Nachdem sie noch eine Nacht in Lyon verbracht hatten, machte sich Gabrielle am Morgen auf den Weg in ihre Vergangenheit. Nie zuvor war sie zurückgekehrt, auch nicht allein, und während sie neben Dimitri in ihrem Rolls-Royce saß, fragte sie sich, ob sie dem Wiedersehen gewachsen war.
Obwohl sie das Massif Centrale niemals mit einem Automobil passiert hatte – dafür fehlten ihr damals die Mittel –, erschien ihr die kurvenreiche Straße fast erschreckend vertraut. Sie schlängelte sich an frühlingsgrünen Wiesen entlang, auf denen die stämmigen Aubrac-Rinder grasten, an den Steinhütten der Bauern und an sprudelnden Flussläufen vorbei. Es hatte sich merklich abgekühlt, die runden Gipfel der Vulkanberge waren weiß überpudert. Gabrielle zog ihren Mantel enger um sich, obwohl es im Wagen warm war. Sie fröstelte ganz automatisch, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, hier jemals nicht gefroren zu haben.
Thiers war eine Kleinstadt, in die sich keine Touristen verliefen, zumal der Ort in den meisten Reiseführern nicht einmal vermerkt war. Die Einwohner waren traditionell mit sich selbst beschäftigt und interessierten sich wenig für das, was im fernen Paris geschah, und für die Prominenz aus der Hauptstadt schon gar nicht. Zwar fiel der teure Wagen auf, aber niemand erkannte den Fahrer und seine Begleiterin. Die Neugier der Bürger richtete sich höchstens auf den glänzenden Chrom an den Kotflügeln und den Pelzkragen auf Gabrielles Mantel, nicht aber auf die Personen. Auf diese Weise unbeobachtet, hakte sich Gabrielle bei Dimitri unter. So schweigsam, wie sie die ganze Fahrt hindurch gewesen war, führte sie ihn durch die von hübschen Fachwerkhäusern gesäumten, verwinkelten Gassen, die seit dem Mittelalter kaum verändert worden waren. Es gab nur wenige Cafés, aber außerordentlich viele Handwerksbetriebe, das unaufhörliche Klirren und Hämmern der Schmiede hallte durch den Ort, und als sie zum Zusammenfluss von Dore und Durolle wanderten, wurde das Plätschern der beiden Flüsse lauter und das Quietschen der alten Mühlenräder deutlicher.
Gabrielle lehnte sich gegen die Brüstung der Brücke und blickte hinunter. Sie hatte erwartet, aufgewühlt zu sein. Doch es überraschte sie, wie kalt sie die Begegnung mit Thiers ließ. Sie fühlte nichts. Höchstens Erstaunen darüber, wie klein diese Welt war, die ihr als Mädchen atemberaubend aufregend und entsprechend groß erschienen war. Es war der einzige Ort ihrer Kindheit, wo sie eine Weile lang so etwas wie Geborgenheit kennenlernte. Das war unter der Obhut ihrer Großeltern gewesen und viel zu schnell vergangen.
»Es gibt hier so viele Schmiede, weil die Stadt ein Zentrum der Messerherstellung ist«, sagte sie unvermittelt. Sie wandte sich Dimitri nicht zu, sondern starrte auf die kleinen Strudel und Schaumkronen weit unter sich.
Dimitri horchte auf. »Handelte dein Vater mit Schneidwerkzeugen und Waffen?«
Sein Interesse war verständlich, er hatte die meiste Zeit seines Lebens als Soldat verbracht. Kurz erwog Gabrielle, eine neue Legende zu erfinden. Die Behauptung, das nahe gelegene Château de La Chassaigne wäre das Zuhause ihrer Kindheit gewesen, lag ihr auf der Zunge. Ein schönes mittelalterliches Manoir war gewiss akzeptabler für einen Großfürsten als ein windschiefes Bauernhaus aus derselben Zeit. Vielleicht konnten sie einen Spaziergang durch den Park unternehmen …
Aber sie war hierhergekommen, um sich der Wahrheit zu stellen, auch wenn dies weit problematischer war als das Wiedersehen an sich. »Meine Familie wohnte in einem Dorf in der Nähe, mein Vater fuhr nur in die Stadt, um Messer für seine eigenen Bedürfnisse einzukaufen.«
Offenbar wusste Dimitri darauf keine Antwort. Er wirkte verwirrt, und es dauerte eine Weile, bis er konstatierte: »Dann wurdest du also in der Stadt der Messer geboren …« Seine Stimme klang amüsiert, als er hinzufügte: »Schneid kommt von Schneide, nicht wahr? Jetzt weiß ich endlich, woher du deinen Schneid hast, Coco.«
Sie sah schmunzelnd zu ihm auf, doch ihre Augen waren umwölkt von Traurigkeit. »Ich bin hier aufgewachsen, aber ich wurde nicht in Thiers geboren, sondern in Saumur.«
»Wie schön! Warum hast du nicht früher gesagt, dass die Loire deine Heimat ist? Ich liebe das Schloss, die Gestüte und den Wein von Saumur. Dorthin sollten wir unbedingt fahren.«
Sie schluckte. »Meine Mutter stammte aus einem Dorf bei Saumur und war dort Wäscherin«, stieß sie hervor. »Wie ihre Mutter zuvor.«
»Oh« war sein einziger Kommentar.
