an Ornamente zwischen breiten Wegen und hätten ebenso gut nach Versailles gepasst.
Wenn alles so gewaltig war im alten Russland, musste sich Dimitri in der Emigration wie in einem Puppenhaus fühlen, fuhr es ihr durch den Kopf. Hatte er sich deshalb eine so zierliche Frau, wie sie es war, ausgesucht? Als sie bei dem Gedanken schmunzelte, fühlte sie plötzlich seinen Blick auf sich gerichtet. Sie sah ihm in die Augen, und ihr Lächeln spiegelte sich darin wider.
Dieser stille, einvernehmliche Moment wurde von Ernest Beaux unterbrochen, der Dimitri mit den üblichen Ehrerbietungen begrüßte, die Gabrielle inzwischen gewohnt war.
Der Parfümeur war ein attraktiver Mann von etwa vierzig Jahren mit dichtem schwarzen Haarschopf, ein so dunkler Typ, dass er ihr Bruder hätte sein können, geschmeidig, höflich, offenbar von schneller Auffassungsgabe. Sein Anzug hatte gewiss bessere Zeiten gesehen, aber der größte Teil davon wurde von einem vorbildlich weißen Kittel bedeckt. Gabrielle fasste auf den ersten Blick Vertrauen zu Ernest Beaux. Er schien genau zu wissen, was er tat, und als er sagte, er habe aufgrund der Informationen, die er ihrer umfangreichen Korrespondenz entnommen hatte, einige Proben erstellen können, hatte sie das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
Beaux führte die Besucher in das Laboratorium. Es war ein langgestreckter Raum, in dem die Farbe Weiß vorherrschte. Die Wände, an denen sich weiße Regalreihen entlangzogen, waren weiß gekalkt, sogar die Holzbalken an der Decke waren weiß gestrichen. In den offenen Schränken und einer Glasvitrine standen dicht an dicht braune und weiße Apothekerflaschen und Metall- und Porzellandosen, in denen anscheinend Essenzen und Blüten aufbewahrt wurden, jedes Gefäß war mit einem Etikett versehen. Ein langer Refektoriumstisch aus hellem Holz füllte die Mitte des Raumes. Glasflaschen in verschiedenen Größen, Phiolen, Becher, Dosierzylinder und Rundkolben standen ordentlich gruppiert auf dem Tisch, in der Mitte fand eine altmodische Tafelwaage Platz. Die Sauberkeit fiel Gabrielle ebenso auf wie bei ihrem ersten Besuch bei Coty. Auch hier hätte sie sich in einem Krankenhaus wähnen können, wäre da nicht dieser leichte Blütenduft, der in der Luft hing. Zwei Assistenten, ein Mann und eine junge Frau, standen an einem in der Seitenwand eingelassenen Waschbecken und diskutierten lebhaft ein anscheinend komplexes Problem. Als ihr Chef mit seinen Gästen eintrat, verstummten die beiden und nickten höflich zur Begrüßung. Dann wandten sie sich wieder ihren Handgriffen zu.
»Kommen Sie, bitte, Mademoiselle Chanel.« Beaux führte sie an das andere Ende des Raumes zu einem Beistelltisch, auf dem Reagenzgläser in einem Ständer aus Metall auf sie warteten. »Ich habe zehn Proben für Sie vorbereitet. Zwei mal fünf …«
Gabrielle stutzte. Wieso nannte er die Zahl, die sie auf mystische Weise durch ihr Klosterleben begleitet und es auf gewisse Weise erträglicher gemacht hatte? »Oh!«, entfuhr es ihr, mehr sagte sie nicht.
