Kapitel 21

»Woher hast du diese Perlen?«, wollte Misia statt einer Begrüßung wissen, als sie Gabrielle nach über zwei Monaten endlich wiedersah. Die Freundin umarmte sie nicht, wie Gabrielle natürlich erwartet hatte, sondern legte die Arme auf ihre Schultern und schob sie sogar von sich. Aus der Distanz betrachtete sie die Ketten, die Gabrielle zu einem schlichten schwarzen Sackkleid trug. »Sie sind phantastisch!«

Gabrielle ließ ihre Finger die Schnüre entlanggleiten. »Ja. Das sind sie.«

»Und woher hast du sie? So etwas kann man nicht einmal bei Cartier kaufen.«

»Vermutlich nicht.« Lächelnd senkte Gabrielle ihre Stimme: »Dimitri hat sie mir geschenkt. Aber bitte erzähl das nicht überall herum.«

Kaum hatte sie ihre Bitte ausgesprochen, ärgerte sie sich. Wahrscheinlich würde Misia gerade diesen Wunsch als Aufforderung betrachten, aber sie hoffte unverdrossen auf die Diskretion ihrer Freundin. Ausnahmsweise.

Misia riss die Augen auf. »Sag nicht, dass das die berühmten Romanow-Perlen sind!«

Gabrielle schwieg.

Aber die Freundin verstand sie auch ohne Worte. Um Atem ringend stieß sie hervor: »Meine Güte, Coco, du kannst damit doch nicht einfach in deinem Laden herumspazieren, als handele es sich um Modeschmuck.«

»Wo sollte ich die Ketten denn sonst tragen?«

Gabrielle traf ihre Freundin ausnahmsweise in ihrer Boutique, meist hielt sie sich im Atelier oder in ihren Privaträumen in der ersten Etage auf. Schon früh hatte sie gelernt, dass es besser für ihr Geschäft war, wenn sie sich vor ihren Kundinnen rar machte und es den Verkäuferinnen überließ, die Damen zu beraten. Mit den Angestellten versuchte niemand über den Preis eines Kleides zu feilschen, bei Mademoiselle Chanel persönlich verhielt es sich jedoch anders. Es erstaunte sie immer wieder, welche Tricks die reichsten Leute anwendeten, um als Bittsteller aufzutreten oder sich gar vor der Bezahlung der Rechnung zu drücken. Heute war sie jedoch nicht mit Kunden beschäftigt, sondern hatte sich die Dekoration des Ladens angesehen und sich gefragt, wo sie die weißen Päckchen mit der schwarzen Aufschrift Chanel No 5 aufstellen sollte.

Da Misia nichts sagte, fügte Gabrielle hinzu: »Ich habe gehört, dass alte Perlen ihren Glanz verlieren, wenn sie nicht regelmäßig mit der Haut einer Frau in Berührung kommen. Also werde ich gerade diese besonderen Stücke nicht einfach in einer Schatulle liegen lassen.«

»Wer sagt denn so etwas?«, keuchte Misia.

»Marija Pawlowna«, erwiderte Gabrielle schlicht.

»Die muss es ja wissen.« Über diesen eifersüchtigen Kommentar vergaß Misia sogar ihre Ehrfurcht vor den Juwelen.

Dimitris Schwester war gestern in das Atelier gekommen, um Gabrielle die Bluse vorzulegen, die sie in der Zwischenzeit bestickt hatte. Es erschien Gabrielle wie ein Wunder: Die Großfürstin arbeitete besser als jede professionelle Stickerin. Marijas Kunstwerk war so beeindruckend, dass Gabrielle sie um weitere Entwürfe bat. Ihre Unterhaltung drehte sich eigentlich um Mode, aber natürlich fielen Marija die Perlen auf, schließlich handelte es sich ja um den Schmuck ihrer Großmutter. Gabrielle erwartete einen Protest und fühlte sich für einen Moment unwohl, weil sie fürchtete, Marija würde Ansprüche anmelden. Doch die Russin bemerkte nur: »Dimitri hat recht daran getan, Ihnen die Perlen zu schenken. Alles andere wäre nur ein weiterer Verlust.« Gabrielle wusste nicht, was Marija meinte, aber sie fragte nicht nach.