In seiner Miene zeigte sich keinerlei Regung. Er blickte sie aufmerksam an, und Gabrielle fragte sich, ob er in ihren Zügen nach einem Hinweis suchte, dass sie scherzte. Doch zu einem Spaß war sie nicht aufgelegt.
Ihre Stimme klang trotzig: »Vielleicht verkaufte mein Vater hier und da ein Messer aus seiner Heimatstadt – ich weiß es nicht. Jedenfalls war er ein fahrender Händler, der sein Glück im Süden versuchte. Ein Geschäftsmann war er nicht.«
Die Wolken am Himmel verdichteten sich, verdeckten die ohnehin schwachen Sonnenstrahlen. Das Licht veränderte sich, der Fluss unter ihnen wirkte nicht mehr blau, sondern grau. Ein kalter Luftzug wehte herauf, der nicht nur Gabrielle, sondern auch Dimitri erschauern ließ.
Er schlang die Arme um seinen Körper. Nach einer Weile fragte er: »Wie sind sie zusammengekommen? Deine Eltern, meine ich.« Er wirkte nicht sonderlich interessiert, schien nur nach etwas gesucht zu haben, mit dem er das Schweigen zwischen ihnen unterbrechen konnte, bevor es schwerer und missverständlicher wurde.
»Albert Chanel war ein Filou. Gutaussehend, charmant, witzig. Ich glaube, sie begegneten sich auf einem Jahrmarkt, wo sich einfache Leute damals eben amüsierten. Leider war mein Vater ein Filou im schlechtesten Sinne, nämlich vor allem verantwortungslos. Er wollte sich nicht binden und heiratete meine Mutter wohl auch nur auf Druck seiner Eltern, als sie bereits zwei Kinder hatten. Für uns war er nie da.«
»Also bist auch du von Verwandten erzogen worden«, stellte Dimitri fest.
Die Sachlichkeit in seinem Ton verunsicherte Gabrielle, weil seine Stimme nichts von dem preisgab, was er fühlte. Abneigung oder Verständnis – sie ahnte nicht, was in ihm vorging, konnte nur raten oder abwarten. Im besten Fall sah er die Gemeinsamkeit, die trotz der unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen zwischen ihnen bestand. Herzeleid und Verlassensängste eines kleinen Kindes waren gewiss gleich, unabhängig von der Herkunft. Aber das wussten sie ja eigentlich bereits voneinander.
Ein Windstoß fuhr in das Tal. Das Klappern des Mühlrads wurde lauter, die Schaumkronen auf dem Fluss dichter. Gabrielle drückte die Cloche fester auf ihren Kopf. Dimitri, der keinen Hut trug, fuhr sich durch das Haar. Zuerst ein flüchtiger Blick zum anderen, dann sahen sie sich an. Beide hielten sie die Hand mit derselben Geste an die Stirn. Während die Schatten dunkler wurden, erhellte plötzlich ein Lächeln Dimitris Gesicht. Dann nahm er ihre Hand zwischen seine Finger.
»Bekamen deine Eltern mehr als zwei Kinder?«, fragte er.
»Maman, ich habe so großen Hunger.«
»Sei still, Gabrielle, wir haben nichts. Wir müssen warten, bis Papa von seiner Reise zurückkommt. Dann haben wir wieder Geld. Bis dahin musst du dich mit dem zufriedengeben, was ich auftreiben kann. Mehr gibt es nicht.«
»Bitte, Maman. Nur eine halbe Tasse Milch …«
»Nein, meine kleine Gabrielle. Die Milch ist für deine Brüder. Du und deine Schwestern können Wasser trinken.«
»Wir waren zu sechst. Drei Mädchen und drei Jungen, wobei der kleine Auguste nur wenige Monate lebte.« Gabrielle strich sich über die Wange und wusste nicht, ob es eine Träne war, die sie fortwischte. Vielleicht war es auch Schnee. Kleine Flocken begannen im fahlen Licht dieses Vormittags zu tanzen, zerplatzten auf dem Brückengeländer – und auf ihrer Haut. Sie drückte Dimitris Hand und ließ ihn los, um ihre Hände in den Taschen ihres Mantels zu vergraben. Die Feuchtigkeit in ihrem Gesicht ignorierte sie, nahm all ihren Mut zusammen, um ihm endlich zu erzählen, wofür sie sich noch mehr schämte als für die Verhältnisse, aus denen sie stammte: »Als unsere Mutter starb, war ich zwölf, meine Schwestern Julie und Antoinette dreizehn und acht Jahre alt, mein Bruder Alphonse war zehn und Lucien erst sechs. Unser Vater brachte die Jungen in ein Kinderheim, von wo aus sie als Arbeitskräfte verkauft werden sollten. Meine Schwestern und ich kamen in ein Waisenhaus zu Nonnen.«
»Deshalb hast du in Venedig geweint.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie kam ihm prompt über die Lippen und ohne Ressentiment. Dimitri zog sein Taschentuch hervor und tupfte ihr damit sanft über die Augen. »Wie einsam ein Kind sein kann, brauchst du mir nicht zu erklären. Ich weiß genau, was in dir vorgegangen ist.«
»Hm«, machte sie nur, weil sie fürchtete, tatsächlich in Tränen auszubrechen, wenn sie den Mund öffnete und ihre Gefühle in Worte zu fassen versuchte. Sie wurde überwältigt von den Erinnerungen. An Julie und an Antoinette, die beide nicht mehr lebten. Und sie spürte Trauer um ihre Brüder, von denen sie nicht wusste, was aus ihnen geworden war. Doch das allein machte ihr nicht zu schaffen. Dimitris Zärtlichkeit, dieser Anflug von Verständnis berührte sie tief. Es war zwar nicht zum ersten Mal, dass sie bemerkte, wie ähnlich sie sich über alle gesellschaftlichen Schranken hinweg waren, weil ihre Kindheit von großen Verlusten geprägt war. Aber mit welcher Gelassenheit und Sanftmut er die Wahrheit über ihre Herkunft aufnahm, überstieg ihre Erwartungen.
