Während über Paris der Duft von Frühling hing, die Kastanien blühten und die Schwäne mit den Lastschiffen auf der Seine um die Wette schwammen, kam Gabrielle kaum noch von ihrem Schreibtisch fort. Sie fuhr so selten nach Bel Respiro, dass sie den Flieder nicht in voller Blüte sah. Selbst die Feierlichkeiten zum hundersten Todestag von Napoleon nahm sie nur am Rande wahr.
Die Bestellungen für die aktuelle Kollektion, die sie am fünften Mai in ihren Räumen in der Rue Cambon gezeigt hatte, mussten bearbeitet und angepasst werden. Ihre Kundinnen gaben sich die Klinke in die Hand, die Lieferanten brachten Stoffe, die wiederum von Boten mitsamt den Schnittmustern zu den vielen Näherinnen getragen wurden, die Gabrielle im Umkreis von Paris beschäftigte. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, jede Frau wollte für die Sommerferien gut angezogen sein und davor noch bei den letzten Theaterpremieren der Saison glänzen.
Gabrielle überlegte sich, wie es wohl wäre, wenn all diese Frauen Chanel No 5 benutzten und sich eine einzige Duftwolke über der Stadt senkte wie eine Glocke aus Jasmin, Rosen und Ylang-Ylang. Das war der Moment, in dem sie endlich ihre Entwürfe abschloss, mit Kartonagenfabrikanten – was es nicht alles gab! – und Druckereien verhandelte, um anschließend ein entnervt klingendes Telegramm mit der Frage nach dem Fortgang der Produktion an die Verwaltung von Chiris zu senden. Ihr Alltag glich einer zermürbenden, sich ewig wiederholenden Maschinerie, und manchmal fragte sie sich, ob sie nicht die Herstellung ihres Parfüms besser in die Hände von François Coty gelegt hätte, anstatt fast alles allein zu machen.
Dimitri war ihr ein liebevoller Gefährte, der jedoch so mit seinem eigenen Vorwärtskommen beschäftigt war, dass auch seine Zeit begrenzt war. Wenn sie im Restaurant des Ritz oder in Gabrielles Suite bei einem schnellen Abendessen saßen, bevor sie sich früh zu Bett begaben, erzählte er vor allem von dem, was er bei den Treffen mit anderen Exilanten erfahren hatte: »Aus der alten Heimat treffen immer mehr Nachrichten ein, dass auf den schweren Winter nun eine verheerende Dürre folgt. Besonders die Kornkammern an der Wolga und im Süden Russlands scheinen betroffen. Deshalb nimmt die Hungersnot kein Ende. Wir sind alle verzweifelt und beten für unsere Brüder und Schwestern.«
»Ist es nicht so, dass deine Chancen auf eine Heimkehr steigen, je schlechter es deinem Volk geht?«
»Das hängt davon ab, wie die Weltöffentlichkeit auf die Lage reagiert. Zwanzig Millionen Menschen haben nichts zu essen. Lenins Reformen der Wirtschaft haben nichts an der Situation geändert. Wenn ich richtig informiert bin, bleibt ihm nichts anderes übrig, als um internationale Hilfslieferungen für seine sogenannte Sowjetrepublik zu bitten. Andere Mittel gegen die Not scheint es nicht zu geben. Wenn die Vereinigten Staaten, das britische Empire und Frankreich diese Unterstützung an politische Bedingungen wie etwa die Rückkehr der Zarenfamilie knüpfen, wäre viel gewonnen. Aber es gefällt mir nicht, dass sich mein Schicksal auf dem Rücken der Arbeiter und Bauern entscheiden soll.«
Gabrielle zerteilte still das Brathuhn auf ihrem Teller. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie die Zukunft für Dimitri aussah – und für sie. Der Gedanke, dass er tatsächlich als Zar heimkehren könnte, machte ihr plötzlich Angst.
Als könne er in ihren Kopf hineinblicken, sagte er: »Noch ist aber nicht einmal die Thronfolge geklärt, Coco. Die Anhänger von Kyrill Wladimirowitsch meinen, dass Krone und Kommunisten Seite an Seite regieren können. Ich bin für eine parlamentarische Monarchie wie in England und werde von einer anderen Gruppe unterstützt. Dann gibt es da noch die alte russische Ständeversammlung Semski Sobor, die unseren Onkel Nikolai Nikolajewitsch favorisiert. Die verschiedenen Parteien sind zerstritten, das tut der Sache insgesamt nicht gut.«
»Es dauert also noch lange, bis eine Entscheidung gefällt werden kann«, resümierte sie.
