Kapitel 17

Natürlich war Misia ihre erste Besucherin. Als sich herumsprach, dass Gabrielle wieder in Paris weilte, stand die Freundin – wie immer unangemeldet – in ihrem Atelier. Ihre Einmischung in Gabrielles Privatleben kommentierte sie mit keinem Wort. Sie benahm sich, als habe es das Telegramm an Strawinsky nie gegeben. Und Gabrielle tat ihr den Gefallen, die Sache unter den Tisch fallenzulassen. Misia hätte ohnehin jede Beteiligung an der Intrige abgestritten, daran bestand für Gabrielle kein Zweifel. Also erübrigte sich jedes Gespräch darüber. Sie umarmte sie so herzlich, als wäre nichts gewesen.

»Ich möchte alles wissen«, flötete Misia und warf ihren Mantel mit einer eleganten, nachlässigen Geste über die Lehne eines Sessels. »Du musst mir alles über deine Reise und über deinen Großfürsten erzählen.«

»Nimm bitte Platz«, sagte Gabrielle schmunzelnd, doch Misia hatte sich bereits gesetzt.

»Wie geht es Dimitri Pawlowitsch?«

Gabrielle ließ sich neben ihrer Freundin auf dem Sofa nieder und zündete sich eine Zigarette an. »Ich hoffe, dass es ihm gutgeht.« Mit jedem Wort stieß sie kleine Rauchwölkchen aus. »Er ist nach Berlin gefahren, um sich mit ehemaligen hochrangigen Militärs zu treffen. Ich habe keine Ahnung, warum die russsischen Generäle alle nach Deutschland ins Exil gegangen sind, aber dort wird wohl schon seit Wochen über eine Neuordnung in Russland diskutiert.«

»Heißt das, dass er seinen Anspruch auf den Thron angemeldet hat?« Misia schnappte vor Aufregung nach Luft.

»Ja. Natürlich hat er das.«

Misia klatschte in die Hände. »Meine Güte, wenn ich mir vorstelle, dass ich dir beim Aussuchen helfen durfte, als du ihm neulich eine anständige Kollektion Seidenkrawatten bei Hermès gekauft hast! Schlipse für den Zaren – das wäre ein origineller Titel für meine Memoiren.«

»Du kommst wirklich auf Ideen, Misia«, lachte Gabrielle und verzieh Misia in diesem Moment die Intrige noch einmal. »Ich habe dich vermisst.«

»Sechs Wochen Urlaub. Du musst verrückt gewesen sein. Ist dir nicht furchtbar langweilig geworden?«

»Überhaupt nicht.« Gabrielles Lachen verwandelte sich in ein stilles Lächeln. Sie dachte einen Moment lang zurück, dann wiederholte sie: »Nein, wirklich nicht. Es ist sehr angenehm, mit Dimitri zu reisen. Wir verstehen uns gut. Auf gewisse Weise ergänzen wir uns sogar. Er ist ein wunderbarer Freund.«

»Mehr nicht?« Misia klang enttäuscht. »Dabei wollte ich gerade mit dir darüber reden, was ich bei seiner Krönung trage. Die dann natürlich auch deine Krönung sein dürfte. Hat er dir schon einen Antrag gemacht?«

»Hör auf mit diesem Unsinn!«

»Also hat er dich noch nicht gefragt«, konstatierte Misia. »Nun ja, er sollte es tun. Eine Frau wie dich hat man im Winterpalast noch nicht gesehen, Coco. Das wird ein herrlicher Spaß.«

Dimitris Abreise nach Berlin war so überstürzt geschehen, dass Gabrielle noch gar keine Zeit hatte, über die Folgen seiner Konferenzen nachzudenken. Was wäre, wenn er tatsächlich der Nachfolger des unglücklichen Zaren Nikolaus II. werden würde? Sicher, sie hatte hin und wieder davon geträumt, seine Frau zu werden. Aber waren diese Träume nicht aus der Sorglosigkeit ihrer romantischen Stimmung in Südfrankreich geboren? In Paris, inmitten ihres Alltags, schien ihre Position wie von selbst wieder geradegerückt worden zu sein. Inzwischen erwartete Gabrielle nichts von Dimitri, am allerwenigsten einen Heiratsantrag.

