Kapitel 15

Ein schüchternes Klopfen, Gabrielles »Herein!«, und dann erschien Jekaterina Strawinska im Salon.

Überrascht blickte Gabrielle von dem Stapel Papier auf, den sie auf ihren Knien balancierte. Sie saß auf einem Sofa, das Apothekerfläschchen aus Boys Reisenecessaire vor sich auf dem Tisch, daneben eine Tasse Tee und ein Teller mit Sandwiches, die Marie liebevoll zubereitet hatte, einen Bleistift in der Hand, mit dem sie Flakons und Etiketten skizzierte. Die Entwürfe mussten schnellstmöglich abgeschlossen werden, sie hatte schon viel zu viel Zeit seit ihrer Entscheidung für Ernest Beaux’ fünfte Probe auf Reisen vertrödelt. Die Herstellung der Verpackung dauerte eine Weile, das hatte man ihr bei Chiris in La Bocca ausdrücklich gesagt. Und wenn sie sich richtig erinnerte, hatte auch François Coty eine entsprechende Bemerkung gemacht. Daher hatte sie sofort nach ihrem Fund im Badezimmer angefangen und wollte eigentlich nicht gestört werden. Dass sich Igor Strawinskys Frau dazu aufraffte, ihr einen Besuch abzustatten, war jedoch zu ungewöhnlich, um verärgert zu reagieren.

Obwohl Jekaterina die meiste Zeit in ihrem Zimmer blieb, sah sie deutlich besser aus als bei Gabrielles erster Begegnung mit ihr. Die ehemalige Tänzerin war natürlich eine zarte Person, aber sie wirkte nicht mehr ganz so zerbrechlich wie noch vor einem Jahr. Sie war nach wie vor schwach und ihre Haut durchscheinend, doch nicht mehr bleich. Ihr langes, zu einem Zopf geflochtenes und um den Kopf gelegtes Haar besaß sogar ein wenig Glanz. Maries gute Küche trug gewiss ebenso wie die funktionierende Heizung dazu bei, dass sich Strawinskys Frau erholt hatte. Hinzu kamen die Konsultationen bei einem Lungenfacharzt, dessen Rechnungen Gabrielle bezahlte und die offensichtlich erfolgreich verliefen. Dennoch sah sie deutlich älter aus als die zwei Jahre, die sie von Gabrielle trennten.

»Darf ich Sie kurz sprechen?«

Gabrielle schob die Entwürfe zusammen und legte sie auf den Tisch, den Bleistift darauf. Ihr war unbehaglich zumute. Wollte Jekaterina über Igor reden? Das Ehepaar war Cousin und Cousine, kannte sich ein Leben lang. Er hatte Gabrielle gesagt, dass er seiner Frau alles anvertraute. Kam sie nun zu ihr, um für den einstigen Geliebten, ihren Mann, zu werben? Gabrielle dachte, dass sie sich nie auf die Affäre mit dem Musikgenie hätte einlassen dürfen. Alles, was mit diesem Mann zusammenhing, war einfach zu anstrengend.

Mit einem freundlichen Lächeln kam sie ihren Gastgeberpflichten nach. »Setzen Sie sich zu mir. Möchten Sie auch einen Tee?«

»Ich wollte Sie nicht stören …« Verlegen rang Jekaterina die Hände.

»Das haben Sie bereits getan. Deshalb sollten wir es uns gemütlich machen.«

»Ja, dann …« Jekaterina sprach ihren begonnenen Satz wieder nicht zu Ende. Aber sie nahm auf einer Sesselkante Platz.

Gabrielle hob die kleine Glocke von dem Couchtisch und klingelte nach Joseph. Sie bestellte eine zweite Tasse und Schnittchen für Jekaterina, obwohl diese nicht sagte, ob sie das wolle. Als ihr Diener gegangen war, faltete Gabrielle die Hände in ihrem Schoß, um Geduld zu demonstrieren. Es war nur allzu deutlich, dass das Gespräch schwierig werden würde.

»Ich freue mich, dass Sie mir Gesellschaft leisten«, behauptete sie, während sie einen verstohlenen, sehnsuchtsvollen Blick auf ihre Zeichnungen warf.

Jekaterina zögerte, dann brach es aus ihr heraus: »Es ist mir wichtig, dass Sie von den Veränderungen durch mich erfahren und nicht von einem Dritten. Eigentlich sollte Monsieur Strawinsky mit Ihnen sprechen, aber Sie haben ihn gerade verpasst. Er ist gestern nach Paris gefahren.« Das Reden strengte sie an. Sie atmete schwer.

