Kapitel 10

Es war der übliche kleine Kreis, den Sergej Djagilew um sich scharte. Rund zwanzig seiner größten Bewunderer und treuesten Mitarbeiter, die die Rückkehr der Ballets Russes nach Paris feierten. Mehr Männer als Frauen. Nicht nur, weil sich Djagilew nicht so sehr für Frauen interessierte, sondern weil viele seiner Gäste ohne weibliche Begleitung erschienen. Misia registrierte, dass Olga Picasso wieder einmal fehlte, und sie überlegte, ob es nicht von Anfang an für alle Beteiligten einfacher gewesen wäre, Coco hätte sich in Pablo Picasso verliebt statt in Igor Strawinsky. Die beiden wären ein illustres Paar gewesen, und Picasso unterlag bei weitem nicht so stark seinen Gefühlsschwankungen wie der Komponist. Außerdem besaß er einen festen Wohnsitz. Ach, das wäre eine Amour fou ganz nach ihrem Geschmack, dachte sich Misia. Vor allem, da sie Olga nicht besonders leiden konnte. Und Coco fand Picasso attraktiv, das hatte sie ihr selbst gesagt …

Misia ließ ihre Augen über die Tafel zu Strawinsky wandern, der am anderen Ende mit mürrischem Gesichtsausdruck vor einem Teller mit seinem Spezialmenü saß: rohen Kartoffelscheiben und Tomaten, mit ein wenig Öl und Zitronensaft beträufelt. Der Kellner im Le Dôme hatte fast die Contenance verloren, als er Strawinskys Bestellung aufnahm. Misia erwartete mit heimlicher Schadenfreude, dass der Ober ihn ins La Rotonde schickte, wo es etwas weniger schick zuging und das Essen nicht so auf den feinen Gaumen der Gäste ausgerichtet war.

Andererseits war das Lokal seit Jahren ein beliebter Treffpunkt der Bohème, so dass die Angestellten sicher an die bizarrsten Wünsche gewöhnt waren.

Djagilew, der Misia wie gewohnt als seine Tischdame auserkoren hatte, bemerkte ihren Blick. »Ich bräuchte keinen Liebeskummer, um bei rohen Kartoffeln Magenkrämpfe und schlechte Laune zu bekommen«, raunte er ihr zu, bevor er sich wieder genüsslich seiner üppigen Platte mit Meeresfrüchten zuwandte.

»Er scheint sich noch immer nicht damit abgefunden zu haben, dass Coco nun mit einem anderen liiert ist.«

»In der Tat. Hat er nicht.« Djagilew konzentrierte sich darauf, das Fleisch aus dem gekrümmten Schwanz der gekochten Languste zu lösen. Deshalb fügte er erst mit einiger Verzögerung hinzu: »Igor war völlig aufgelöst, als er bei seiner Rückkehr nach Garches erfuhr, dass Coco noch immer an der Riviera weilt und erst in ein paar Wochen zurückerwartet wird. Er hoffte auf eine Versöhnung. Oder auf Totschlag. Was weiß ich? An Selbstmord scheint er allerdings nicht zu denken, wenn er sich auf diese nach seiner Meinung gesunde Ernährung stürzt.«

Misia dachte bei sich, dass Djagilew selbst ein wenig mehr auf seine Gesundheit achten sollte. Er war zuckerkrank, und sie bezweifelte, dass diese Mengen an Krustentieren, die darauf warteten, von ihm verspeist zu werden, seiner Erkrankung zuträglich waren. Sie beschloss, ihn jedoch nicht zu kritisieren und ihn seinem Vergnügen zu überlassen. Noch ein unglücklicher Mann an diesem Tisch würde ihr den Appetit verderben.

»Haben Sie etwas von Coco gehört?«, wollte sie wissen, obwohl sie damit offenbarte, dass ihr Kontakt schon vor einer Weile abgebrochen war.