Erleichterung erfasste sie. Der Status quo würde noch eine Weile anhalten. Ohne groß darüber nachzudenken, redete sie nun einfach drauflos: »Vielleicht hilft es dir, wenn ich in meine nächste Kollektion ein paar slawische Elemente einbringe. Erinnerst du dich, dass ich mich an der Riviera schon mit diesem Gedanken beschäftigte?« Sie wollte ihm einen Gefallen erweisen, wenn sie sich für seine Kultur interessierte. Außerdem wollte sie ein Zeichen setzen: Die Geliebte des Zarewitschs ließ russische Folklore à la mode werden. »Ich sollte mich mit konkreten Ideen schnellstmöglich ans Werk machen. Ich muss nur jemanden für die Stickereien finden.«
»Das hast du bereits«, erwiderte Dimitri mit spontaner Begeisterung. »Marija, meine Schwester, besitzt goldene Hände. Sie ist die perfekte Ergänzung für deine Ideen.«
Gabrielle erinnerte sich, dass Dimitri schon mehrmals über die kunsthandwerkliche Begabung seiner Schwester gesprochen hatte. Aber noch nie hatte sie sich wohl bei der Aussicht gefühlt, die Großfürstin für das Atelier Chanel einzuspannen. Wie würde Dimitri reagieren, wenn Marijas Arbeiten doch nicht so hervorragend ausfielen, wie er behauptete? Einem Bruder – und noch dazu einem Mann – fehlte womöglich die Objektivität, Sticktechniken zu beurteilen.
Während sie noch überlegte, wie sie ihn von seiner Idee abbringen konnte, rief er aus: »Du musst Marija endlich kennenlernen! Ich werde dafür sorgen, dass ihr euch in den nächsten Tagen trefft.«
Gabrielle nickte ergeben. Ein Widerspruch erschien ihr zwecklos.
* * *
Als Marija Pawlowna zum ersten Mal ihr Geschäft betrat, erschrak Gabrielle. Sie erinnerte sich zwar schwach an eine junge Frau, die mehr wie eine Bäuerin auf dem Rückweg vom Feld als wie eine Prinzessin aussah, aber es kam noch schlimmer: Dimitris Schwester wirkte in der eleganten Umgebung der Rue Cambon regelrecht vernachlässigt. Weder ihr körperliches Erscheinungsbild noch ihre Kleidung entsprachen in irgendeiner Form dem zeitgenössischen Ideal einer eleganten Frau.
Dass Marija jedoch weder Schönheit noch Mode gleichgültig waren, fiel Gabrielle sofort auf, als sie sie durchs Atelier führte. Mit leuchtenden Augen betrachtete die Großfürstin die fertigen Kreationen, stellte bei Gabrielles Vorstellung ihrer Kollektion die richtigen Fragen und berührte mit einer Bewunderung die Entwürfe auf den Schneiderpuppen, dass Gabrielle sicher sein konnte, es mit einer Frau von Geschmack zu tun zu haben. Auch wenn sie sich völlig unpassend kleidete und frisierte, Dimitris Schwester war ihr ausgesprochen sympathisch.
Zunächst erklärte sie Marija bei einer Tasse Tee in ihrem Arbeitszimmer, dass sie sich vor allem durch die Rubaschka inspirieren ließ, jenes schlichte, oft bestickte Hemd, das in Russland seit Jahrhunderten getragen wurde. »Mir ist bewusst, dass diese weit geschnittenen Blusen und Kleider vielleicht nicht das sind, was meine Kundinnen von mir kennen, aber ich möchte das Experiment unbedingt wagen«, schloss Gabrielle ihren Monolog.
»Aber die Rubaschka passt zu Ihnen und Ihrer Mode«, entgegnete Marija mit feurigem Eifer. »Sie ist ein klares, strenges Kleidungsstück. Dass es nicht kitschig wirkt oder die Trägerin erdrückt, hängt allein von dem Stickmuster ab, mit dem Sie es verzieren.«
Gabrielle lächelte. Der Hinweis auf die schlichte Eleganz in ihren Kollektionen gefiel ihr. Offenbar hatte Dimitris Schwester verstanden, worum es ihr ging. »Wäre es Ihnen möglich, mir einige Entwürfe zukommen zu lassen? Ich würde sehr gern sehen, wie Sie sich eine zu meinen Blusen passende Stickerei vorstellen. Die Skizzen für die Modelle zeige ich Ihnen gleich …« Sie unterbrach sich, zögerte. Konnte sie es wagen, schon zu Beginn ihrer Bekanntschaft persönlich zu werden? Es brannte ihr förmlich auf der Zunge, Marija Ratschläge zu erteilen.
»Der Vorteil einer Erziehung für höhere Töchter ist, dass wir lernten, mit Nadel und Faden umzugehen«, plauderte Marija ungeachtet der Frage, die in der Luft hing. »Als junges Mädchen ahnte ich noch nicht, dass das eines Tages wichtiger für mich werden könnte als die Bücher, die mir meine Gouvernanten zu lesen gaben.«
Erstaunt sah Gabrielle ihren Gast an. »Sie lesen gern?«
»Und ob. Mademoiselle Hélène und Miss June brachten mir alles über französische und englischsprachige Literatur bei. Als ich damals nach Schweden zog, befanden sich in meinem Gepäck über siebenhundert Bücher, später wurden es noch viel mehr. Der Verlust meiner Bibliothek ist eine der traurigsten Erinnerungen, die ich an die Heimat habe.«
Gabrielle hätte Marija gern gefragt, warum die Erziehung von Dimitri so anders verlaufen war. Aber sie unterließ es, weil sie mit seiner Schwester nicht über ihren Liebhaber sprechen wollte. Im Grunde kannte sie die Antwort bereits. Zumindest nahm sie das an. Während Marija im Alexanderpalast aufwuchs, lebte Dimitri in einer Kadettenanstalt. Dort wurden den Zöglingen militärische und ganz sicher keine kulturellen Werte vermittelt.