Als habe er ihre Gedanken erraten, sagte Dimitri ernst: »Am Hof in Petrograd und in Moskau sind mir viele Damen edler Herkunft begegnet, natürlich auch in Paris, London und den anderen Städten, in denen ich war, aber ich habe keine kennengelernt, die ein so sicheres Gespür für Eleganz und Stil besitzt wie du. Ich bin beeindruckt, Coco. Ein Mädchen mit deiner Geschichte wird zur Ratgeberin der Hautevolee. Das ist mehr als nur bemerkenswert.«
Das Schneetreiben wurde stärker. Durch den dichten Flockenwirbel sah sie ihn mit einer Dankbarkeit an, in die sie ihre Seele legte. War ihr dieser verständnisvolle Mann vom Schicksal oder von Boy selbst aus dem Himmel geschickt worden?
Er erwiderte ihren Blick. Nach einer Weile lächelte er sie aufmunternd an. »Wollen wir zum Wagen gehen? Du wolltest doch noch nach Moulins und nach Vichy. Wir sollten fahren, bevor wir eingeschneit werden.«
»Das werden wir bestimmt nicht«, versicherte sie ihm. Tatsächlich blieb die weiße Winterpracht nicht liegen. Die Flocken hinterließen nur einen feuchten, schmierigen Film auf dem Straßenpflaster, die Kopfsteine schimmerten blausilbern wie der Stahl, aus dem in Thiers die Messer gefertigt wurden. »Aber trotzdem sollten wir fahren. Du hast recht. Es ist alles gesagt.«
Jedenfalls für den Moment, fügte sie in Gedanken hinzu.
* * *
Jenseits der Stadtmauern blieb der Schnee liegen. Die Reifen des Automobils zogen eine dunkle Spur durch den weißen Schmelz auf der Straße. Dimitri fuhr sehr konzentriert und vorsichtig, um nicht ins Schleudern zu geraten. Er schwieg, was Gabrielle angenehm war, zumal sie sich sicher sein konnte, dass sein Schweigen nicht an ihrer Vita, sondern an dem für April zu winterlichen Wetter lag. Die Stille war keine Belastung, sondern eine Notwendigkeit.
Dass Dimitri die Geschichte ihrer Kindheit mit einer derartigen Gelassenheit aufnahm, glich für sie einer Sensation. Als habe er geahnt, dass etwas an ihrer Legende nicht stimmte. Während sie darüber nachsann, was es gewesen sein könnte, lullten sie die monotonen Geräusche des Motors und der Scheibenwischer ein. Auf die Erleichterung, die Wahrheit ausgesprochen zu haben, folgte bleierne Müdigkeit. Ihre Lider wurden schwer, und sie schlief ein …
Die vertraute Stimme weckte sie: »Bonjour, Mademoiselle!« Sacht stupste Dimitri sie an. »Wir sind in Vichy.«
Gabrielle massierte mit zwei Fingern ihre Nasenwurzel, um sich von den Kopfschmerzen zu befreien, die wohl durch ihre verspannte Schlafhaltung entstanden waren. Skeptisch blickte sie aus dem Seitenfenster, das gesprenkelt war von Regentropfen, und erkannte die neobarocke Fassade des Casinos hinter einer gepflegten Rasenfläche. Auf dem Kiesweg, der durch den sogenannten Quellenpark führte, bildeten sich Pfützen, die die Besucher mehr oder weniger geschickt zu umgehen versuchten. Dutzende von schwarzen Regenschirmen wölbten sich über die elegant gekleideten Passanten. Die Damen und Herren strebten gewiss der Trinkhalle am anderen Ende der Anlage entgegen, um unter einer Kuppel aus orientalisch anmutenden blauen und goldenen Fliesen einen Becher mit Thermalwasser entgegenzunehmen. Obwohl Gabrielle seit fünfzehn Jahren nicht mehr dort gewesen war, hatte sie ein leuchtendes Bild vor Augen und war sich sicher, dass sich nichts verändert hatte in all der Zeit.
