Es war für Marija Pawlowna Romanowa absolut unverständlich, wie ihr Bruder so viele Wochen in Südfrankreich turteln konnte, während sich in ihrer Heimat eine neue Revolution anbahnte. In den Emigrantenkreisen zwischen Berlin und London wurde über nichts anderes gesprochen als über die Nachrichten von Unruhen, die bereits seit Februar andauerten. Hungersnöte und Unzufriedenheit mit den regierenden Bolschewiki führten zu Streiks der Arbeiter und dem Matrosenaufstand in der Festung Kronstadt vor Petrograd. Die Menschen forderten Neuwahlen, Rede- und Pressefreiheit, die Beseitigung der Privilegien für Parteimitglieder, Gleichheit bei der Lebensmittelzuteilung, die Möglichkeit für Handwerker, eigene kleine Betriebe zu gründen, und die Verfügungsfreiheit der Bauern über ihr Land.
Zwar war der Matrosenaufstand von der Roten Armee blutig niedergeschlagen worden, doch die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Russland erfasste die Flüchtlinge in Paris wie eine Welle und riss selbst die größten Skeptiker mit sich. Es wurde von einer neuerlichen Inthronisation der Romanows in einem demokratisch-parlamentarischen Russland gesprochen, ähnlich dem Vorbild der britischen Krone. Das war der Moment, in dem Dimitri seine Ansprüche anmelden sollte. Doch der war mit Coco Chanel auf Reisen. Seine Anhänger mussten sich gedulden, bis er wieder in Paris weilte.
Marija hasste nichts so sehr wie Untätigkeit. Die Lethargie ihres damaligen Mannes war der Grund, warum sie vor acht Jahren einen Skandal riskierte und sich von Prinz Wilhelm von Schweden scheiden ließ, sogar die Trennung von ihrem damals erst vierjährigen Sohn Lennart nahm sie für ein selbstbestimmtes, freies Leben in Kauf. Sie hatte sich nie darauf verstanden, die Hände ruhen zu lassen wie andere Prinzessinnen. In Stockholm erzwang sie von ihrem Schwiegervater, dem König, die Erlaubnis, die Kunstgewerbeschule zu besuchen, sie bildete sich im Zeichnen weiter, lernte alles über Fotografie. Als nach ihrer Heimkehr an den Zarenhof der Große Krieg ausbrach, meldete sie sich sofort als Krankenschwester an die Front. Trotz vieler schlechter Erfahrungen glaubte sie unverändert an die Liebe und heiratete kurz vor Ausbruch der Oktoberrevolution den Fürsten Sergej Michajlowitsch Putiatin. Doch auch auf dieser Ehe lag kein Glück. Jedenfalls nicht das, das sie sich erhofft hatte. Sie gebar einen Sohn, aber auch diesen musste sie auf der Flucht in Bukarest bei ihren Schwiegereltern zurücklassen, er starb kurz darauf. Mit ihrem Gemahl ging sie nach London, dann nach Paris. Wie sich zeigte, war Sergej unfähig, sich der Realität anzupassen und Geld zu verdienen. Marija verkaufte ihren Schmuck, um zu überleben, und nähte und stickte, wann immer ihr jemand ein Modell abkaufte. Viel verdiente sie nicht, aber ihre Tatkraft blieb trotz der Rückschläge ihr zuverlässigster Motor.
Pünktlich zur Feier ihres einunddreißigsten Geburtstages in einem kleinen Kreis russischer Freunde war Dimitri zwar wieder in Paris aufgetaucht, aber es hatte sich keine Gelegenheit ergeben, ihn zur Seite zu nehmen. Dabei musste sie ihren Bruder dringend sprechen, um ihm zu berichten, dass nicht nur er als neuer Zar im Gespräch war, sondern auch ihr Cousin Kyrill Wladimirowitsch und ihr Onkel Nikolai Nikolajewitsch. Sie war überzeugt davon, dass er noch nichts davon wusste, weil der Kreis französischer Künstler, mit dem er sich neuerdings umgab, sicher keine Ahnung davon hatte – oder sich schlichtweg nicht für Politik interessierte. Die konservativste Gruppierung der Auslandsrussen setzte auf Kyrill, was gewiss auch am legendären Ehrgeiz seiner verstorbenen Mutter lag; die modernen Exilanten indes wollten Dimitri auf dem Thron wissen. Für Marija stand außer Frage, dass Dimitri unverzüglich Kontakt zu seinen Anhängern aufnehmen musste, um seinen Thronanspruch zu manifestieren.
