Kapitel 19

»Unvorstellbar, dass sich ein Schwede für so etwas begeistern kann«, wisperte Gabrielle und deutete auf die Bühne.

Offensichtlich nur widerwillig wandte Dimitri seinen Blick von der extravaganten Aufführung ab. Tänzer in hautengen bunten Kostümen verschmolzen mit einem farbenprächtigen Bühnenbild, streckten sich, sprangen hoch, warfen sich nieder, versanken ineinander zu der dissonanten, nach Aufmerksamkeit schreienden Musik von jenen sechs jungen Komponisten, die sich le Groupe des Six nannten. Das Libretto von Jean Cocteau verlieh dem spektakulären Ballett noch eine literarische Note. Verwundert sah Dimitri sie an.

»Ein schwedischer Industrieller ist der Mäzen der Compagnie«, flüsterte Gabrielle.

Dimitri zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Marija sagt, dass die Schweden das langweiligste Volk der Erde seien.«

Leise stöhnte er auf. »Du redest zu viel mit meiner Schwester.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Premiere zu. Gabrielle konnte jedoch noch ein feines Lächeln in seinem Gesicht ausmachen.

Sie war hin- und hergerissen zwischen Anerkennung und Abscheu, Loyalität und Offenheit. Der schwedische Mäzen und Kunstsammler Rolf de Maré hatte vor einem Jahr eine Truppe namens Les Ballets Suédois als Konkurrenz zu den Ballets Russes ins Leben gerufen. Nicht nur, dass viele ehemalige Mitstreiter von Sergej Djagilew hier eine neue Wirkungsstätte fanden – es sollte ganz offensichtlich der Stil des Impresarios kopiert werden. Erst war Gabrielle empört. Was sie allerdings auf der Bühne des Théâtre des Champs-Élysées geboten bekam, begeisterte sie. Die überwiegend schwedischen und dänischen Tänzer sprühten vor Energie, und nicht zuletzt das Libretto ihres Freundes Jean Cocteau stimmte sie gnädiger in ihrem Urteil über Djagilews Konkurrenz. Der Einakter Die Hochzeit auf dem Eiffelturm gefiel ihr. Daran bestand spätestens beim Schlussapplaus kein Zweifel.

Es war nicht das erste Mal, dass sie sich wünschte, als Kostümbildnerin an einer Produktion wie dieser beteiligt zu sein. Als sie Cocteau nach der Vorstellung hinter der Bühne suchte, um ihm zu gratulieren, wurde dieser Wunsch fast übermächtig. Der Geruch von Farbe, Staub, Theaterschminke, Schweiß und dem viel zu süßen Parfüm der Primaballerina stieg ihr in die Nase. Bei anderer Gelegenheit geradezu ekelerregend, wirkte der Duft in diesem Moment auf sie wie eine frische Brise – belebend, stimulierend, inspirierend.

»Coco!«

Jean Cocteau winkte ihr zu. Er war ein hochgewachsener und unfassbar gutaussehender Mann mit vollem dunklen Haar. Stets vorbildlich gekleidet, sah er auch heute aus wie aus dem Ei gepellt, obwohl Gabrielle überzeugt war, dass ihm die Uraufführung Schweißperlen unter den Kragen seines blütenweißen, gebügelten und gestärkten Hemdes trieb. Offensichtlich war er in ein Gespräch mit Pablo Picasso vertieft gewesen. Der wirkte an Cocteaus Seite eher derb und bäuerlich.

»Chérie!« Cocteau schloss sie in seine Arme.