»Hier finden Sie die Proben eins bis fünf und hier Nummer zwanzig bis vierundzwanzig«, der Parfümeur deutete auf die jeweiligen Fläschchen. Plötzlich verlegen, streckte er seine Hand in ihre Richtung aus. »Ich habe ganz vergessen, Ihnen den Mantel abzunehmen. Der Besuch von Seiner Hoheit und Ihnen, Mademoiselle, ist sehr aufregend für mich. Verzeihen Sie mir.«
»Kümmern Sie sich bitte nur um Mademoiselle«, erwiderte Dimitri, der sich hinter Gabrielle hielt. »Ich bin hier gänzlich unwichtig. Am besten, Sie stellen sich vor, dass ich unsichtbar bin, Monsieur Beaux.«
Gabrielle lächelte Beaux an. »Und ich bin so aufgeregt, dass ich vergessen habe, meinen Mantel abzulegen.«
Nachdem der Höflichkeit Genüge getan war, ihre Mäntel untergebracht und Gabrielles Handtasche unter dem Tisch abgestellt worden waren, reichte ihr Beaux eine Dose, in der sich Kaffeebohnen befanden. Da sie das Ritual bereits kannte, folgte sie seiner Aufforderung und befreite ihre Nase von dem Geruch der Straße. Sie bemerkte Dimitris erstaunten Blick, ließ ihn jedoch im Ungewissen, den Sinn dieser Vorgehensweise würde sie ihm später erklären. Nichts sollte die Zeremonie stören, die so bedeutsam für sie war.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als der Parfümeur das erste Gefäß öffnete. Die Aromen von Rosen und Jasmin strömten ihr entgegen. Gabrielle versuchte, sich darauf zu konzentrieren und gleichzeitig ihre Miene so unbewegt wie möglich erscheinen zu lassen. Beaux sollte nicht bemerken, wie aufgewühlt sie war. Auch wollte sie nicht, dass er zu früh erfuhr, ob ihr ein Duft zusagte oder nicht. Geduld war alles andere als ihre Stärke, aber in diesem Fall unbedingt nötig. Von François Coty hatte sie gelernt, mit einer Entscheidung zu warten, da ein Duft oftmals Zeit benötigte, sich zu entwickeln.
Bei Probe Nummer eins brauchte sie sich keine Mühe zu geben, ihre Gefühle zu verschleiern – das war nicht der Duft, den sie suchte. Viel zu süß und altmodisch. Die Kreation entsprach zwar in etwa der Duftfamilie, die Gabrielle in ihrer Vorgabe genannt hatte, doch dieses Parfüm kam bei weitem nicht an Bouquet de Catherine heran.
Kommentarlos und mit ausdruckslosem Gesicht gab Gabrielle den Glasstöpsel zurück, an dem sie geschnuppert hatte. Das Prozedere wiederholte sich noch dreimal, bevor sie wieder nach der Dose mit den Kaffeebohnen griff. Ihre Nase war inzwischen geschulter, aber sie brauchte nach vier Proben dringend eine Pause, um wieder aufnahmefähig zu sein.
Im Hintergrund sprachen die beiden Assistenten leise miteinander, nachdem es eine Weile lang ganz still gewesen war. Glas klirrte. Irgendwo tickte eine Uhr, und durch die Fenster drang das Klappern von Hufen, ein Fuhrwerk ratterte vorbei.
Gabrielle nahm Dimitris Gegenwart in ihrem Rücken wahr, sie wandte sich jedoch nicht um. Er atmete so flach, stand mit militärischer Disziplin auf einem Fleck, so dass sie ihn kaum hörte. Allein das Gefühl seiner Anwesenheit vermittelte ihr Sicherheit, half ihr, das Richtige zu tun.
Sie griff nach der fünften Probe – und musste sich zwingen, das Lächeln zu unterdrücken, das an ihren Mundwinkeln zog.
Es war das Bouquet de Catherine.
Nein, korrigierte sich Gabrielle in Gedanken, nicht ganz. Es roch etwas anders als das Taschentuch von Djagilew.
Moderner.
Frischer.
Kühler.
Und noch etwas. War dieser Duft womöglich authentischer für die Frauen ihrer Zeit?