Vichy war das größte Heilbad Frankreichs, und während der Saison traf sich hier tout le monde, daran hatte auch der Große Krieg nichts geändert. In Paris hörte Gabrielle immer wieder davon, die Faszination war an ihr jedoch abgeprallt wie die Regentropfen an der Karosserie ihres Automobils. Es war zwar noch längst keine Hochsaison, aber es war beachtlich, wie viel hier trotz der Jahreszeit und des Wetters los war. Wahrscheinlich brauchten sie nur einen Fuß aus dem Wagen zu setzen, um für Aufsehen zu sorgen. Zumindest Dimitri würde von der adeligen Klientel sofort erkannt werden.
»Wollen wir aussteigen?«, fragte er, scheinbar begierig auf eine Besichtigungstour. Er demonstrierte eine aufgesetzte Fröhlichkeit, die Gabrielle wunderte und die seine innere Anspannung nicht zu überdecken vermochte.
Befürchtete er etwa, dass sie ihn kompromittierte? Sie erschrak über ihren Gedanken.
In Thiers hatte er ihr geduldig und verständnisvoll zugehört, hatte voller Zärtlichkeit auf ihre Herkunft reagiert. Sie hatte sich so darüber gefreut. Warum sollte sich an seiner Meinung über sie nach fünfunddreißig Kilometern Autofahrt, die sie überdies sogar verschlafen hatte, etwas geändert haben? Das vertrautere Umfeld sorgte gewiss nicht dafür, dass er sich innerhalb einer Stunde in einen Snob übelster Sorte verwandelte.
Oder doch? Täuschte sie sich in ihm? Wie hätte er in Thiers auch anders reagieren sollen? Immerhin konnte er sie ja wohl kaum an Ort und Stelle stehen lassen.
Ein kleiner Teufel begann an Gabrielles Seele zu nagen. Ein Teufel, der sie glauben machen wollte, dass Dimitri Pawlowitsch Romanow eigentlich nicht gelassen, sondern schlichtweg emotionslos gewesen war. Seine höfische Erziehung reichte natürlich so weit, sie nicht aus ihrem eigenen Auto zu werfen, er war gewiss so freundlich, sie sogar nach Paris zu chauffieren – das lag ja auch in seinem eigenen Interesse –, aber ansonsten wäre ihre Romanze hiermit beendet. Er blickte nach ihrem Bericht über ihre Herkunft auf sie herab. Was sollte er auch sonst tun? Sie selbst betrachtete ihre Kindheit ja mit Geringschätzung. Nicht umsonst schämte sie sich für die Wahrheit.
Sie griff nach ihrer Handtasche, zog ihr Zigarettenetui hervor. »Ich glaube, wir brauchen nicht auszusteigen. Vichy ist doch nicht so wichtig für mich. Es sollte nur eine letzte kurze Station vor Paris sein. Lass uns nach Moulins fahren. Das liegt auf dem Weg nach Hause.«
Kaum hatte sie ihren Wunsch ausgesprochen, fragte sie sich, warum sie Dimitri um den Abstecher nach Moulins bat. Ihr Aufenthalt in dieser Kleinstadt war ein Meilenstein in ihrem Leben, sicher, aber ergab es noch Sinn, ihn in diesen Teil ihrer Biographie einzuweihen? Sollte und wollte er überhaupt noch wissen, was sich dort zugetragen hatte, das ihr den Spitznamen »Coco« verlieh? Es gab nichts, das so auf ihr lastete wie die Kindheit im Waisenhaus, dennoch war es wieder eine ganz andere Welt als die eines Zarewitschs. Wenn ihre Vergangenheit ihn brüskiert hatte, war ohnehin alles verloren. Für ihre Beziehung war es gleichgültig, ob sie ihren Weg noch zu Ende ging. Nicht jedoch für sie selbst. Nur für sich wollte sie nach Moulins. Nicht, um ihm noch etwas zu zeigen.
Er startete den Wagen nicht, sondern gab ihr Feuer und zündete sich selbst eine Zigarette an. »Was ist los mit dir, Coco?«
Nach einem tiefen Lungenzug sagte sie: »Es tut mir leid, ich habe mich geirrt. In Vichy gibt es nichts außer einem oder zwei Hutläden, deren Schaufensterdekorationen mich damals darauf brachten, es mit eigenen Kreationen zu versuchen. Es lohnt nicht, deshalb durch den Regen zu laufen.«
Im Prinzip stimmte das. Die Weichen waren in Moulins gestellt worden. Im viel nobleren Vichy hatte sie gehofft, ihr Glück als Sängerin in dem berühmten Opernhaus zu machen. Eine neue Mistinguett wollte sie sein. Erreicht hatte sie das bei weitem nicht. Als Sopranistin war sie nicht talentiert genug, das sah sie rückblickend ein. Doch nicht ihre Misserfolge als Sängerin waren der Grund für die Wehmut, die sie nun beschlich. In Vichy war sie von der besten Freundin verlassen worden, die sie je besessen hatte. Ein Lächeln huschte bei diesem Gedanken über ihr Gesicht. Nein, Misia war nicht vergleichbar mit Adrienne. Gabrielles Geschichte mit Adrienne begann eigentlich schon in Thiers, denn Adrienne Chanel wurde als ihre Tante geboren und war ihr dennoch so verbunden wie eine Schwester. Sie war die jüngste Tochter von Gabrielles Großeltern und die Schwester ihres Vaters, fast ebenso alt wie sie. Nach den Jahren in Aubazine hatten sie sich in Moulins wiedergesehen – und Gabrielle war es erschienen, als ginge die Sonne in ihrem Leben auf.
