Kapitel 14

Zwei Tage später fuhr Gabrielle mit Dimitri nach Bel Respiro. Nicht, dass sie die Absicht gehabt hätte, fortan in Garches zu bleiben. Die Nähe des Hôtel Ritz zu ihrem Atelier war unverändert verlockend. Aber sie wollte nach Hause zu ihren Hunden – und zu den Erinnerungen an Boy. Auch musste sie sich über kurz oder lang der Begegnung mit Igor Strawinsky stellen.

Doch ihr abgelegter Liebhaber war nicht da, wie ihr Joseph gleich bei der Begrüßung mitteilte. Zugegeben, sie vermisste ihn nicht sonderlich.

Es schien sich in dem Landhaus seit ihrer Abreise in den Süden nichts geändert zu haben: Jekaterina Strawinsky war meist bettlägerig, ihr Mann glänzte durch Abwesenheit, und die gemeinsamen Kinder tollten durch das Haus und den matschigen Garten, während das Dienerehepaar für einen reibungslosen Ablauf des Haushalts sorgte, für glitzernde Lüster an den Lampen und Folianten in den Regalen entstaubte. Dennoch fühlte sich Gabrielle nicht wohl in ihrem eigenen Zuhause. Ihr kam es vor, als wäre sie in den Hotels, in denen sie mit Dimitri logiert hatte, willkommener gewesen als in Bel Respiro. Das lag freilich nicht an ihren Gästen und schon gar nicht an den fleißigen Leclercs, auch nicht an dem neuen Mann, der nun bei ihr einzog. Es war die Aura des Anwesens, die ihr unbehaglich war. Wenn sie darüber nachdachte, war es eigentlich von Anfang an so gewesen: Sie hatte Boy zwischen diesen Wänden gesucht, gefunden hatte sie ihn nicht.

Als sie sich in dem Spiegel in ihrem Badezimmer betrachtete, sah sie Traurigkeit in ihren Augen schimmern. Wie albern, dass sie noch immer nicht über den Verlust dieses Mannes hinweggekommen war. Sie weinte viel zu viel über die Vergangenheit. Dabei öffneten sich gerade jetzt so viele Möglichkeiten für ihre Zukunft. Es gab so viel zu tun. Sie hatte endlich ihr Parfüm gefunden, doch die Duftkomposition allein genügte nicht, es musste auf den Weg in die Welt geschickt werden. Überdies begleitete ein liebevoller Gefährte ihr Leben, ihre Freunde freuten sich auf ein Wiedersehen, allen voran natürlich Misia. Sie war nicht allein. Warum fühlte sie sich dennoch so elend?

Sie fasste einen Entschluss, doch als sie ihn umsetzen wollte, begann sie zu zittern und musste sich zwingen, ihre Hände ruhig zu halten.

Es erschien ihr wie ein Frevel, Boys persönliche Sachen aus dem Regal neben dem Waschbecken zu räumen. Hier hatte sie eine Art Schrein für Boy geschaffen. Auf den Borden befanden sich persönliche Dinge, die er damals in La Milanaise zurückgelassen hatte: Ein Rasiermesser, der Pinsel mit den Dachshaaren, Flakons mit seinem bevorzugten Toilettenwasser, ein Seifenstück von Yardley und ein Kamm lagen griffbereit, als käme er jeden Moment zu ihr zurück. Auch ein altes Reisenecessaire von ihm sah sie vor sich. Die typischen Toilettenartikel eines Hausherrn, der nur kurz fortgegangen war – nicht für immer. Es fühlte sich grausam an, hier Platz für die Utensilien eines anderen zu schaffen. Als wollte sie die Erinnerung an Boy aus ihrem Leben tilgen. Sie gestand sich ein, dass diese Überlegung albern war. Aber es waren nun einmal vor allem diese kleinen Dinge, an denen ihr Herz hing, die materiellen Werte in ihrer Schmuckschatulle oder etwa in ihrem Salon waren ihr weitgehend gleichgültig.

In einem Anfall tiefster Verzweiflung hob Gabrielle die Hand, um Boys Sachen ein für alle Mal aus ihrem Leben zu verbannen. Sie wollte die Gegenstände hinwegfegen, zu Boden werfen.

Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne.

Die Hand noch in der Luft, sah sie wieder in den Spiegel – und gewahrte eine Frau, aus der die Zerstörungswut sprach. Doch würde sie damit auch nur eine einzige schmerzvolle Erinnerung tilgen?

An jedem Gegenstand, der ihr von dem geliebten Mann geblieben war, hing eine Geschichte, ein gemeinsames Erlebnis. Sie würde diese Momente auch dann nicht aus ihrem Gedächtnis löschen, wenn sie zerstörte, woran sie sich sonst festhalten konnte. Es würde sie nur noch trauriger machen, wenn sie auch verlor, was ihn auf gewisse Weise für sie lebendig hielt.