»Meine Sammlung ist inzwischen auch recht ansehnlich«, sagte Gabrielle und deutete auf die Bücherwand im Hintergrund. »Sie können sich jederzeit hier in meiner Bibliothek umsehen, wenn Sie möchten. Oder Sie besuchen uns einmal in Garches. Nehmen Sie sich, was Sie interessiert.«
»Das ist sehr großzügig, Mademoiselle Chanel.«
»Coco. Meine Freunde nennen mich Coco.«
Dimitris Schwester erhob sich vom Sofa, um Gabrielle auf beide Wangen zu küssen. »Ich wäre gern Ihre Freundin, Coco«, sagte sie, als sie sich wieder setzte. »Ich bewundere Sie sehr. Und ich heiße Marija.«
Gabrielle hörte kaum zu, denn durch die Umarmung stieg ihr schwach ein Duft in die Nase, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. »Welches Parfüm benutzen Sie?«, fragte sie unvermittelt.
»Oh, Sie werden es nicht kennen. Es heißt Bouquet de Catherine und wurde eigens für die Zarenfamilie kreiert.«
»Heißt das, Sie besitzen noch einen Originalflakon?«
Marija nickte. Die Verwunderung über Gabrielles Frage war ihr deutlich anzumerken. »Ja. Mit einem winzigen Rest Parfüm darin. Ich trage es nur noch bei besonderen Gelegenheiten. Gefällt es Ihnen?«
Jetzt ist es mein Parfüm, wollte Gabrielle sagen, doch sie schluckte ihre Antwort hinunter. Mit einer gewissen Belustigung dachte sie daran, wie sie verzweifelt nach der Formel gesucht hatte. Dabei hätte sie einfach nur Dimitris Schwester fragen müssen …
»Ja«, erwiderte sie schließlich. »Es gefällt mir sehr.«
»Der Duft gehört zu den wenigen Erinnerungen an unsere alte Welt, die mir geblieben sind«, gestand Marija, und in ihrer Stimme schwangen jene Traurigkeit und jenes Heimweh mit, die Gabrielle schon von Dimitri so gut kannte. Sie blickte an sich hinunter und fügte sachlich hinzu: »Wie man sieht, ist auch von den materiellen Gütern nichts geblieben.«
Gabrielle beschloss auszusprechen, was ihr zuvor durch den Kopf gegangen war: »Ich weiß, was Sie alles verloren haben, aber man sollte es Ihnen nicht ansehen. Ich halte es für einen großen Fehler, dass Sie wie ein Flüchtling herumlaufen. Sie gewinnen damit keine Sympathie. Im Gegenteil, die Leute werden Sie meiden.«
Zu Gabrielles größter Überraschung schien Marija nicht brüskiert. Sie nickte sogar zustimmend. »Früher war ich regelrecht abhängig von den Diensten meiner Hofdame. Das war sogar im Krieg so, als ich eigentlich überhaupt keine Zeit hatte, mich meinem Aussehen zu widmen. Jetzt denke ich nur über Kleidung nach, wenn ich Handarbeiten für andere ausführe. Sie haben recht, dass das womöglich auch nicht der richtige Weg ist.«
»Wenn Sie beruflich erfolgreich sein wollen, ist das erste Gebot, wohlhabend auszusehen.«
»Ich danke Ihnen für diesen Rat.«
Marija meinte es aufrichtig. Das sah Gabrielle in ihrem offenen, arglosen Blick. Ihr war allerdings klar, dass Dimitris Schwester nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie Gabrielles Hinweis umsetzen sollte.
»Wenn wir uns wiedersehen, könnte ich mit Ihnen ein wenig an Ihrer Erscheinung arbeiten«, schlug sie vor. »Ich kann Ihnen zeigen, wie Sie sich am vorteilhaftesten kleiden und schminken. Selbst eine Dame, die nie gelernt hat, auf sich zu achten, kann lernen, ohne Hofdame auszukommen.«
Du lieber Himmel, fuhr es ihr durch den Kopf, was rede ich da? Vor mir sitzt die Enkeltochter eines Zaren, und ich, die Tochter eines Hausierers, sage ihr, was sie zu tun hat. Aber offensichtlich muss es ihr einer erklären.
»Versprechen Sie mir nicht zu viel«, unterbrach Marija ihre Gedanken. »Es könnte sein, dass ich Sie täglich besuchen möchte.«
»Sie sind herzlich willkommen. Aber bitte bringen Sie mir Entwürfe für die Stickereien mit.«
Die beiden Frauen sahen sich in die Augen – und brachen gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Ihr Humor stimmt, dachte Gabrielle zufrieden. Und: arme Misia! Es würde ihrer Freundin gewiss nicht gefallen, dass sie Konkurrenz bekam.