»Dasselbe wollte ich Sie gerade fragen.« Djagilew klang ein wenig vorwurfsvoll. »Sagen Sie nur, Liebes, Sie wissen nicht, wie es unserer Freundin geht?«

»Sie spricht nicht mit mir!«

Das Monokel fiel herunter. »Eine Katastrophe!«, rief der Impresario aus, und mehrere Köpfe drehten sich erschrocken zu ihm um. »Wer erzählt mir denn jetzt, wie es um ihre Affäre mit dem Großfürsten steht?«

Misia seufzte, verärgert, weil sie die Informationen aus zweiter Hand hatte. »Dafür brauchen Sie mich nicht, Sergej. Ganz Paris spricht über die beiden. Tout le monde hat sie in Monte Carlo gesehen. Wie ich hörte, unternehmen sie viele Ausflüge. Man sieht sie oft in ihrem Cabriolet herumfahren. Und abends trifft man sie in den bekannten Restaurants oder im Casino, wo der Großfürst die Kronjuwelen der Romanows verspielt, so er sie denn hätte. Natürlich ist es aber Cocos Geld, das er setzt.«

»Werden Sie jemals mit einem Mann einverstanden sein, mit dem Sie die Zuneigung Ihrer Freundin teilen müssen?« Djagilew schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. »Mir scheint, Sie sind eifersüchtig, ma chère. Ob auf den jeweiligen Liebhaber oder die Tatsache, dass Sie nicht die Kupplerin spielen durften, wage ich noch nicht einzuschätzen.«

Von keinem anderen Menschen hätte sich Misia diese Anzüglichkeit gefallen lassen, doch Sergej Djagilew verzieh sie alles – auch eine Unverschämtheit, die ihr die Röte ins Gesicht trieb. Sie fächelte sich mit ihrer Serviette Kühlung zu, bevor sie mit spielerischem Tadel antwortete: »Sie sind ein Schelm, Sergej!«

»Ich weiß.« Er schmunzelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Im Übrigen höre ich auch so manches, was interessant für den Fortbestand der neuen Liebe unserer Coco sein dürfte. Meine in der Heimat verbliebenen Landsleute, die einst halfen, den Roten ihren Weg zu bahnen, haben anscheinend erkannt, dass die Bolschewiki nicht ihre Befreier, sondern Unterdrücker sind. Es sollen Hungersnöte herrschen, und Teile der Marine revoltieren. Mütterchen Russland kommt nicht zur Ruhe.«

Misia, die gerade ihr Champagnerglas an die Lippen führen wollte, hielt in der Bewegung inne. »Meinen Sie, die Romanows könnten die Krone zurückgewinnen?«

»So wird es kolportiert. Womöglich wird Dimitri Pawlowitsch der neue Zar – und dann muss er sich den strengen Hausgesetzen der Romanows beugen. Eine Heirat mit Coco ist unter diesen Bedingungen ausgeschlossen.« Djagilew zog das Taschentuch der Großfürstin heraus und ließ seine Nase in den Batist sinken. »Honi soit qui mal y pense«, zitierte er, als er seinen Talisman wieder einsteckte. »Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.«

Nicht noch eine gesellschaftlich notwendige Heirat, fuhr es Misia durch den Kopf. Eine Situation wie nach der Eheschließung von Boy Capel würde Coco gewiss nicht noch einmal ertragen. Sie musste sie dringend anrufen, um als Trösterin zur Stelle zu sein, wenn die Freundin ihrer bedurfte. Da fiel ihr etwas ein: »Der Vater von Großfürst Dimitri ist in zweiter Ehe eine morganatische Verbindung mit der Frau eingegangen, die er liebte. Sie war von viel niederem Stand als er.«

»Und was hat es Großfürst Pawel Alexandrowitsch gebracht? Er wurde ins Exil geschickt, und als er nach Jahren aus Paris zurückkommen durfte, konnte er sich nicht lange an der Heimat erfreuen. Die Revolution brach aus, und die Bolschewiki erschossen ihn ebenso wie Dimitris Halbbruder und viele andere Mitglieder der Zarenfamilie. Nein, ich weiß wirklich nicht, ob ich mir für Coco wünsche, die Mätresse des künftigen Zaren zu sein …« Er unterbrach sich, starrte verblüfft auf eine Bewegung auf der anderen Seite des langen Tisches.