»Ich würde gern auf eine Teegesellschaft gehen«, sagte Adrienne und betrachtete verträumt die karge Tafel im Stift Notre-Dame. »Wie eine feine Dame.«
»Wie eine feine alte Dame«, kicherte Gabrielle. Die strenge Miene der Freundin ließ sie jedoch zögern. »Wer geht denn noch auf die Teegesellschaften außer den feinen alten Damen?«, fragte sie vorsichtig.
»Die eleganten Herren. Die, die nichts arbeiten. Die sehen viel, viel besser aus als die, die arbeiten.«
Gabrielle riss die Augen auf. »Tun die denn gar nichts?«
»Sie tun dies und das. Denke immer daran, dass es besser ist, einen Herrn kennenzulernen, der nicht arbeitet, als einen, der einer bezahlten Beschäftigung nachgeht. Na ja, du wirst selbst merken, welche Männer besser riechen.«
»Hier in Vichy habe ich zum ersten Mal gesehen, was Stil bedeutet.« Gabrielle schmunzelte in der Erinnerung, wobei sie mit ihren Gedanken noch immer mehr bei Adrienne und in Moulins war als im Kurpark Vichys. »Das, was die Damen damals auf ihren Köpfen spazieren trugen, war unglaublich. Die meisten sahen wie aufgetakelte Streitrosse aus.«
»Schade, dass wir uns nicht davon überzeugen wollen, ob die Putzmacherinnen von Vichy ihren Geschmack verbesserten. Männer haben einen Blick für Damenhüte, heißt es.« Er zwinkerte ihr zu. Offenbar wollte er die Schwermütigkeit, die zum Greifen zwischen ihnen hing, durch gute Laune vertreiben.
»Dein Geschmack ist kein Grund, nasse Füße zu bekommen«, erwiderte sie, erleichtert, ein Thema gefunden zu haben, über das sie leidenschaftlich referieren konnte, das aber ihre Seele nicht so tief berührte wie ihre Vergangenheit. »Die Hüte damals waren handwerklich gut gemacht. Daran gab es nichts auszusetzen. Sie entsprachen der Mode. Riesige Wagenräder mit viel Tüll, Stoffblumen, Federn und Vögeln. Vögel, mein Gott! Überall Blumen und Vögel aus den absurdesten Materialien.«
»Ich erinnere mich noch sehr gut an die Hüte der Zarin Alexandra. Meine Tante trug auch immer diese Kopfbedeckungen, die wie ein ganzer Wald aussahen.«
Er hatte das sicher, ohne groß darüber nachzudenken, gesagt, aber heute versetzte er ihr mit dem Hinweis auf die Stellung seiner Verwandtschaft unbewusst einen Stich.
»Für mich waren diese unerhört kostspieligen Aufbauten niemals ein Zeichen von Eleganz. Die Kunst des Weglassens ist die wahre Kunst, verstehst du?«
Wenn er den Affront bemerkte, so lächelte er darüber hinweg. »Und dann bist du nach Paris gekommen, und alle Frauen haben sich sofort in deine Hüte verliebt.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Nicht ganz so schnell und nicht ganz so einfach, aber über kurz oder lang geschah es so ähnlich. Ich lernte in einem Schloss nördlich von Paris – in Royallieu – die Schauspielerin Émilienne d’Alençon kennen. Sie mochte meine Kreationen und trug sie auf der Bühne und bei vielen gesellschaftlichen Anlässen. Ihren Freundinnen gefielen sie ebenfalls, und bald wollten sie die gleichen Modelle.« Sie kurbelte das Fenster herunter und warf den noch glimmenden Zigarettenstummel in eine Pfütze.
»Im Grunde läuft es heute nicht anders«, fuhr sie fort und schloss den Regen wieder aus. »Warum, glaubst du wohl, überlasse ich meinen Mannequins kostenlos die schönsten Kleider? Die Prinzessinnen und Gräfinnen aus deiner Heimat gehen abends häufiger aus als ich, sie bewegen sich in den gehobenen Kreisen. Wenn sie in einem Restaurant, auf einem Empfang oder einem Ball gesehen werden, ist das wie eine Modenschau. Sie laufen herum, amüsieren sich und machen nebenbei die beste Werbung für mich.«
»Das ist eine kluge Idee. Du bist eine großartige Geschäftsfrau, Coco. Übrigens, du wolltest mir verraten, warum du Coco genannt wirst – darauf warte ich noch.«
War er trotz allem, was er bislang erfahren hatte, wirklich noch interessiert an den Details ihres Lebens? Er wirkte so erfrischend fröhlich, dass sie es aus ganzem Herzen glauben mochte. Es wurde Zeit, den Teufel zu vertreiben.