»Wir werden sehen, welche Nachrichten Dimitri aus Berlin mitbringt«, versuchte Gabrielle, die Begeisterung ihrer Freundin zu dämpfen. »Seine Abreise verlief so hastig, weil er nicht der einzige Thronanwärter ist. Ein ehrgeiziger Cousin namens Kyrill scheint ihm im Wege zu stehen, und der wohnt im Deutschen Reich. Kyrill ist mit einer Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha verheiratet, das Paar floh mit seinen Kindern vor den Bolschewiki zu seinen Schwiegereltern nach Coburg. Er hat es wohl nicht so weit nach Berlin wie Dimitri.«

»Seit der Ermordung des Zaren sprach meine Tante Maria Pawlowna von nichts anderem, als dass ihr ältester Sohn die Nachfolge antreten soll«, erklärte Dimitri, als er neben Gabrielle auf der Rückbank eines Automobils saß. Ein Chauffeur fuhr sie zur Gare du Nord, wo Dimitri den Zug nach Berlin nehmen wollte, und Gabrielle ließ sich eine rührende Abschiedsszene nicht nehmen. »Kyrill hat sich kurzfristig sogar auf die Seite der Roten geschlagen. Es ist sicher bedauerlich, dass Tante Maria die aktuelle Entwicklung nicht mehr erlebt hat. Sie wäre sehr glücklich darüber, aber sie hätte mir das Leben deutlich schwerer gemacht, als es allein durch die Erinnerung an sie schon ist.«

Der Name brachte in Gabrielle eine Saite zum Klingen. »Maria Pawlowna?«, wiederholte sie nachdenklich. »Meinst du die Großfürstin, die so eng mit Djagilew verbunden war?«

»Sie schenkte ihm ihr parfümiertes Taschentuch – ja.« Dimitri lächelte trotz der Anspannung, die ganz offensichtlich auf ihm lastete. »Wir sprachen damals in Venedig über sie. Durch meine Tante hast du indirekt den Duft Bouquet de Catherine kennengelernt

»Die Familienverhältnisse der Romanows sind so herrlich verzwickt«, sagte Misia und kicherte. »All diese Intrigen und Mesalliancen. Unser Freund Marcel Proust sollte einen Roman darüber schreiben, sofern er jemals die verlorene Zeit findet.« Sie amüsierte sich köstlich über ihren Witz, der auf den Romanzyklus des Schriftstellers abzielte, den er seit einigen Jahren in verschiedenen Teilen herausbrachte und noch nicht abgeschlossen hatte.

»Auch mich faszinieren die Geschichten aus dem alten Russland. Ich trage mich sogar mit dem Gedanken, für meine nächste Kollektion Anleihen bei der slawischen Kultur zu nehmen. Kosakenhemden, Stickereien – so etwas.«

»Aber bitte keine Troddeln«, begehrte Misia auf. Sie gestattete sich eine wegwerfende Handbewegung. »Ich kann mir zwar überhaupt nicht vorstellen, wie ausgerechnet du diese Art der Folklore präsentieren möchtest, aber du sprachst bereits davon, und gut, ich lasse mich überraschen. Bis zu deiner nächsten Kollektion ist noch ein Jahr hin. Wer weiß, was bis dahin alles passiert. Zunächst einmal wolltest du den Parfümeur der Romanows in Cannes treffen, wenn ich mich recht entsinne. Bist du in Sachen Eau de Chanel weitergekommen?«

»O ja!« Gabrielle drückte den Zigarettenstummel in einem Aschenbecher aus und stand auf, um an ihren Schreibtisch zu treten.