In dem Versuch, ihre beste Freundin wieder versöhnlich zu stimmen, wechselte Gabrielle das Thema: »Vorhin sind die ersten Muster meines Parfüms geliefert worden …«

Das Ablenkungsmanöver zeigte seine Wirkung. »Die möchte ich sofort sehen!«, rief Misia entzückt und fügte nachdrücklich hinzu: »Sofort!«

»Dann komm mit nach oben. Ich wollte ohnehin ein Glas Champagner darauf trinken, und in Gesellschaft feiert es sich so viel besser.«

Auf Gabrielles Schreibtisch stand eine geöffnete Kiste, aus der weißes Seidenpapier quoll wie Schnee aus einem Brunnen im Winter. Sie hatte die Muster, die man ihr geschickt hatte, sogleich hastig ausgepackt: weiße Päckchen mit schwarzer Aufschrift, darin die schlichten Flakons mit weißem Etikett und demselben geradlinigen Schriftzug, gefüllt mit der hellen bernsteingelben Flüssigkeit. Fünf Beispiele für Chanel No 5, die Gabrielle neben das Paket gelegt hatte. Eines davon hob sie hoch und übergab es Misia.

»Für dich. Es ist zwar noch nicht Weihnachten, aber ich möchte, dass du die Erste bist, die meinen Duft trägt.«

»Es ist Weihnachten, Coco.« Misia strahlte. Sie ließ sich in einen Sessel sinken, das Parfüm in der Hand. Andächtig drehte und wendete sie den kleinen Karton, bevor sie die Lasche hochzog. Vorsichtig entnahm sie der Verpackung den Flakon, um auch diesen eingehend zu betrachten.

Gabrielle lehnte sich gegen ihren Schreibtisch und beobachtete ihre Freundin. Es war ein Vergnügen, Misia zuzuschauen, wie sie das Geschenk wertschätzte. Sie war eine am Herstellungsprozess weitgehend unbeteiligte Person, deren Urteil Gabrielle sehr viel bedeutete – und deren Einschätzung ihr womöglich Aufschluss auf die Reaktionen ihrer Kundinnen geben würde. Mit wachsender Nervosität begann sie mit den Perlenschnüren zu spielen, die fast bis zu ihrer Taille reichten.

»Diese abgeschliffenen Ecken sind ein sehr schöner Einfall«, kommentierte Misia den Glasflakon. Sie sah zu Gabrielle auf. »Sehr wirkungsvoll. Und ganz ohne Chichi. Genial! Wie bist du nur darauf gekommen? Die Apothekerflasche aus Boys Reisenecessaire hatte glatte Ecken, wenn ich mich recht entsinne.«

»Es war an einem Abend im Ritz«, erzählte Gabrielle. »Ich war allein und beschäftigte mich mit den Entwürfen. Zwischendurch sah ich aus dem Fenster, und mir fiel auf, dass die Place Vendôme achteckig ist. Das brachte mich auf die Idee, die Gleichförmigkeit des Originals zu verändern.«

Misia öffnete den Stöpsel, um einen Tropfen Chanel No 5 auf die Stelle an ihrem Handgelenk zu geben, wo ihr Puls schlug. »Ich kenne den Duft ja schon, aber ich gebe zu, dass ich mich nicht satt riechen kann daran.«

»Dann bist du ja fürs Erste gut versorgt.« Schmunzelnd zündete sich Gabrielle eine Zigarette an. Misias Begeisterung bedeutete ihr nicht nur Erleichterung, sondern auch eine große persönliche Freude. Es war wie ein Triumph. Sie wusste, dass Misia alles tun würde, um in der feinen Gesellschaft Werbung für das Parfüm zu machen.

»Dieses Parfüm ist viel zu schade, um es nur als Weihnachtsgeschenk an deine Kundinnen zu geben, Coco.« Es klang wie ein Protest.

»Ich fürchte, die Herstellung ist für einen Verkauf zu kostspielig. Wahrscheinlich ist Chanel No 5 momentan das teuerste Parfüm der Welt.«

»Aber auch das beste.« Misia verschloss den Flakon wieder und schob ihn zurück in die Verpackung. »Du solltest es versuchen, Coco, der Preis dürfte keine so entscheidende Rolle spielen. An Käuferinnen wird es dir nicht mangeln. Sieh dir doch die ganzen Amerikanerinnen an, die auf Europareise sind und mit ihren Dollars nur so um sich werfen. Ich würde das Geschäft mit den exklusiven Düften keinesfalls diesem Engländer überlassen. Edward Molyneux heißt er, glaube ich.«

»Ich kenne ihn. Er versucht, meine Modelle zu kopieren, aber das stört mich nicht.« Gelassen schnippte Gabrielle die Asche in eine Kristallschale. »Will er auch ein Parfüm lancieren?«

