Sechs Wochen später öffnete Dimitri die Terrassentür. Es waren zwei Flügel mit Sprossenfenstern, typisch für ein Pariser Palais aus dem frühen 18. Jahrhundert. Er trat hinaus in den herbstlichen Garten, dessen Blüte jedoch längst vergangen war. Trotz der engen, gleichmäßigen Bebauung rundherum senkten sich dichte Nebelschwaden über die Grünanlage, fingen sich in den kahlen Ästen der Linden wie Watte, die durch die Luft wirbelte. Zu seinen Füßen lagen tote Blätter, die der Hausmeister noch nicht zusammengekehrt hatte, sie knisterten leise.
Gabrielle stand dicht hinter ihm, und der Rauch ihrer Zigarette verflüchtigte sich im Dunst.
»Nun?«, fragte sie. »Wie gefällt dir meine neue Wohnung?«
»Was soll ich sagen, Coco? Du weißt selbst, dass sie wundervoll ist. Und dazu dieser kleine Park mitten in der Stadt. Ein idealer Rahmen für eine Frau mit Stil.«
»Die Wohnung ist natürlich kleiner als das Haus in Garches, aber sie ist groß genug für mich und meine Hunde, das Personal und meine Freunde. Für meine Bücher und die Koromandel-Wandschirme ist auch genug Platz. Hast du dir schon überlegt, wo ich dir deinen Salon einrichten soll?«
Gerade waren sie auf einer ausgiebigen Besichtigung durch die Zimmerfluchten gewandert, hatten Stuckarbeiten, Marmorsimse und Intarsien bewundert. Die Wandpaneele indes verabscheute Gabrielle, aber die durfte sie nicht entfernen. Es standen noch keine Möbel in den Räumen, hingen keine Bilder an den Wänden, sorgten keine Lampen für Licht. Es war in manchen Ecken ein wenig dunkel gewesen, was vor allem der Tageszeit und dem grauen Wetter geschuldet war, aber nicht so finster, dass Dimitri sich nicht hätte entscheiden können, wo er künftig logieren wollte. Auch der Trakt hinter der Küche war groß genug, um neben den Leclercs Platz für Pjotr zu finden. Doch Dimitri ließ sich mit seiner Antwort Zeit.
Nach einer Weile nahm er ihre freie Hand, hielt sie fest. »Coco«, begann er leise, »ich werde hier nicht einziehen.«
Der Nordwind frischte auf, wirbelte die Blätter hoch und fuhr unter Gabrielles offenen Mantel. Sie spürte den kalten Zug direkt auf ihrer Haut, als würde sie nicht auch ein Kleid tragen.
»Wo willst du denn sonst wohnen?«
»Bei Marija und Sergej. In einem Hotel. Ich weiß es noch nicht genau.« Offensichtlich drückte er sich vor der Wahrheit. Er druckste herum wie ein kleiner Junge, den die Mutter nach einem Streich zur Rede stellte. »Vielleicht fahre ich für eine Weile nach Amerika.«
Gabrielle fröstelte. Sie wäre gern in die Wohnung zurückgegangen, wo es wärmer war als hier draußen. Aber sie fürchtete, den Kontakt zu Dimitri zu verlieren, wenn sie seine Hand losließ.
Solange sie seine Nähe körperlich spürte, war alles gut. Er wollte verreisen. Vielleicht auch nur für eine Weile für sich sein. Nun ja, dann sollte er es tun. Sie wusste, wie schwer es für ihn war, seine Thronansprüche durchzusetzen. Dimitri war kein Diplomat oder Politiker, und er hatte nie gelernt, um sein Erbrecht zu kämpfen. Hatte er bereits verloren? Sie ahnte zwar, dass es nicht allein um die Kaiserwürde ging. Aber das gestand sie sich nicht ein.
Sie schwiegen, wobei sie nicht das gewohnte Einvernehmen verband.
Gabrielle spürte, wie die Harmonie zwischen ihnen zerbrach. Die Scherben dieses stillen Glücks schnitten ihr ins Herz, und sie war dankbar für ihre Zigarette, an der sie hektisch zog. Das Nikotin füllte ihre Lungen und beruhigte ihre Nerven.
»Für dich wird immer Platz bei mir sein«, antwortete sie schließlich, inhalierte, atmete aus, inhalierte, atmete aus. »Die Wohnung ist groß genug.«
Seine Finger umklammerten ihre Hand noch fester. »Ich möchte dein Freund bleiben, Coco, und dich nicht eines Tages wegen einer anderen verlassen müssen.«
Warum tust du es dann?, fuhr es ihr durch den Kopf, aber sie blieb stumm.