»Was es mit Coco auf sich hat, erzähle ich dir in Moulins. Dort nahm diese Geschichte ihren Anfang.«
* * *
Der Glanz und die Macht der Renaissance hatten sich in Moulins nicht ins 20. Jahrhundert retten können. Der Putz bröckelte von den schönen mittelalterlichen Fassaden, und alles in allem wirkte die Kleinstadt ausgesprochen verschlafen, was nicht nur an dem schlechten Wetter lag.
»Früher hat eine Garnison für Betrieb gesorgt«, erklärte Gabrielle, als Dimitri durch die stillen Straßen am Ufer der Allier fuhr. »Ansonsten lebten und leben hier Staatsbedienstete und ihre Familien. Nicht sehr aufregend.«
»Was hat dich ausgerechnet hierhergeführt?«, wollte Dimitri wissen.
»Die Nonnen aus dem Kloster schickten mich zu den Stiftsdamen von Notre-Dame de Moulins. Wie ein lästiges Paket, für das keine Verwendung mehr besteht. Es gab aber sonst niemanden, der sich einer achtzehnjährigen Waise annehmen wollte.« Die Art und Weise, wie damals mit ihr umgegangen worden war, stieß ihr noch heute bitter auf. Sie beschloss, Dimitri nicht zu erzählen, dass sie als sogenannte Barmherzigkeitsschülerin andere Kleidung als die jungen Mädchen tragen musste, die auf Kosten ihrer Eltern in dem Heim lebten, dass sie an einem anderen Tisch saß und niedere Arbeiten verrichtete. Immerhin hatte sie auf diese Weise Aubazine verlassen dürfen. Und es hätte auch schlimmer kommen können, wenn man sie etwa als Arbeitskraft auf einen Bauernhof geschickt hätte. Deshalb sagte sie in einem etwas nüchterneren Ton: »Die Stiftsdamen gaben mir Unterricht, Logis und Essen, und …« Der Klang ihrer Stimme verwandelte sich wieder und wurde weicher. »… und ich sah Adrienne wieder. Das war das Beste, das mir passieren konnte.«
Dimitris Augenbrauen hoben sich. »Wer ist Adrienne? Ich glaube nicht, dass ich eine Freundin von dir mit diesem Namen kenne.«
»Sie war meine Tante.« Gabrielle schmunzelte bei der Erinnerung an sie. »Sie war die Schwester meines Vaters. Wir waren fast im selben Alter, und eigentlich war sie meine dritte Schwester neben Julie und Antoinette.«
»War?«
Gabrielle stieß einen tiefen Seufzer aus. »Adrienne lebt nicht mehr. Wie Julie und Antoinette. Wie meine Mutter. Ich bin die letzte der Chanel-Frauen. Ich bin übrig geblieben. Noch. Anscheinend ist es unser Schicksal, vor der Zeit zu sterben.«
Er schwieg. Vielleicht schockierte ihn ihre Befürchtung, ein kurzes Leben zu haben. Vielleicht dachte er auch an seine Mutter, die nur einundzwanzig Jahre alt geworden war. Er ließ sich nichts anmerken, lenkte den Wagen sicher, wenn auch ziellos durch die engen Gassen der Altstadt.
Als die Stille bedrückend wurde, hob Gabrielle an: »Keine Sorge! Ich habe vor, dem Unheil entgegenzutreten und – Vorsicht!« Sie kreischte auf.
Das Automobil geriet in der engen Kurve einer leicht abschüssigen Straße aus der Spur. Dimitri trat hart auf die Bremse, bevor der rechte Hinterreifen eine Straßenlaterne touchierte. Gabrielle wurde nach vorn geschleudert. Reaktionsschnell hielt sie sich am Armaturenbrett fest.
Der Wagen stand kaum, da bemerkte sie: »Wenn du so weitermachst, wird sich die Tradition der Chanel-Frauen wohl doch fortsetzen.«
Offensichtlich konnte er nicht so recht über ihren Kommentar lachen. Die Muskeln an seinem Kiefer spannten sich an. Er sagte keinen Ton, legte den Rückwärtsgang ein, wandte sich um und setzte vorsichtig zurück.
Natürlich war ihr schwarzer Humor nicht angebracht. Es war das erste Mal auf ihrer Reise, bei der sie nun schon etliche Kilometer zurückgelegt hatten, dass etwas passierte. »Du hast mich bisher wunderbar gefahren«, beeilte sich Gabrielle daher zu sagen.
