Kapitel 11

Gabrielle umarmte Dimitri, als sie das Laboratorium verließen. Sie küsste ihn, als sie im Wagen saßen. Sie bestellte Champagner, als sie an der Bar des Carlton an der Croisette ankamen. Und sie war geneigt, in die Songs einzustimmen, die eine dunkelhäutige Jazzsängerin nach Einbruch der Dunkelheit zum Besten gab.

Diesen Teil ihrer ungeniert zur Schau gestellten Freude über das neue Parfüm konnte Dimitri jedoch gerade noch verhindern, indem er die inzwischen ziemlich angetrunkene Gabrielle über die Schulter warf und zu ihrem Rolls-Royce trug.

Im Wagen zog sie die Beine unter sich, schloss die Augen, genoss den Fahrtwind auf ihrem Gesicht und die Sicherheit, die ihr Dimitri vermittelte. Seit ihrer ersten Begegnung in Venedig fühlte sie Dankbarkeit ihm gegenüber, doch dieses Gefühl war nach dem Fund bei Ernest Beaux so groß geworden, dass sie meinte, ihr Herz müsse bersten vor dem Sturm, der es erfasste. Sie konnte nicht sagen, ob es Liebe war. Aber es war in jedem Fall die tiefste Form freundschaftlicher Zuneigung, die sie sich vorstellen konnte.

Umhüllt von dem Vertrauen, das mit ihrer Empfindung einherging, schlief sie später im Riviera-Palace Hotel in Dimitris Armen ein.

Bis zu ihrer Rückkehr nach Paris fuhr Gabrielle noch einige Male nach La Bocca. Vorgeblich, um mit Ernest Beaux weitere Experimente durchzuführen, die vielleicht einen noch besseren Duft ermöglichten. Doch tatsächlich bat sie Dimitri immer wieder um Ausflüge nach Cannes, weil sie ihrem Parfüm nahe sein wollte. Es bereitete ihr Spaß, die Essenzen in sich aufzusaugen und eingehüllt in die Aromen etwa in ein Restaurant zu gehen. Sie studierte jedes einzelne Detail des Geruchs, er haftete an ihren Kleidern, ihrem Haar und ihrer Haut, bis er eine Einheit mit ihr bildete.

Schließlich musste sie sich trennen. Ihre Abreise stand bevor. Dimitri wollte unbedingt Mitte April zurück in Paris sein, um dort den Geburtstag seiner Schwester Marija zu feiern.

Auch für Gabrielle wurde es Zeit, die langen Ferien zu beenden. Ihr Atelier verlangte nach ihrer Präsenz, und bis die Produktion ihres Parfüms in der Fabrik von Chiris in Grasse beginnen würde, hatte sie noch viel Arbeit vor sich, die sie nur in Paris erledigen konnte. Sie brauchte einen Flakon und eine Verpackung. Obwohl es Fachmänner gab, deren Entwürfe sicherlich hervorragend ausfallen würden, beschloss Gabrielle, diesen Teil der Schöpfungsgeschichte von Chanel No 5 nicht aus der Hand zu geben. So viel schwerer als die Idee für einen Hut oder ein Kostüm konnte es doch nicht sein, einen besonderen Glasflakon und eine hübsche Verpackung zu konzipieren. Gabrielle wollte zumindest versuchen, ihrem Parfüm, nach dem sie so lange gesucht hatte, ihren eigenen Stil aufzudrücken. Erst wenn sie scheiterte, würde sie sich an Georges Chiris oder an François Coty mit der Bitte um eine Empfehlung wenden.

Monte Carlo machte ihr den Abschied leicht. Es regnete in Strömen. Die azurblaue Küste hatte sich in eine anthrazitfarbene Landschaft verwandelt, der Himmel war grau und verhangen, das Mittelmeer eine in allen Aschetönen schimmernde Fläche, auf der weiße Schaumkronen schwammen.

»In den Bergen schneit es«, berichtete der Page, der einen Schirm über Gabrielle hielt, während sie die Freitreppe des Hotels hinab zu ihrem Wagen schritt.

»Ein Glück, dass wir uns gegen eine Rückfahrt auf der Route Napoleon entschieden haben«, meinte Dimitri, als sie im Automobil saßen und er die Verstrebungen des Verdecks prophylaktisch nach einem Leck abtastete. »Weiter westlich soll das Wetter besser werden. Also auf nach Marseille!« Er legte den Gang ein, und als er anfuhr, drehten die Reifen kurz durch, und Wasser spritzte in Fontänen auf. Dann fuhr er in ruhigem, mäßigem Tempo durch die Kurven zur Corniche.