Sie küsste ihn auf beide Wangen. »Herzlichen Glückwunsch! Es war eine wundervolle Aufführung.«

»Wenn Sie noch einen Funken Interesse an der Freundschaft zu Sergej Djagilew besitzen, sollten Sie Ihre Meinung für sich behalten«, dröhnte Picasso. »Ich bin überzeugt, dass er in seinem Hotel sitzt und auf die ersten Nachrichten von seinen Spionen im Publikum wartet. Er wird sich furchtbar grämen.«

Gabrielle drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Machen Sie sich nicht lustig über Sergej. Warum sollte in Paris nicht Platz für zwei großartige Balletttruppen sein? Es gibt ja auch mehrere Modeschöpfer – und mehrere gute Maler.«

»Ach? Gibt es die?« Picasso schüttelte den Kopf. »Nun ja, wenn Sie auf die Bühnenbilder anspielen, so muss ich zugeben, dass Irène Lagut gute Arbeit geleistet hat. Obwohl sie natürlich viel besser wäre, wenn sie mehr auf mich gehört hätte.«

»Bist du immer noch verärgert, weil sie dich nicht geheiratet hat?«, fragte Cocteau. »Pablo – das ist vier Jahre her. Heutzutage fast ein ganzes Leben.« Er lachte gekünstelt.

»Wenn Irène meinen Antrag angenommen hätte, wäre ich nicht mit Olga verheiratet.«

Cocteau neigte sich zu Gabrielle und flüsterte so laut, dass Picasso ihn hören musste: »Seine Ehe bringt ihn noch um.«

»Ist Olga hier?«, erkundigte sich Gabrielle höflich.

Ihre Augen wanderten demonstrativ über die Bühnenarbeiter, Künstler und Besucher, die sich zwischen Dekorationen, Instrumentenkoffern, abgelegten Kostümen, rasch verwelkenden Blumen und Handwerkszeug drängten. Die zierliche Frau von Picasso war jedoch nirgends zu entdecken.

»Er ist froh, wenn er vor ihr fliehen kann.«

»Unsinn!«, donnerte Picasso, offenbar in seiner Mannesehre gekränkt. Er wechselte das Thema und fragte: »Und wo ist Ihr Prinz, Mademoiselle Coco?«

Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Dimitri Pawlowitsch wartet im Foyer auf mich.«

»Mon dieu! Diese verliebten Russen, sie sind so anhänglich. Man nennt es wohl Seele

»Du solltest nicht von Olga auf andere schließen«, stichelte Cocteau zurück. Er nahm Gabrielles Arm. »Komm, meine Liebe, verlassen wir unseren unglücklichen Freund. Die Eheprobleme anderer sind so ermüdend. Lass uns Georges Auric begrüßen gehen. Ist seine Ouvertüre nicht göttlich?« Damit zog er sie tiefer in das Gedränge. Außer Hörweite Picassos sprach er leise weiter: »Picasso betete Irène Lagut damals an. Die beiden hätten heiraten sollen. Wusstest du, dass Olga ihn nur deshalb vor den Altar schleppen konnte, weil sie ihn nicht an sich ranließ? Das war wirklich mal etwas Neues für ihn, hat aber eindeutig zu einer Fehlentscheidung geführt.«

Als Gabrielle über die Schulter zu Picasso blickte, sah sie, wie Irène Lagut an seine Seite trat. Die Malerin war nicht nur eine sehr schöne Frau, sie war ihrem ehemaligen Lehrer und Liebhaber auf gewisse Weise ebenbürtig, was sicher auch ihre Anziehungskraft ausmachte.

Unwillkürlich fragte sich Gabrielle, ob Irène Picasso eine bessere Ehegattin gewesen wäre, als Olga es war. Was Cocteau offenbar als Tatsache annahm. Die Frau eines Genies hatte es gewiss nicht leicht, dachte Gabrielle. Von sich selbst wusste sie, dass sie sich einem Mann gegenüber lieber etwas unterwürfiger gab, als sie es eigentlich war. Was auch zu Konflikten führen konnte, wie sie bei Strawinsky erlebt hatte. Sie dachte an Jekaterina Strawinska. Eine Russin wie Olga und ebenfalls die Gemahlin eines Genies – und genauso gefangen in einer Ehe, die alle Beteiligten unglücklich machte. Vielleicht hat es doch etwas mit ihrer Mentalität zu tun, überlegte sie. Russische Seele eben.