»Das ist natürlich schade«, räumte Gabrielle ein, obwohl sie sich der Konfrontation gern noch eine Weile entzog. »Aber es wird sich gewiss bald die Gelegenheit zu einer … Aussprache ergeben.«

»Ja. Natürlich. Das wird es bestimmt.« Die Kranke schlug sich die Hand vor den Mund und hustete.

Es war offensichtlich, dass Jekaterina sehr aufgewühlt war. Und in dem Moment, in dem Joseph ein Tablett mit der zweiten Teetasse und einem Teller mit weiteren Sandwiches brachte, begriff Gabrielle, warum.

Sie war fest davon überzeugt, dass die arme Frau befürchtete, das Dach über ihrem Kopf zu verlieren. Als wenn Gabrielle sie und ihre Kinder einfach vor die Tür setzen wollte, weil sie sich für einen anderen Mann als Igor Strawinsky entschieden hatte.

Gabrielle schickte ihren Diener mit einer kleinen Handbewegung hinaus und beugte sich vor, griff nach der Teekanne und schenkte der anderen ein. Sie wartete, dass Jekaterina ihre Sorgen in Worte fasste, doch nichts geschah.

Nach einer Weile hob Gabrielle an: »Sie sind und bleiben mir ein gerngesehener Gast, Jekaterina.«

»Was?« Sie sah sie bestürzt an.

»Es liegt mir nichts ferner, als Sie aus dem Haus zu weisen, nur weil …«

»O nein!«, rief Jekaterina erschrocken aus. Sie gestikulierte hektisch, während sie sprach, ihre Hände flatterten wie aufgeregte Schmetterlinge umher und verschütteten beinahe den Tee. »Nein, nein, nein. So etwas Niederträchtiges würde ich Ihnen nie unterstellen. Sie waren so gut zu uns wie niemand zuvor, seit wir Russland verlassen mussten.«

Verwirrt durch ihren Irrtum wartete Gabrielle stumm ab.

»Monsieur Strawinsky … Igor … Er liebt eine andere Frau!« Nach dieser Feststellung sackte Jekaterina in sich zusammen, als habe sie all ihre Kraft für diesen einen Moment aufgespart und nun verloren.

Gabrielle war baff. Die Neuigkeit traf sie völlig unvorbereitet. Sie hatte erwartet, dass Igor Strawinsky nach dem Ende ihrer Affäre zurück zu seiner Frau fand. Er war schließlich ein Familienmensch, daran hatte er niemals einen Zweifel gelassen. Dass er sich so rasch eine neue Geliebte suchte, störte sie maßlos. Sie empfand es als Verrat. Nicht an sich persönlich, sondern an Jekaterina, seinen Kindern – und letztlich auch an ihrer Gastfreundschaft. Erwartete er womöglich, dass sie noch eine Person in ihrem Haushalt aufnahm? Ihre Verwunderung verwandelte sich langsam in Ärger.

In dem Salon herrschte bedrückende Stille. Nur das leise Klirren des Porzellans war zu hören, Jekaterinas rasselnder Atem, irgendwo im Haus bellten die Hunde, die Kaminuhr tickte. Für Gabrielle, die harmonisches Schweigen sehr schätzte, wurde diese angespannte Ruhe zu einer Belastungsprobe. Ihre Ungeduld begann die Oberhand zu gewinnen.

»Um wen handelt es sich?«, wollte sie schließlich wissen. »Kenne ich die Dame?«

Jekaterinas blasse Wangen röteten sich. »Ich nehme an, dass Sie sich schon einmal begegnet sind. Monsieur Strawinsky hat sich in Vera verliebt, die Frau von Sergej Sudeikin. Er will, dass sie sich scheiden lässt.« Ihre letzten Worte wurden begleitet von einem leisen Röcheln. Endlich griff sie nach ihrer Tasse, um den Husten mit dem Tee hinunterzuspülen. Anschließend fügte die betrogene Ehefrau hinzu: »Madame Sudeikina hat Igor die Karten gelegt. Sie sagt, die Karten lügen nicht. Das tun sie wirklich nicht, glaube ich. Und es steht darin, dass sie füreinander geschaffen sind – bis in den Tod.«