Das Tuch hatten seit dem Geschenk wahrscheinlich so oft Djagilews und andere Finger berührt, auch Gabrielles Hände, dass sich das Original mit den Körpergerüchen verbunden haben musste. Von dem, womit der zarte Batist ursprünglich besprüht worden war, war womöglich nur noch eine Illusion verblieben. Seltsam, dachte Gabrielle, dass sie daran nie gedacht hatte.
So emotionslos wie möglich gab sie Ernest Beaux die Duftprobe zurück. Dabei spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Nicht von Dimitri, eine fremde Person musterte sie eindringlich.
Unwillkürlich drehte sie ihren Kopf und blickte über die Schulter. Die Laborassistentin war hinter Dimitri getreten, wurde von seiner großen Gestalt fast verdeckt. Dennoch fing Gabrielle einen erwartungsvollen, furchtsamen Blick auf, den ihr die junge Frau zuwarf. Schnell sah die andere wieder weg, das Gesicht so bleich wie die Wände an ihrem Arbeitsplatz.
Die Kreationen Nummer zwanzig und einundzwanzig folgten, dann neutralisierte Gabrielle ihre Nase wieder mit einer Prise Kaffee, bevor sie sich den letzten drei Reagenzgläsern zuwandte. Auch diese Parfüms entsprachen derselben Duftfamilie, waren aber insgesamt anders aufgebaut als die ersten fünf Stoffe. Gabrielle zögerte ein- oder zweimal, aber keiner der Düfte überzeugte sie wie die Nummer fünf.
»Möchten Sie sich Notizen machen?«, erkundigte sich Beaux, als sie ihm die letzte Probe zurückreichte.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, das brauche ich nicht. Ich würde gern die erste Serie noch einmal testen.«
Während er ihr eine Probe von Nummer eins reichte, schlug er vor: »Sie können jederzeit Änderungen vornehmen, Mademoiselle Chanel. Ein Parfüm zu kreieren ist ein Puzzlespiel. Die einzelnen Bestandteile müssen immer wieder verschoben werden, bevor sie perfekt passen. Wenn Sie eine andere Komponente wünschen, können wir es damit gern versuchen. Das gesamte Laboratorium steht Ihnen zur Verfügung.«
»Das ist sehr freundlich«, sagte Dimitri. In seinen wenigen Worten schwang die Würde des Zarewitschs, der die Fabrik des Hoflieferanten besuchte.
Gabrielle liebte das Experiment. Sie nahm Beaux’ Angebot dankend an.
Dimitri verabschiedete sich, um draußen eine Zigarette zu rauchen, und eigentlich wäre sie seinem Beispiel am liebsten gefolgt, aber sie zwang sich zur Abstinenz. Nikotin veränderte den Geruchssinn. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen konnte sie unmöglich den Duft der Düfte finden. Obgleich sie meinte, ihn bereits gefunden zu haben. Doch das Abenteuer des Erforschens wollte noch befriedigt werden.
Seite an Seite mit Ernest Beaux prüfte sie die verschiedenen Möglichkeiten, und Gabrielle bemerkte, dass der Parfümeur ihre Vision des Einzigartigen teilte. Inzwischen standen sie an dem langen Refektoriumstisch. Dort reichte er ihr nacheinander die kleinen Fläschchen, die die verschiedenen Öle enthielten, aus denen die Herznote gewonnen worden war.
»Diese Duftfamilie besteht aus den luxuriösesten Aromen der Welt«, erklärte er ihr. »Rose, Jasmin, Ylang-Ylang und Sandelholz, das den Kontrast zu den süßeren Substanzen bildet. Es sind traditionelle Riechstoffe in einer anderen Zusammensetzung als üblich.«
Stumm schnupperte sie und hörte zu. Schließlich bat sie ihn, die eine oder andere Komponente zu verändern, doch das Ergebnis sagte ihr niemals so zu wie der spontane Eindruck von Probe Nummer fünf. Über die Arbeit am Labortisch vergaß sie die Zeit. Nach einer Weile fragte sie Beaux, was an dem Parfüm, das ihre Sinne begeisterte, anders sei.