Sie öffnete eine Schatulle und entnahm dieser eine mit einem Korken verschlossene Phiole, in der eine goldgelbe Flüssigkeit schimmerte. In ihren braunen Augen tanzten strahlende Punkte wie Sterne am dunklen Himmel, als sie die Kostbarkeit betrachtete. Sie schwenkte das Glasröhrchen leicht hin und her, bevor sie es Misia brachte und öffnete. Sofort verbreitete sich das süßlich-würzige Aroma des Parfüms.

»Mon dieu!«, entfuhr es Misia. »Was für ein Duft! Coco – er ist herrlich!«

Gabrielle nickte stolz. Sie tropfte einen Hauch der Essenz auf Misias Handgelenk. Dann senkte sie ihre Nase über das Fläschchen und sog die Mischung der achtzig verschiedenen Ingredienzien tief ein. Es war vollkommen gleichgültig, wie oft sie an dieser Probe schnupperte, sie entdeckte immer wieder eine neue Nuance. Es war wie eine nie endende Begegnung ihrer Sinne mit absoluter Vollkommenheit.

»Darf ich vorstellen?«, sagte sie feierlich. »Chanel No 5

»Eine Zahl als Namen?« Misia nuschelte, weil sie ihren Arm vor ihr Gesicht hielt, um den Duft in seiner Entfaltung einzuatmen. »Warum nicht?« Offensichtlich war sie mit Gabrielles Entscheidung einverstanden, denn sie insistierte nicht. Stattdessen meinte sie: »Aber du wirst diesen wundervollen Duft doch wohl nicht in diesem Gefäß aus dem Chemielabor vertreiben wollen. Das ist so unromantisch. Und elegant ist es auch nicht. Eher abschreckend.«

»Natürlich nicht«, sagte Gabrielle. Sie verschloss die Phiole wieder mit dem Korken und legte sie zurück in die sichere Dunkelheit der Schatulle. »Meine Entwürfe für den Flakon orientieren sich an einem Fläschchen aus Boys Reisenecessaire. In der Glasmanufaktur Brosse wird bereits an der Umsetzung gearbeitet.« Sie entnahm ihrem Schatzkästlein ihr Fundstück aus dem Badezimmer.

Misia war inzwischen neben sie getreten und blickte ihr neugierig über die Schulter. »Wie ungewöhnlich!«, kommentierte sie die eckige Flasche mit dem runden Stöpsel. »Sehr schlicht und elegant. Dadurch sticht der Flakon aus der Masse heraus. Der Jugendstil hat sich von den Duft- und Kosmetikverpackungen ja noch immer nicht verabschiedet. Eine bemerkenswerte Idee, Coco. Du widersprichst wieder einmal der gängigen Linie. Aber das ist ja dein Markenzeichen.«

»François Coty hat gesagt, ein Parfüm darf man nicht nur riechen, man muss es auch sehen. Er ist ein Meister. Zweifellos mein Mentor.«

»Übergibst du dem Napoleon der Kosmetikindustrie die Herstellung?«

»Nein. Das kann ich nicht, selbst wenn ich es wollte. Ernest Beaux, mein Parfümeur, arbeitete in Moskau für Rallet und ist nun als technischer Direktor bei Chiris angestellt. Ehrlich gesagt finde ich ein kleines Unternehmen für meine Ansprüche ohnehin besser. Es soll ja gar keine so große Auflage von Chanel No 5 hergestellt werden, dass sich der Aufwand für eine Fabrik im Ausmaß der Coty-Werke lohnen würde.«

»Sehr weise.« Misia nickte. »Über kurz oder lang würde dir der charmante François sicher jede Eigenständigkeit absprechen. Coty ist ein Despot, etwas anderes kann man über ihn nicht sagen. Aber ein netter Diktator – und ein kluger. Das muss man ihm zugestehen. Du solltest jeden seiner Ratschläge beherzigen.«

»Das habe ich vor.«

Misia neigte den Kopf: »Was ist mit der Verpackung? Diese hübsche kleine Flasche benötigt einen Karton mit einem Schriftzug.«

»Ich habe noch keine Idee. Jedenfalls möchte ich keine Jungfrauen, die Destillationsgefäße in Händen halten, auf der Schachtel haben.«

»Du wirst dich mit einem Entwurf beeilen müssen. Die Herstellung der Verpackung dauert sicher ebenso lange wie die Arbeit der Glasbläser.«

»Ich weiß«, seufzte Gabrielle. Sie legte das Apothekerfläschchen zurück in die Schatulle und schloss sorgfältig den Deckel.