»Die Karten lügen vermutlich nicht«, murmelte Gabrielle betroffen. Sie war zwar ausgesprochen abergläubisch, aber in diesem Fall wollte sie nicht so recht an höhere Mächte glauben. Vielmehr fürchtete sie, dass Vera Sudeikina ein wenig nachgeholfen hatte. Gewiss war sie der Anziehungskraft des Komponisten erlegen und versuchte nun mit allen Mitteln, ihn an sich zu binden. Und Gabrielle kannte Strawinsky gut genug, um zu wissen, dass er darauf hereinfiele. Andererseits war ihm eine vor Lebenslust sprühende Person sicher eine bessere Partnerin als die meist bettlägerige Jekaterina. Sie war Vera Sudeikina ein- oder zweimal bei Djagilew begegnet, eine schöne Frau, eine, die die russische Seele verstand. Aber auch eine, die anscheinend genau wusste, was sie wollte.

»Vielleicht lügen die Karten doch«, konstatierte Gabrielle plötzlich. »Man sollte sich nie nur auf eine einzige Meinung verlassen.«

Ein feines Lächeln glitt über Jekaterinas Gesicht. »Monsieur Strawinsky ist ganz vernarrt in den Gedanken, dass wir alle zusammenleben …«

»Oh!«

Ungeachtet Gabrielles Einwurf fuhr die Gattin fort: »Er kann nicht ohne seine Kinder sein. Und er ist so anständig zu mir. Er möchte mich nicht verlassen.«

Wenigstens das, dachte Gabrielle grimmig. Während sie überlegte, wo sie Vera Sudeikina in diesem Haus unterbringen könnte und ob sie diese ménage à trois überhaupt unterstützen wollte, sprach Jekaterina weiter. Doch Gabrielle war zu sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt, um dem mit keuchendem Atem hervorgestoßenen Monolog zu lauschen. Erst als ein ihr wohlbekannter Ortsname fiel, horchte sie auf.

»Was wollen Sie in Biarritz?«, entfuhr es ihr.

Jekaterina sah sie irritiert an. »Darf ich bitte noch etwas Tee haben?« Ihre Stimme klang heiser.

»Wie unaufmerksam von mir. Verzeihen Sie.« Gabrielle beeilte sich, ihr nachzuschenken.

Jekaterina nahm hastig einen Schluck. Nun erklärte sie klar und mit festem Tonfall: »Monsieur Strawinsky möchte mit uns allen nach Biarritz ziehen. Er sagt, das Klima dort wäre das beste für meine Lungen.«

»Meinen Sie umziehen

»Igor will ein Haus für die Kinder, für mich und seine neue Partnerin an der Atlantikküste suchen. Sie verstehen das, nicht wahr? Er ist so ein Familienmensch.«

Was für eine Überraschung. In ihrer Abwesenheit schien sich allerlei zugetragen zu haben, dachte Gabrielle. Ihr ehemaliger Geliebter schmiedete Pläne mit einer anderen, die seine Frau ohne Widerspruch akzeptierte. Das klang nach Harmonie und kam Gabrielles Bedürfnissen durchaus entgegen. Dennoch kostete es sie einige Mühe, ihre Fassung zurückzugewinnen. Es war tatsächlich gut, dass Jekaterina ihr von den Veränderungen erzählte. Wäre es Misia, sie würde ihr nicht glauben. Selbst Strawinskys Worte würde sie in Zweifel ziehen und für den blinden Eifer eines liebenden Mannes halten. Durch Jekaterina bekam die Geschichte eine andere Dimension.

Gabrielle beugte sich vor und ergriff Jekaterinas kalte Hände. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Glück. Wenn ich für Sie da sein kann, Jekaterina, werde ich zur Stelle sein. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Da wäre noch etwas …« Jekaterina senkte beschämt die Lider.

»Ja?«

»Der Scheck …« Plötzlich wich die Zuversicht in Jekaterinas Miene purer Verzweiflung. Sie schluckte. »Ich weiß, dass Sie Monsieur Strawinsky jeden Monat einen Scheck ausstellen. Wäre es möglich, dass Sie ihm diesen Kredit weiterhin gewähren? Ich meine, über unseren Umzug nach Biarritz hinaus.«

Gabrielle lächelte. »Ich hänge nicht am Geld – und ich habe ziemlich viel davon. Seien Sie unbesorgt, ich werde weder Sie noch Igor jemals vergessen.«

Zu Gabrielles größter Bestürzung sprang Jekaterina auf, um vor ihr auf die Knie zu fallen.