Gabrielle schwieg. Sie sah den Rinnsalen zu, die am Seitenfenster hinabliefen. Vor ihren Augen verschwammen die Villen am Straßenrand zu einer grauen Masse. Der Anblick entsprach ihren Gefühlen. Der Abschied ließ sie wehmütig werden, nur mühsam hielt sie die Tränen zurück. Das Ende ihrer sorglosen, glücklichen Ferien machte ihr zu schaffen. Ihr blieben zwar noch ein paar gemeinsame Tage mit Dimitri, da sie besprochen hatten, die Rückfahrt durch die Provence und das Rhônetal mit einer Reihe von Übernachtungen zu verlängern. Und es gab keinen Grund, anzunehmen, dass ihre Beziehung nicht auch in ihrem Alltag in Paris fortbestehen würde. Aber Gabrielle fürchtete, dass irgendetwas – oder irgendwer – die Magie zerstören würde, die sie beide umgab.

Häuser, Felsen, Baumreihen, die wenig einladende See flogen vorüber. Gabrielle fiel ein, dass sie vergessen hatte, Dimitri zu fragen, ob er gern segelte. Trotz der lauen Frühlingsluft war es an den meisten Tagen ihres Aufenthalts noch zu kalt für den Ausflug mit einer gemieteten Yacht. Auf jeden Fall fuhr ihr Geliebter gern Auto – das war gewiss. Er fuhr manchmal verwegen, meistens chauffierte er sie jedoch mit einer Sicherheit durch die Lande, dass sie ihm inzwischen vollends vertraute. Auf gewisse Weise, fuhr es ihr durch den Kopf, vertraute sie ihm sogar ihr Leben an. Ein erstes kleines Lächeln schlich sich ein.

Nizza, Antibes, Cannes – sie passierten die vertrauten Ortsschilder. Das Wetter besserte sich nicht. Aber wahrscheinlich waren sie noch nicht weit genug westlich, um dem Regen zu entfliehen, der unaufhörlich gegen die Scheiben schlug und auf das Dach prasselte. Obwohl Gabrielle im Trockenen saß, glaubte sie zu spüren, wie die Feuchtigkeit unter ihre Kleidung und durch ihre Glieder zog. Sie schob ihre Hände in die weiten Ärmel ihrer Jacke. Ihre Augen verfolgten die rhythmischen Bewegungen des Scheibenwischers. Hin und her, hin und her. Die Landschaft veränderte sich kaum, es blieb alles in einem Farbton – Grau in allen Nuancen.

Ihre Lider wurden schwer. Eine Weile lang döste sie, dann nickte sie ein.

Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie plötzlich hochschreckte.

Es war ihr völlig unverständlich, wieso sie aufgewacht war. Dimitri fuhr sicher wie zuvor. Die Straße stieg ein wenig an, fiel wieder in Täler herab, doch er lenkte den Rolls-Royce ruhig über den regennassen Asphalt. Kein Wagen kam ihnen entgegen, kein Lastkarren kreuzte ihren Weg. Die unwirtliche Witterung zwang sogar Bauern und Vieh in die Ställe.

Gabrielle blickte aus dem Seitenfenster, sah durch den Schleier der Regentropfen auf Felsen, auf denen Heidekraut wucherte, Kiefern säumten die Täler, die hellgrauen Stämme der Eukalyptusbäume erhoben sich aus den schroffen Steinen in einen nebelverhangenen Himmel. Plötzlich stutzte sie.

»Wo sind wir?«, fragte sie tonlos.

»Keine Ahnung«, gab Dimitri leichthin zurück, ohne seinen Blick von der kurvigen Straße zu wenden. »Irgendwo auf der Nationalstraße 7 vor Saint-Raphaël …«

Ihr Schrei klang wie der eines waidwunden Tieres, das in eine Falle getreten war.

Erschrocken trat Dimitri auf die Bremse. Der Wagen geriet ins Schleudern, doch er lenkte geschickt gegen, bis das Automobil wieder in der Spur war und schließlich anhielt.

Gabrielle hielt sich am Armaturenbrett fest. Dem verzweifelten Ausruf folgte kein zweiter. Sie starrte aus dem Wagenfenster auf das Kreuz, das eine Stelle dicht von ihrem Haltepunkt am Wegesrand markierte. Tränen rannen in Sturzbächen über ihre Wangen. Wie der Regen, der sintflutartig vom Himmel fiel.