»Es ist der hohe Anteil an Aldehyden«, antwortete er.
»Das sind künstliche Moleküle, nicht wahr?«, fragte sie, insgeheim ein Dankeschön an François Coty schickend, der sie in die Geheimnisse der Parfümherstellung eingewiesen hatte.
Ernest Beaux nickte. Sein flüchtiger Blick streifte die Laborassistentin, die neben Gabrielle stand und der Besucherin zur Hand ging. »Sie wissen genau, was Sie hier tun, Mademoiselle Chanel.«
»Das täuscht«, gab sie zu. »Mir ist bekannt, dass es künstliche Stoffe gibt, aber mehr auch nicht.«
»Sie haben gewiss schon erlebt, was passiert, wenn ein Wein zu lange an der Luft steht. Er wird zu Essig. Der Wasserstoff im Äthanol, also dem Alkohol im Wein, verbindet sich mit dem Sauerstoff, und durch eine organische Reaktion wird daraus zuerst Acetaldehyd und anschließend Acetylsäure, also Essig. Vereinfacht gesagt: Irgendwann während dieses Prozesses verwandelt sich der Alkohol in Aldehyd. Die Aufgabe des Chemikers besteht darin, die Reaktionskette künstlich zu unterbrechen und Aldehyde auf diese Weise abzuspalten. Diese Möglichkeit wurde erst wenige Jahre vor dem Krieg erfunden. Deshalb hängt die Komposition eines Duftes immer zuerst von den Forschungsergebnissen eines Chemikers ab. Die Zugabe von Aldehyd zu einem Blumenbouquet ergibt dasselbe Ergebnis wie ein paar Tropfen Zitrone auf frischen Erdbeeren: Das Aroma wird vervollkommnet.«
»Mir wurde gesagt, dass die Gewinnung des Aldehyds sehr aufwendig ist und das Parfüm damit sehr teuer wird.«
Ernest Beaux zuckte mit den Achseln. »In unserer fünften Probe befinden sich die luxuriösesten Grundstoffe der Welt. Da macht es kaum einen Unterschied, ob zusätzlich noch ein künstliches Molekül dazukommt. Am Hof in Sankt Petersburg wurde niemals gespart, Mademoiselle, und das haben wir weder bei der Herstellung des Bouquet de Catherine noch bei den Entwürfen für ein Eau de Chanel getan.«
»Das Beste hat immer seinen Preis – ich weiß.« Sie lächelte ihn an.
Dann senkte sie ihre Nase wieder über dieses eine Röhrchen, dessen Inhalt sie so faszinierte. Sie sog den Duft ein wie eine Erstickende die frische Luft, konnte ihre Lungen nicht genug mit diesem einzigartigen Aroma füllen. Es war, als würden in ihr Champagnerbläschen zerplatzen, ihre Sinne reagierten mit einem Prickeln. Ihr Herz wummerte nicht mehr voller Aufregung gegen ihre Brust, es schlug ganz ruhig in dem Rhythmus, mit dem sie diese kühle Frische in sich aufnahm.
»Das ist, worauf ich gewartet habe: ein Duft wie kein anderer. Das Parfüm für Frauen mit dem Odeur der Moderne.«
Später kam Dimitri wieder dazu. Nachdem Gabrielle ihm berichtete, dass sie gefunden hatte, wonach sie suchte, bat er um einen Test. In einer Mischung aus Vorfreude und ängstlicher Erwartung beobachtete sie seine Reaktion.
»Es riecht wie frisch gefallener Schnee auf den Dächern von Petrograd«, murmelte er, die hohe Stirn in Falten gelegt. Seine Augen wanderten in die Ferne, und seine Gedanken schienen bei Bällen und Schlittenfahrten zu verweilen, die niemals mehr wiederkehren würden.