Als sie im endlich frühlingshaften Paris nach einem Taxi Ausschau hielt, um sich zu einer Verabredung mit Dimitri im Ritz zu begeben, war sie sich bewusst, dass sie mehr einer Bäuerin glich als einer Großfürstin. Sie hatte nie gelernt, sich die Haare vorteilhaft aufzustecken oder sich selbst anzukleiden. Mangels einer Zofe legte sie seit ihrer Flucht aus Petrograd nicht mehr besonders großen Wert auf ihr Aussehen, blickte nicht einmal regelmäßig in den Spiegel, sondern nahm ihre Garderobe wie auch ihre Frisur als lästige Notwendigkeit, die schon irgendwie passte. In nobler Umgebung war ihre mangelnde Eitelkeit jedoch fehl am Platz, das war ihr durchaus bewusst.
Und offenbar hielt ihr Äußeres die Pariser Taxifahrer davon ab, sie aufzunehmen. Die Chauffeure fuhren trotz ihres eifrigen Winkens mit einem Achselzucken an ihr vorüber. Anscheinend trauten ihr die Männer nicht zu, dass sie genug Geld besaß. Wenn die wüssten!
In ihrer Tasche befanden sich die Perlen ihrer Großmutter. Die atemberaubend schönen, langen Ketten der Zarin Maria Alexandrowna hatte Marija heimlich in Besitz nehmen und außer Landes schaffen können. Wie ihre eigenen Juwelen. Doch im Gegensatz zu ihrem persönlichen Schmuck hatte sie sich bislang gescheut, das wertvolle Erbe zu Geld zu machen. Jetzt war es ihrer Ansicht nach an der Zeit, die sogenannten Romanow-Perlen dem Zarewitsch zu übergeben. Es konnte gut sein, dass Dimitri die kostbaren Schnüre brauchte, um die Durchsetzung seines Thronanspruchs zu finanzieren.
Endlich hielt ein Wagen neben ihr an.
»Wohin, Mütterchen?«, fragte der Fahrer mit deutlich slawischem Akzent.
Die Anrede entsetzte Marija. Sie musste sich wohl tatsächlich mehr um Äußerlichkeiten als um Politik kümmern. Als sie ihr Ziel angab, legte sie ihre kaiserliche Überheblichkeit in ihren Ton: »Bringen Sie mich ins Hôtel Ritz an der Place Vendôme.«
»Bosche moj!« Der Chauffeur, von dem Marija bisher nur den Hinterkopf gesehen hatte, wandte sich zu ihr um. »Mein Gott!« Er bekreuzigte sich nach orthodoxer Art. »Kaiserliche Hoheit, es ist mir ein Vergnügen, Sie fahren zu dürfen.«
»Vielen Dank«, erwiderte Marija automatisch. Doch dann erkundigte sie sich vorsichtig: »Kennen wir uns?« Dabei erübrigte sich die Frage eigentlich. Denn wenn der Russe sie sogar durch den Rückspiegel und in ihrer schlichten Montur erkannte, mussten sie sich in der Vergangenheit mindestens einmal persönlich begegnet sein. Fotografien, die von ihr kursierten, zeigten sie stets nur in glanzvoller Aufmachung.
»O ja. Es war auf einem Ball im Alexanderpalast. Mir wurde sogar die Ehre zuteil, mit Ihnen zu tanzen. Und dann sahen wir uns fünfzehn im Lazarett in Pskow wieder. Ich habe Ihnen mein Leben zu verdanken.«
Marija schämte sich, aber sie erinnerte sich nicht an das freundliche, von Falten zerfurchte Gesicht des Mannes. Um ihn nicht zu enttäuschen, nickte sie trotzdem.
Er durchschaute sie. »Ich bin Fürst Paul Nikolajewitsch Soljaschin«, stellte er sich vor. »Aber das sieht man mir heute nicht mehr unbedingt an.«
Mir sieht man die Großfürstin auch nicht mehr unbedingt an, fuhr es Marija durch den Kopf. Gleichzeitig setzte sich ein Rädchen in ihrem Hirn in Bewegung. Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild eines strahlenden, jugendlichen Helden auf. Traurig, wie stark ihr Landsmann in der Emigration gealtert war. Unwillkürlich verglich sie ihn mit ihrem gutaussehenden Bruder, der sich seine Attraktivität bewahrt hatte.
»Ja«, bestätigte sie sanft, »ich erinnere mich an Sie, Fürst Soljaschin. Aber jetzt sollten Sie losfahren, sonst komme ich zu spät zu meiner Verabredung.«
Während er das Gaspedal durchtrat, fragte sie sich, wie viel Trinkgeld sie einem Herrn aus ihren Kreisen geben sollte. Ihren alten Kreisen.