»Coco?«

Stumm schüttelte sie den Kopf.

»Was ist mit dir?«

Wie sollte sie Dimitri erklären, dass ihr gerade das Herz herausgerissen wurde?

Er hatte an derselben Stelle angehalten, an der vor fast eineinhalb Jahren der Chauffeur von Boys Schwester geparkt hatte, um Gabrielle und Étienne Balsan den Unfallort zu zeigen. Und ebenso wie damals brach sie zusammen. Es machte keinen Unterschied, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Nicht einmal der neue Mann an ihrer Seite bedeutete ihr so viel, dass sie seine Nähe in diesem Moment auf irgendeine Weise als tröstlich empfunden hätte. Der Schmerz war so unverändert stark, als hätte sie erst in der vergangenen Nacht erfahren, dass Boy sie für immer verlassen hatte.

Er war viel zu schnell unterwegs, aber er war ein Mensch, der nichts besonnen oder langsam tat. Das Aufheulen des Motors war Musik in seinen Ohren, mal Scherzo, dann Rondo. Die Bremsscheiben quietschten. Stahl rieb auf Stahl, Gummi auf Teer. Dann hob sich das Fahrzeug in die Lüfte, knickte Sträucher und Bäume ab, um schließlich auf einer Felskante aufzuschlagen und in einem Feuerball zu explodieren.

Dimitri zögerte einen Moment, dann drückte er die Fahrertür auf und stieg aus.

Sie sah zu, wie er binnen Sekunden durchnässt war, wie sich dunkle Schlieren auf dem hellen Tuch seines Reiseanzugs bildeten, seine Haare in feuchten Strähnen herabhingen. Mit langen Schritten lief er zu dem Mahnmal am Straßenrand, beugte sich über den halbhohen schmiedeeisernen Zaun, der es umschloss. Der Regen lief in seinen Kragen, aber er ließ sich offensichtlich nicht davon abhalten, die in den Stein gemeißelte Inschrift zu lesen:

In Gedenken an Captain Arthur Capel,

an diesem Ort tödlich verunglückt am 22. 12. 1919

Gabrielle wusste, was dort stand, ohne dass sie einen einzigen Buchstaben oder die Jahreszahl lesen musste. Sie kannte die Gedenkschrift, weil sie das kleine Denkmal in Auftrag gegeben hatte. Nicht einmal Misia hatte sie davon erzählt. Ebenso wenig wie ihre engste Freundin auch nur ahnte, dass Gabrielle einen Blumenhändler in Fréjus dafür bezahlte, regelmäßig ein frisches Gesteck anzuliefern. Heute lagen zu Füßen des Kreuzes weiße Tulpen, die jetzt die Köpfe hängen ließen, vollgesogen mit dem Wasser, das aus den Wolken brach. Sie hatte auf diese Weise ein Grab für den geliebten Mann geschaffen, das nur ihr allein und nicht seiner Witwe gehörte. Doch hatte sie es in der Vergangenheit ebenso wenig besucht wie den Friedhof Montmartre, auf dem Arthur Capel beerdigt worden war.

Die schützende Hülle, die Gabrielle gegen die Trauer um sich herum aufgebaut hatte, zersprang wie die Tropfen auf der Windschutzscheibe. Sie weinte. Und konnte nicht aufhören zu weinen.

Als Dimitri zu ihr in den Wagen zurückkehrte, brachte sie es nicht einmal über sich, die Hand zu berühren, die er ihr in einer hilflosen, zärtlichen Geste auf die Schulter legte. Sie war bewegungsunfähig. Ihre Tränen waren das einzige Zeichen, dass noch Leben in ihr war.

Still zog er seine Hand zurück, seine Finger umklammerten das Steuerrad. Er ließ seinen Kopf hängen. Gabrielles Verzweiflung übertrug sich auf Dimitri, wenn auch aus anderen Gründen.

Natürlich wusste er, welche Rolle Arthur Capel in ihrem Leben gespielt hatte. Das hatte sie ihm erzählt. Jetzt war sie ihm dankbar für seine Rücksichtnahme. Vor allem dankte sie ihm im Geiste, dass er nicht mit Fragen oder wohlmeinenden Ratschlägen in sie drang. Irgendwann würde sie die Worte finden, ihm zu sagen, dass er alles richtig machte.

Schließlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Er setzte die Fahrt fort.

Außer dem prasselnden Regen, dem brummenden Motor und Gabrielles ersticktem Schluchzen gab es bis Marseille kein Geräusch in dem Wagen.