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dich am Leben zu erhalten«, erwiderte Dimitri ruhig. Der Rolls-Royce bewegte sich in gemächlichem Tempo durch die Stadt, doch dann lenkte Dimitri plötzlich rechts ran und ließ das Automobil am Straßenrand ausrollen. »Lass uns aussteigen und zu Fuß gehen.«
»Es regnet«, gab sie lakonisch zurück.
Seine Mundwinkel zuckten. »Wir haben einen Schirm.«
»Ich könnte mich erkälten.« Sie schmunzelte.
»Das bringt dich nicht um.«
Wie auf ein Stichwort riss der Himmel plötzlich auf, und ein Sonnenstrahl spiegelte sich in der Kühlerhaube, blendete die beiden Insassen des Fahrzeugs.
»Anscheinend drängt uns das Schicksal zum Aufbruch«, meinte Dimitri.
»Ich hoffe, man kann im Grand Café noch immer so gut essen wie früher.«
Vorsorglich hängte sich Dimitri den Regenschirm über seinen Arm. Er benutzte ihn jedoch nicht, da es tatsächlich aufgehört hatte zu regnen. Der feuchte Straßenbelag glänzte in der Sonne wie Blei, und in den Pfützen schillerten bunte Farben. Langsam schien die Stadt wieder zu erwachen: Handwerker in Arbeitskleidung und Bürodiener in Anzügen strebten für einen Aperitif dem tabac an der Ecke entgegen, zwei Jungen in Schuluniformen wurden von ihrem Kindermädchen ermahnt, nicht durch die Wasserlachen zu waten, eine Frau mit einem Einkaufskorb eilte vorüber, ein hübsches junges Mädchen mit Glockenhut und dunklem Bubikopf verließ ein Geschäft …
Gabrielle sah dem Mädchen nach. Es erinnerte sie an sich selbst, nur trug sie damals eine Kreissäge und hatte ihre langen Haare zu einem Knoten im Nacken geschlungen, auch war ihr Rock deutlich länger gewesen. Aber die Unbekannte sah aus wie eine Doppelgängerin, wenn Gabrielle heute in derselben Situation wäre wie vor zwanzig Jahren.
»Gehen wir zur Rue de L’Horologe«, schlug sie vor. »Mal sehen, ob La Maison Grampayre noch existiert. Es war ein Laden für Kurzwaren. Adrienne und ich arbeiteten dort als Verkäuferinnen. Seide, Spitzen und Bänder erfreuten sich damals reger Nachfrage. Und Änderungen. Ich saß manchmal stundenlang an der Nähmaschine. Wahrscheinlich hatte ich meine Finger an fast jeder Hose in Moulins.« Ein albernes Kichern begleitete ihre doppeldeutigen Worte.
Dimitri ignorierte den Unterton. »Und heute sind es die Röcke und Hosen in Paris, die von deinen Händen stammen«, erwiderte er sachlich.
»Noch nicht alle«, gab sie lächelnd zurück.
»Aber sehr, sehr viele.«
Sie nickte, stolz auf die Gegenwart, mit ihren Gedanken war sie jedoch in der Vergangenheit. Sie dachte an Étienne Balsan, dessen Hosen sie unzählige Male im Hinterzimmer des Maison Grampayre gesäumt oder mit neuen Knöpfen versehen hatte. Er war damals im Rahmen seines Militärdienstes in Moulins stationiert gewesen. Von dem Mann, der ihr vom Schloss in Royallieu den Weg nach Paris bereitet hatte, würde sie Dimitri jedoch nichts erzählen. Wenn ihm dieser Teil ihrer Vergangenheit nicht von einem wohlmeinenden Freund bereits zugetragen worden war, brauchte er nichts über ihre Beziehungen jener Zeit zu erfahren. Weder über Étienne, der durch eine Erbschaft reich geworden war, noch über die anderen Offiziere, die ihren Weg nicht nur als Kunden der Kurzwarenhandlung gekreuzt, sondern auch heimliche Besuche in ihrem Zimmer gemacht hatten. Gabrielle schämte sich nicht für die damals empfundene Freiheit, die manche als Leichtsinn bezeichnen mochten. Es erschien ihr jedoch nicht klug, einem Liebhaber etwas über seine Vorgänger preiszugeben.
»Sie haben Rennpferde, Monsieur?«
»Ja. Eine ganze Menge sogar. Ja. Und Poloponys besitze ich auch.«
»Sie Glückspilz!« Gabrielle mimte Begeisterung, obwohl sie nicht die geringste Ahnung von Pferden besaß. Sie reichte dem Kunden den Uniformrock mit dem gerade angenähten Knopf. Während sie mit dem Flickwerk beschäftigt war, hatte Étienne Balsan neben ihr gestanden und ihr zugesehen. Dabei hatte er von sich und seiner Leidenschaft erzählt.