Sergej Sudeikin stürzte, einen Speiseteller in der einen und sein Besteck in der anderen Hand, an den gemeinsamen Freunden vorbei auf Djagilew zu. »Meister, retten Sie mich!«, rief er dabei unter dem Gelächter der Gruppe theatralisch aus.

Misia kannte den Maler ebenso gut wie alle anderen, die im Laufe der Zeit die Ballets Russes unterstützt oder bei der einen oder anderen Aufführung mitgearbeitet hatten. Sergej Sudeikin war schon bei der Uraufführung vor acht Jahren am Entwurf des Bühnenbildes beteiligt gewesen. Wie viele seiner Landsleute war der Künstler vor der Revolution über die Krim nach Paris geflüchtet. Es verstand sich von selbst, dass er und seine Frau nach ihrer Ankunft im vorigen Jahr Halt und Heimat bei Djagilew suchten, zumal Vera Sudeikina wie Olga Picasso einst seine Tänzerin gewesen war.

»Strawinsky hat mein Kotelett einfach von meinem Teller genommen und es gegessen«, berichtete Sudeikin, als er neben Djagilews Stuhl stand. »Einfach so. Und ich habe nichts abbekommen!« Dabei klang er so trotzig wie ein kleiner Junge, dem sein liebstes Spielzeug entwendet wurde.

»Wahrscheinlich konnte er dem Duft des gebratenen Fleisches nicht widerstehen«, meinte Misia glucksend, die ihre Erheiterung kaum verbergen konnte. Ihre Augen flogen zu Strawinsky, der über seinen Teller gebeugt deutlich vergnüglicher wirkte und wohler aussah als zuvor bei dem Verzehr von rohen Kartoffeln und Tomaten.

»Er sagte, er wolle seinen Magen erstaunen«, jammerte Sudeikin.

»Was für eine Überraschung!« Misia brach in schallendes Gelächter aus.

Djagilew hatte während des Dialogs geschwiegen und nachdenklich zum Ende des Tisches geblickt, wo neben Strawinsky nun ein Platz frei war. Misia bemerkte aus den Augenwinkeln, wie er seinen Blick über seine gut gelaunt plaudernde und speisende Gästeschar wandern ließ. Nach einer Weile fixierte er Vera, die ein paar Stühle von ihrem Mann und Strawinsky entfernt saß. Obwohl Vera Sudeikina standhaft behauptete, dass ihr Vater aus Chile stammte, wussten die meisten der Freunde, dass Eduard Bosse aus dem Baltikum nach Sankt Petersburg gekommen war. Allerdings wirkte sie durchaus wie eine rassige Südamerikanerin und war trotz ihrer unverhältnismäßig großen Nase eine Schönheit. Auf jeden Fall war sie so dunkel wie Coco Chanel.

»Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment«, raunte Djagilew seiner Tischdame zu. Er hantierte mit seinem Monokel, um es wieder an den richtigen Ort zu bringen. »Ich werde Vera bitten, Strawinsky die Karten zu legen. Wenn sie ihm eine wundervolle Zukunft voraussagt, gelingt es ihr vielleicht, ihn aus seiner morbiden Stimmung zu erlösen, und er wird ein wenig umgänglicher.« Er schob seinen Stuhl zurück und sagte zu Sergej Sudeikin: »Setzen Sie sich hierher, mein Freund, und bestellen Sie sich, was immer Sie möchten. Sie erweisen der Musik damit einen großen Dienst.«

Voller Bewunderung sah Misia ihm nach. Was für eine charmante Idee! Ihr ging durch den Kopf, dass sie in Sachen Kuppelei noch einiges von Djagilew lernen konnte. Mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln wandte sie sich an den Bühnenbildner, der neben ihr Platz genommen hatte: »Was möchten Sie essen? Wenn Sie Fisch mögen, kann ich Ihnen die Dorade empfehlen …«