Sie hing diesem Gedanken noch nach, als sie dem Komponisten Georges Auric gratulierte, der Irène Laguts derzeitiger Lebensgefährte war, wie sie von Cocteau erfuhr. Während sie den anderen Ensemblemitgliedern vorgestellt wurde, ließ Gabrielle der Gedanke an das Glück und das damit verbundene Leid von Liebesbeziehungen nicht mehr los. Sie dachte an Boy, den niemals ein anderer Mann ersetzen konnte. Nicht einmal Dimitri.

»Mon ami, entschuldige mich bitte. Ich möchte Dimitri nicht so lange warten lassen«, sagte sie in einer Atempause zwischen Luftküssen, Umarmungen und Gratulationen zu Cocteau. »Wir sehen uns nachher auf der Feier.«

»Ich begleite dich ins Foyer«, erwiderte Cocteau rasch und legte besitzergreifend den Arm um ihre Schultern.

»Das Ensemble wird dich vermissen, wenn du …«, hob sie an, doch Cocteau unterbrach ihren Protest: »Sie werden warten. Ich möchte etwas mit dir besprechen, das keinen Aufschub duldet, und dazu haben wir später sicher keine Gelegenheit.«

Er führte sie zielsicher durch belebte Flure, die viel zu grell beleuchtet waren, in den nun stillen Theatersaal. Das riesige Halbrund mit fast zweitausend Sitzplätzen, die mit rotem Samt bezogen waren, wirkte seltsam verlassen. Es brannte noch das Pausenlicht, die Bühne lag jedoch bereits im Dunkeln. Eine merkwürdige Stimmung aus Glück, Abschied, Erleichterung und Sehnsucht hing in der Luft, die für Gabrielle fast greifbar war und ihrer eigenen Gefühlslage entsprach. Wurde nicht fast jeder Zuschauer nach einer gelungenen Vorstellung von einer traurigen Glückseligkeit erfasst? Die Truppe war erleichtert, bestmögliche Leistung erbracht zu haben, und über allem schwebte die Hoffnung auf eine Wiederholung. Gabrielle wurde von dieser Erkenntnis fast ebenso stark berührt wie von dem Geruch hinter den Kulissen.

»Hast du Zeit, mein nächstes Stück zu lesen?«

»Was für eine Frage?« Gabrielle lachte. Ihre Stimme hallte durch den Raum und war für einen heimlichen Zuhörer vermutlich sogar im obersten Rang zu verstehen. »Selbstverständlich nehme ich mir die Zeit, egal, was ich sonst noch zu tun habe.«

In Gedanken fügte sie hinzu, dass er darum nun wirklich nicht so viele Umstände zu machen brauchte. Es wäre nicht das erste Mal, dass er ihr ein Manuskript gab und um ihre Meinung bat. Aber daran erinnerte sie ihn nicht.

»Es ist mir wichtig, was du zu meiner Adaption von Sophokles’ Antigone sagst.«

»Das freut mich, Jean. Ich verspreche dir, dass ich jede Zeile aufsaugen werde wie ein Dürstender einen Tropfen Wasser. Vielleicht wird es meine Urlaubslektüre – oder ist der Inhalt für die See zu dramatisch?«

Er wirkte verblüfft. »Du willst schon wieder verreisen?«

»Warum nicht?«, fragte sie, ihrerseits erstaunt, zurück. »Tout Paris ist im Juli und August in den Ferien. Seit unserer Rückkehr von der Riviera haben Dimitri und ich so viel gearbeitet, dass wir uns ein paar freie Tage redlich verdient haben.«

»Dann treffen wir uns in Cannes und reden dort über alles!« Cocteau klang begeistert von seiner Idee.