»Möchten Sie mal beim Training zusehen, Mademoiselle?«
»Das wäre großartig.«
Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Nie zuvor war Gabrielle bei den Wiesen hinter dem Fluss gewesen. Wozu auch? Sie war froh, in einer Stadt zu sein, vor dem Landleben war sie ja geflohen. Doch hier sah es anders aus als in ihrer Heimat: Das zum Ufer abfallende Grün war sorgfältig gemäht, schneeweiße Koppelzäune umschlossen die Weiden, schlanke Rosse mit glänzendem Fell grasten seelenruhig in der Sonne. Die Szenerie wirkte so wohlhabend und gepflegt, dass Gabrielle einen tiefen Seufzer ausstieß. Es war herrlich! Und die Vollblüter führten zweifellos ein besseres Leben als die Waisenkinder in Aubazine oder anderswo.
»Einen Anblick wie diesen genieße ich das ganze Jahr über, wenn ich zu Hause in Compiègne bin«, erzählte Étienne, während er den Arm um Gabrielles Schultern legte. »Wie wäre es? Würde Ihnen das auch gefallen?«
In diesem Moment wusste sie noch nicht, dass seine Einladung nur der Situation geschuldet und nicht wirklich ernst gemeint war. Aber sie wusste auch nicht, dass sie ihm eines Tages einfach in den Norden von Paris nachreisen würde. Sie wusste nur, dass diese Form des Landlebens sie glücklich machen könnte.
Die Zeit schien stillgestanden zu haben. In der Einkaufsstraße von Moulins hatte sich nichts geändert. Fasziniert und gleichsam abgestoßen schlenderte Gabrielle an Dimitris Seite an den vertrauten Schaufenstern entlang. Vor dem Maison Grampayre blieb sie stehen, legte ihren Kopf in den Nacken und deutete auf die kleinen Dachfenster einige Stockwerke über dem Geschäft. »Da oben wohnten Adrienne und ich. Es war unser erstes eigenes Reich, bevor wir uns ein Zimmer in einer anderen Gegend suchten.«
»Wieso lebte diese Adrienne in Moulins und nicht in Thiers?«
Geld, fuhr es Gabrielle durch den Kopf, es läuft immer wieder auf die finanziellen Mittel hinaus. Ihre Tante und Gefährtin war besser versorgt.
Sie antwortete: »Meine Großeltern gaben ihre jüngste Tochter zu den Stiftsdamen von Notre-Dame, weil das Institut einen guten Ruf hatte. Sie bezahlten für Adrienne. Dadurch war sie angesehener als ich, die eine Barmherzigkeitsschülerin war. Trotzdem standen wir uns vom ersten Moment an sehr nahe. Wir sind sogar zusammen als Gesangsduo aufgetreten.«
»Hier in Moulins?« Dimitri sah sich überrascht um, als könne er sich nicht vorstellen, dass in dieser spießbürgerlichen Welt ein Cabaret existiert hatte.
»Natürlich.« Gabrielle lachte. »Wohin hätten wir sonst gehen sollen? Paris war so fern wie der Mond.«
»Dann scheint dieser Ort ja doch nicht so langweilig gewesen zu sein.«
»Im Grand Café trafen sich Gott und die Welt. Na ja, überwiegend waren es die Offiziere aus der Garnison. Viele Orte, um sich zu amüsieren, gab es hier tatsächlich nicht – und ich nehme an, das hat sich auch nicht geändert. Das Grand Café ist ein schönes Lokal mit vielen Tischen, die schon vor zwanzig Jahren mit Telefonen ausgestattet waren, hohen Spiegeln und Decken. Adrienne und ich haben für die musikalische Unterhaltung gesorgt.«
»Ich verstehe. Ihr habt ›Qui qu’a vu Coco?‹ gesungen, nicht wahr?«, erinnerte sich Dimitri.
»Ja. Auch. Das Lied wurde zu einer Art Markenzeichen für mich …« Sie unterbrach sich, versank wieder in den Gedanken an die Erinnerung. »Genauso wie das Chanson von Ko-ko-ri-ko.« Sie sah ihm in die Augen. »So wurde aus Gabrielle schließlich Coco.«
»Hat Jacques Offenbach nicht auch eine Operette über einen Parfümeur geschrieben? Die Musik ergänzt dein Leben, ma chère.« Er nahm ihren Arm. »Wir sollten uns den Geburtsort von Coco Chanel ansehen. Ehrlich gesagt, jetzt habe ich Hunger.«
* * *
Am späten Abend trafen sie endlich in Paris ein. Inzwischen hatte wieder Schneeregen eingesetzt, der sie sogar bis in die Hauptstadt begleitete und vor den gelben Lichtern der Laternen tanzte. Dimitri lenkte den Rolls-Royce zur Place Vendôme und direkt vor den Eingang des Hôtel Ritz, doch Gabrielle stieg nicht aus. Auch als der Portier mit einem Schirm herbeieilte und ihren Schlag öffnete, blieb sie sitzen.
»Ich kann jetzt nicht allein sein«, sagte sie zu Dimitri. »Nicht nach den vielen Wochen mit dir. Wirst du heute Nacht bei mir bleiben?«
»Heute Nacht und jeden Tag, den du es wünschst.«
Sie nickte ernst. Dimitris Stimme klang wundervoll, regelrecht feierlich. Seltsamerweise legte sich dennoch ein Schatten über sie.
Und der verging auch nicht, als er sie später in den Armen hielt.