»Er nennt es Numéro cinq«, berichtete Misia in bedeutungsschwerem Tonfall. »Das ist allerdings wohl ein Zufall und nicht die Folge von Betriebsspionage. Das Atelier von Molyneux befindet sich meines Wissens in der Hausnummer fünf an der Rue Royale.«

»Stimmt. Wahrscheinlich sollte ich ihm eine Wette vorschlagen, welcher Duft erfolgreicher wird. Das wäre ein Spaß, meinst du nicht?«

»Das kannst du nur, wenn du dein Parfüm auch auf dem Markt einführst.«

»Hm …« Gabrielle zog nachdenklich an ihrer Zigarette. Misias Überlegungen waren nicht von der Hand zu weisen. Andererseits hatte Gabrielle nicht die geringste Ahnung davon, wie man ein Toilettenwasser in den Handel brachte, etwa in die entsprechenden Abteilungen der großen Kaufhäuser. Sie war Théophile Bader, dem Besitzer der Galeries Lafayette, zwar mehrfach begegnet, aber sie konnte wohl kaum zu ihm hingehen und ihm einfach vorschlagen, die teure neue Ware in sein Sortiment aufzunehmen. Selbst wenn sie es versuchte, wusste sie nicht, welche Konditionen sie verlangen, wie sie mit ihm verhandeln sollte. Boy hätte gewusst, was zu tun wäre. Aber sie war allein. Auf sich gestellt. »Ehrlich gesagt, Misia, bin ich von deinem Elan etwas überfordert.«

»Sprich mit François Coty. Er wird wissen, wie das anzugehen ist.«

»Dann wird er im Gegenzug Chanel No 5 produzieren wollen, und das geht nicht. Es muss einen anderen Weg geben. Zumindest für den Anfang. Ich werde darüber nachdenken.«

Misia zog eine Grimasse. Sie hielt das Päckchen hoch wie eine Trophäe. »Es ist im wahrsten Sinne des Wortes verschenkte Liebesmüh, das hier nur zu verschenken.«

»Ich sagte doch, dass ich darüber nachdenken werde.«

»Dann beeil dich damit.« Misia legte eine kleine Pause ein, bevor sie herausplatzte: »Es steht so vieles an, du musst über eine Menge nachdenken, Coco. Vor allem über diesen unsinnigen Kauf von Bel Respiro. Stoß die Immobilie endlich ab. Ich war von Anfang an dagegen und finde, du solltest dich endlich davon trennen. Ich habe für dich einen Besichtigungstermin mit Comte de Pillet-Will in der Rue du Faubourg Saint-Honoré neunundzwanzig vereinbart. Er ist sehr interessiert daran, dir die große Wohnung im Erdgeschoss zu vermieten.«

»Misia, du überforderst mich heute wirklich.«

»Der Garten reicht bis zu den Grünanlagen an der Avenue Gabriel«, insistierte die Freundin.

Unwillkürlich hielt Gabrielle den Atem an. Als sie in einem der vornehmen Häuser der Avenue Gabriel glücklich gewesen war, hatte sie Misia noch nicht gekannt. Aber sie hatte ihr später von den wundervollen Stunden mit Boy darin berichtet. Ob sie sich ihm in diesem Quartier wohl näher fühlte als in der Villa in Garches? Würde die Erinnerung an die Liebe ihres Lebens in einer der wohlhabendsten Gegenden des 8. Arrondissements lebendiger sein als in dem Vorort?

Mit einem Mal fühlte sie sich zurückgeworfen in die Nacht, als Étienne Balsan mit der furchtbaren Nachricht nach La Milanaise gekommen war. Sie hatte keine Minute vergessen. Auch nicht die Zeit danach, in der sie in ihrer Trauer versunken war und das Haus nicht mehr ertrug, in dem sie zusammengelebt hatten. Obwohl ihr Leben ein anderes geworden war, hatte sich an ihren Gefühlen seither nichts geändert. Diese Erkenntnis stand plötzlich so deutlich vor ihr geschrieben wie ihr Name auf dem Parfümflakon, den Misia noch immer in der Hand hielt.

Gedankenverloren spielte Gabrielle mit den Perlen an ihrem Hals. Es gab nichts, das ihr so wichtig war wie das Andenken an Boy. Sie würde sich die Wohnung ansehen, beschloss sie. Allein. Ohne Misia – und ohne Dimitri.