Sie griff vorsichtig nach der kleinen Ledertasche. Es war wie ein Reflex, der sie das Necessaire an ihr Herz drücken und dann auf den breiten Rand des Porzellanbeckens wieder abstellen ließ. Der Kulturkoffer hatte ihn auf mancher Reise begleitet – nur nicht auf seiner letzten. Sie wusste gar nicht, wann er ihn durch einen neuen ersetzt hatte.

Durch einen Türspalt sah Gabrielle, wie Arthur Capel seine Sachen packte. Sie hatte es sich angewöhnt, ihre Augen und Ohren im Schloss von Royallieu so gut wie überall zu haben. Es war nützlich, so viel wie möglich über die Gäste zu erfahren, die Étienne beherbergte. Nicht, dass Gabrielle besonders neugierig gewesen wäre – sie interessierte sich für den Stil der Damen und den Geschmack der Herren aus den oberen Kreisen, sie wollte alles in sich aufsaugen, was sie von diesen ihr gesellschaftlich so überlegenen Herrschaften erfahren konnte, und es sich zunutze machen. Dass der attraktive Engländer mit den grünen Augen, die so klar und tief waren wie ein Bergsee, offensichtlich abreisen wollte, versetzte ihr einen Stich.

Vorsichtig trat sie mit der Fußspitze gegen die Tür. Sie schwang auf. Unwillkürlich blickte sich Gabrielle nach einem Diener um, doch der Gentleman packte seine Reisetasche erstaunlicherweise selbst. Sein Necessaire in der Hand, das er eben verstauen wollte, blickte er überrascht zu dem Eindringling auf.

Überflüssigerweise fragte Gabrielle: »Sie verlassen uns?« Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass ihr nichts Intelligenteres zu sagen einfiel.

»Ja.« Er hielt ihren Blick fest. »Leider.«

»Wann fahren Sie?«

»Ich nehme den Frühzug nach Paris.«

»Dann muss ich jetzt auch packen.«

Ohne einen weiteren Kommentar wandte sie sich zum Gehen.

Boy erwiderte nichts.

Am nächsten Morgen trafen sie sich am Bahnhof.

Gabrielle löste die Kofferschnalle aus der Öse und öffnete das kleine Gepäckstück. Unverzüglich wehte ihr das unvergessene zitronige Aroma seines Parfüms entgegen: Mouchoir de Monsieur. Als Boy zu Étiennes Clique stieß, stand diese Kreation von Guerlain unter den Lebemännern hoch im Kurs. Ein Rest war in dem schneckenförmigen Flakon verblieben, der wie das übrige Sammelsurium von Glas- und Silbergefäßen in unterschiedlichen Formen und Größen auf rotem Samt gebettet war. Seine Bürste war noch vorhanden, ebenso der Rasierhobel und eine Reihe von Klingen, allein das zur Aufbewahrung seiner Uhr vorgesehene Fach war leer. Das Fehlen dieses persönlichen Gegenstandes traf Gabrielle ins Herz. Es verwunderte sie jedoch nicht, da sie annahm, dass Boy seine Uhr zu dem Zeitpunkt getragen hatte, als sich der Stundenzeiger seines Lebens aufgehört hatte zu drehen. Um sich von dem Schmerz abzulenken, hob sie die Fläschchen nacheinander aus ihren Halterungen, betrachtete sie kurz und legte sie wieder zurück.

Plötzlich stutzte sie.

Sie hielt eine eckige Apothekerflasche aus weißem Glas mit schmalem Hals in Händen, die verschlossen wurde von einem runden Stöpsel. Gabrielle hatte keine Ahnung, wofür Boy dieses Gefäß benutzt hatte, es enthielt nichts, nicht einmal ein bestimmtes Aroma, wie sie sogleich feststellte. Sie wünschte, sie hätte darauf geachtet, für welche Flüssigkeiten er es verwendet hatte. Ob für ein Medikament, eine Tinktur oder auch nur ein Haarwasser. Die Form sprach sie an, die Schlichtheit und die Verbindung von dem kantigen Unterbau zu dem runden Verschluss wirkten elegant und irgendwie ungewöhnlich. Ein unaufdringlicher, schöner Flakon – wie geschaffen für einen umso besonderen Inhalt.

Darauf bedacht, ihren Fund nicht fallen zu lassen, stellte sie das Fläschchen auf die Ablage unter dem Spiegel. Dann schloss sie das Reisenecessaire und legte es zurück an seinen ursprünglichen Aufbewahrungsort. Sie würde Joseph bitten, einen Beistelltisch oder ein Regal für Dimitris Kulturbeutel zu besorgen. Das Badezimmer war groß genug für ein zusätzliches Möbel. Ebenso wie für einen neuen Mann. Boys Utensilien sollten jedoch von beidem unangetastet bleiben.

Nur das Gefäß aus seinem Besitz würde einen neuen Platz finden. Sie verließ das Badezimmer und nahm den Flakon mit.