»Ich hatte eine ähnliche Eingebung«, sagte Ernest Beaux mit Bewunderung für die Scharfsichtigkeit des Großfürsten. »Während meiner Dienstzeit für die Weiße Armee war ich in der Nähe von Murmansk stationiert. Ich befehligte auf Kola ein Lager mit Gefangenen der Roten. Den Geruch der Polarnächte werde ich niemals vergessen. Deshalb habe ich versucht, ein Parfüm mit dieser besonders klaren Ausstrahlung zu kreieren.«
»Wie ist Ihnen das gelungen?«, fragte Dimitri.
Die junge Frau neben Gabrielle räusperte sich und senkte errötend die Lider.
»Die Komposition von Rosen und Jasmin mit einem synthetischen Aldehyd macht bereits das Besondere im Bouquet de Catherine aus. Im Fall unserer Probe Nummer fünf übersteigt die Zusammensetzung aber unsere alte Formel.« Er blickte kurz zu seiner Mitarbeiterin. »Schuld daran ist ein Fehler meiner Assistentin. Mademoiselle setzte das Mischverhältnis eins zu eins an – und nicht mit der gewünschten Verdünnung.«
Dimitri nickte der Übeltäterin wohlwollend zu, deren Wangen sich in dunkles Rot färbten. »Was für ein Glück!«
»Die Moleküle haben noch einen anderen Vorteil«, fuhr Beaux fort. »Verzeihen Sie, darf ich?«, bat er, wartete die Antwort nicht ab, sondern ergriff Gabrielles Hand. Er drehte sie um und träufelte ein paar Tropfen des Parfüms auf ihren Puls. Zu überrascht für eine Gegenwehr, ließ sie ihn gewähren, bevor sie begriff, was er erreichen wollte. »Warten Sie kurz, dann riechen Sie«, sagte Beaux. »Sie werden erleben, dass dieser Duft länger auf Ihrer Haut haftet als die üblichen Toilettenwasser.«
So lange wie das Parfüm der Großfürstin Maria in ihrem Taschentuch, fuhr es Gabrielle durch den Kopf.
Dimitri umfasste ihren Arm, hob ihn hoch und legte seine Nase in einer intimen Geste an ihr Handgelenk. »Auf der Haut ist es noch wundervoller als im Glas«, lobte er und ließ sie los. »Ich denke, wir sollten die Geburt deines Eau de Chanel nun feiern, Coco.«
»Ich glaube nicht, dass ich diesen Namen verwenden werde.« Gabrielle entfuhren die Worte, bevor sie sich bewusst wurde, was sie sagte. Nachdenklich fügte sie hinzu: »Ich möchte mein Parfüm Nummer fünf nennen. Die Zahl der Probe ist ein gutes Omen. An einem Fünften im fünften Monat des Jahres zeige ich jeweils meine neue Kollektion. Die Fünf passt also ganz hervorragend zu dem Parfüm meines Modehauses.«
Sie sagte ihm nicht, welche Bedeutung die Fünf noch hatte. Die Zahl der Venus, dachte sie spontan in Erinnerung an ihr stundenlanges Warten vor dem Beichtstuhl. Ihr fielen in diesem Moment nicht die symbolische Bedeutung der Zisterzienser ein, nicht die Bilder, die sie in den Mosaiksteinen an Wänden und Böden abgezählt hatte. Sie dachte in diesem bedeutungsvollen Moment nur daran, dass die Fünf die mystische Zahl der Liebe war, die unteilbare Kombination aus der männlichen Drei und der weiblichen Zwei.
»Mademoiselle Chanel, Nummer fünf gehört Ihnen.« Die Freude über seinen Erfolg ließ Ernest Beaux strahlen.
Das war es!
Beaux hatte unbeabsichtigt eine Wortkombination gewählt, die Gabrielle aufwühlte. Sie kam sich vor, als sei sie von einem Blitz getroffen worden. Vielleicht auch von einem Strahl des Polarlichts, von dem der Parfümeur sich hatte inspirieren lassen, um seiner alten Formel eine moderne Kopfnote zu verleihen.
Chanel No 5.