Als ihre Hände wieder frei waren, griff sie sofort nach Zigaretten und Feuerzeug. Sie bot Misia davon an, aber die schüttelte den Kopf, das Handgelenk wieder unter der Nase. Nachdem sie sich eine Zigarette angezündet hatte, gestand Gabrielle: »Leider fällt mir nichts ein, und je mehr ich mit mir hadere, desto leerer ist mein Kopf.«

»Hm«, machte Misia, schloss ihre Augen und sog den Duft ein. »Aus welchen Blüten besteht dein Eau de Chanel – pardon, Chanel No 5

»Jasmin …«, hob Gabrielle an, doch Misia unterbrach sie, bevor sie mit ihrer Aufzählung fortfahren konnte: »Wunderbar! Das sind weiße Blüten. Ich finde, das spricht für einen weißen Karton. Und dazu eine schwarze Schrift …«

»Weiß. Schwarz. Ja, das sind meine Farben.«

»Eben. Coco, diese Kombination entspricht genau deinem Stil. Warum sonst hast du dein Haus weiß und die Fensterläden schwarz streichen lassen?«

»Schwarz auf weiß«, wiederholte Gabrielle nachdenklich. »Ist das verführerisch? François Coty hat mich immer wieder darauf hingewiesen, dass ein Parfüm verführen soll …«

»Oh, das tut es ganz gewiss«, versicherte Misia.

»Er meinte auch die Verpackung, Misia.« Gabrielle runzelte die Stirn. »Schwarz auf weiß. Ich bin mir nicht sicher, aber … Ja, es könnte wohl gehen. Natürlich darf das Päckchen nicht wie eine Tablettenschachtel aussehen. Doch aus einem sehr hochwertigen Material und mit einem eleganten Logo ist es sicher perfekt.« Sie lächelte Misia durch den Rauch ihrer Zigarette an. »Und Perfektion ist das Einzige, was wir akzeptieren. Auch so ein Satz von unserem Freund.«

»Chanel No 5, Coco Chanel, Chanel No 5 …«, murmelte Misia in steter Wiederholung vor sich hin. Plötzlich sah sie auf. »Besitzt du noch die alten Dokumente von Katharina von Medici?«

»Natürlich. Das ist ja kein Buch, das man verleiht und danach vergisst.«

»Schau dir das unbedingt noch einmal an. Ich glaube, irgendwo das Monogramm der Königin gesehen zu haben. Ich weiß nicht mehr genau, wo, aber ich denke, ihr Wappen befand sich auf den Papieren. Ansonsten sollten wir einen Besuch im Louvre einplanen. Oder eine Fahrt zu den Schlössern an der Loire, wo sie gelebt hat. Wir werden es schon finden …«

»Misia!«, stoppte Gabrielle die Begeisterungsstürme der Freundin. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Erklär mir das bitte, bevor du mich auf Reisen schickst.«

»Ich spreche von dem Monogramm Katharina von Medicis. Im Französischen nennen wir sie Catherine de Médicis, nicht wahr? Ihr Monogramm ist ein verschlungenes doppeltes C. Der Anfangsbuchstabe ihres Namens. Und der deines Namens.«

Erstaunt hoben sich Gabrielles Augenbrauen. »Bist du sicher?«

»Bewahrst du die alten Schriften hier auf oder in Garches?«

Gabrielle zeigte mit einer vagen Handbewegung in Richtung eines Schranks.

»Lass uns gleich nachsehen.« Misia grinste verschwörerisch. »Wenn wir auf diese Weise dein Logo finden, hat es sich wenigstens für dich gelohnt, sechstausend Francs für die vergilbten Papiere auszugeben.«