»Das ist leider nicht möglich. Ich habe ein Haus in Arcachon gemietet.«

Es war eine spontane Entscheidung gewesen, geboren aus einem Gefühl von Einsamkeit. Dimitri war inzwischen so viel in Angelegenheiten des russischen Zarenthrones unterwegs, dass sie mehr allein als mit ihm zusammen war. Zwar hatte es sie noch nie gestört, ihre Abende mit sich selbst zu verbringen, aber sie erlebte gerade in diesen Wochen so viel, das sie gern mit ihm besprochen hätte. Nicht weil sie seines Rates bedurft hätte. Ihre geschäftlichen Entscheidungen traf sie allein und mit voller Sicherheit. Aber es war schön, ihm davon zu erzählen, was sie beschäftigte. Einfach nur reden wollte sie, sich austauschen. Darüber, wie ihr Parfüm und ihre russische Kollektion Gestalt annahmen, dass Marijas Entwürfe phantastisch waren und seine Schwester den Auftrag erhalten hatte, eine Bluse zu besticken. Gabrielle wollte mehr mit Dimitri teilen als nur gelegentlich ihr Bett. Deshalb war sie sogar für ein paar Tage mit ihm nach Berlin gefahren, sie hatten sehr feudal im Hotel Adlon logiert, doch alles in allem war das keine gute Idee gewesen, weil die gemeinsamen Stunden zwischen den Konferenzen der russischen Exilpolitiker und Generäle noch seltener waren als die in Paris. Danach hatte sie beschlossen, für sie beide ein Sommerquartier zu suchen, das weit entfernt lag von den Orten, an denen die meisten ihrer Bekannten die heißen Monate verbrachten. Aber auch das erzählte sie Cocteau nicht.

Cocteaus Begeisterung von der Vorstellung, gemeinsame Ferien an der Côte d’Azur zu verbringen, wich größter Bestürzung. »Was willst du in Arcachon? Dort gibt es nichts außer einer Menge frischer Austern und einem Casino, das dem in Monte Carlo nicht das Wasser reichen kann.«

»Vielleicht will ich ja genau das.« Sie lächelte ihm aufmunternd zu. »Aber nichts wird mich davon abhalten, dein neues Stück zu lesen.«

»Das hoffe ich sehr. Schließlich möchte ich dich bitten, die Kostüme zu entwerfen.«

»Oh.« Gabrielle brauchte eine Minute, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, in welche Aufregung er sie versetzte. Deshalb gab sie zunächst die Zurückhaltende. »Wie kommst du darauf, dass ich die Zeit für Theaterfirlefanz habe? Ich muss ein Parfüm lancieren und mich um meine Kollektion kümmern, die Tage fliegen nur so dahin, und ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.«

»Sei still, Coco«, raunte Cocteau und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich habe in deinen Augen gelesen, wie sehr du es dir wünschst. Außerdem wüsste ich keine bessere Modeschöpferin als dich für diese Bühnenadaption.«

Gabrielle schluckte, sprachlos, weil der Freund sie durchschaut hatte.

»Picasso wird übrigens das Bühnenbild kreieren. Er hat schon zugesagt. Wenn ihr euch nicht umbringt, wird es eine sehr produktive Zusammenarbeit. Davon bin ich überzeugt.«

»Wenn wir uns nicht umbringen …«, wiederholte Gabrielle skeptisch.

Sie war ernüchtert. Vor ihrem inneren Auge ergab sich eine problematische Konstellation. So hatte sie sich ihren Einstand im Theater nicht vorgestellt. Sie hatte großen Respekt vor der Kunst Picassos, sie fand ihn als Mann sogar durchaus anziehend, aber sie hatte sich ihren kritischen Verstand bewahrt und würde sich jede Freiheit im Umgang mit ihm herausnehmen. Vor allem Strawinsky hatte sie gelehrt, wie nötig es war, einem Genie die Stirn zu bieten. Es stand zu befürchten, dass Pablo Picasso darauf ebenso widerspenstig reagierte wie Igor.

»Ihr werdet euch ergänzen«, behauptete Cocteau.

»Darüber muss ich nachdenken«, murmelte Gabrielle.

»Ich schicke dir mein Manuskript in den nächsten Tagen in die Rue Cambon.« Cocteau klatschte in die Hände. »Jetzt ist alles gesagt, und wir sollten feiern. Komm, hier entlang, diese Tür zum Foyer dürfte noch nicht abgeschlossen sein.«

Stumm folgte sie ihm, mit ihren Gedanken noch immer bei Picasso.

Ich liebe seine Bilder, dachte sie, warum sollte ich den Menschen nicht auch lieben können? Sie waren bereits gute Bekannte, vielleicht könnten sie durch die Zusammenarbeit sogar Freunde werden.