»Das Leben trennt die Liebenden«, sinnierte er. Inzwischen hielt er sich an ihr fest, als wäre sie der Anker, den er brauchte, um nicht zusammenzubrechen. »Kein Streit könnte uns auseinanderbringen, nicht wahr?«
»Vermutlich nicht«, murmelte sie.
»Im Gegensatz zu den Hausgesetzen der Romanows«, fuhr er fort, als habe sie nichts gesagt. »Ich kann mich dem nicht widersetzen und dich einfach heiraten.« Es klang, als spräche er zu sich selbst.
Sie war so überrascht, dass sie ihm ihre Hand entwand. Noch nie hatten sie über eine Ehe gesprochen. Natürlich, sie hatte hin und wieder überlegt, wie es wäre, eine echte Prinzessin zu sein. Ihr Scherz in der russischen Kathedrale in Nizza war natürlich unvergessen. Aber ein ernsthaftes Gespräch über eine Zukunft, die über Dimitris politische Interessen oder Gabrielles beruflichen Erfolg hinausging, hatten sie niemals geführt. Sie hatten sogar herzlich gelacht, als nach ihrer Rückkehr aus Arcachon in Paris Gerüchte kursierten, sie wären inzwischen verheiratet. Dabei hatte sie nicht einmal geahnt, dass er sich mit dem Gedanken an eine legalisierte Verbindung trug.
Während er in düsteres Schweigen versank, dachte sie an ihre Rückreise von der Riviera im Frühjahr. Warum hatte sie diesem Mann Einblicke in ihr Leben gegeben, die sie sogar Boy verwehrt hatte? Wusste sie damals schon in ihrem tiefsten Inneren, dass ihre Vergangenheit für Dimitri keine Rolle spielen konnte, weil es die Zukunft auch nicht tat?
Ihre Herkunft war mehr als nur das äußere Zeichen einer Mesalliance. Sie würde dem Haus Romanow keine Nachkommen schenken können. Sie konnte nicht schwanger werden, weil sie als junge Frau von einem Kurpfuscher behandelt worden war. Damals in Vichy. Zum ersten Mal seit langer Zeit tauchte die Abtreibung vor ihrem geistigen Auge auf. Davon hatte sie Dimitri nichts erzählt, vermutlich betrachtete er in diesem Fall eher ihr Alter als Hinderungsgrund. Warum wurde sie nur immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt?
»Ich möchte dein Freund bleiben, aber ich kann nicht dein Mann sein.« In seinem Ton lag eine Verzweiflung, die sich in seinen Zügen widerspiegelte. »Mein Cousin Kyrill Wladimirowitsch ist mit Prinzessin Victoria Melita von Sachsen-Coburg und Gotha verheiratet. Sogar diese Eheschließung sorgte für einen Skandal, obwohl sie als Enkeltochter der britischen Königin Victoria den Vorgaben des Hausrechts meiner Familie entspricht. Aber Viktoria Feodorowna, wie sie sich inzwischen nennt, war von Großherzog Ernst-Ludwig von Hessen-Darmstadt geschieden. Das machte es ebenso schwierig wie die Tatsache, dass die beiden Vettern ersten Grades sind. Der Zar hat Kyrill Wladimirowitsch nach der heimlichen Hochzeit alle königlichen Privilegien aberkannt, musste aber nach einer Weile einlenken und Kyrill wieder in die Thronfolge aufnehmen. Deshalb spielen Details wie dieser alte Skandal gerade heute bei der Gestaltung der Zukunft unserer Heimat eine Rolle.«
Sie hörte ihm kaum zu, in ihrem Kopf schwirrten die Namen wie Bienen um ihre Königin. Die Erinnerung an die Schmerzen und das viele Blut war viel gegenwärtiger. Étienne Balsan war der Vater ihres ungeborenen Kindes, und sie hatte damals keinen Moment gezögert, einen Engelmacher aufzusuchen. Ihr eigenes Schicksal als Bastard wollte sie niemandem zumuten, der Makel der unehelichen Geburt lastete zu schwer. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Du hast sehr viel Glück in mein Leben gebracht«, sagte Dimitri. »Mehr als ich jemals zu hoffen wagte. Dafür werde ich dir für immer dankbar sein.«
Die Zigarette war fast ganz heruntergebrannt, versengte ihre Finger und brachte sie auf diese Weise in die Realität zurück. Sie warf sie auf den Boden und trat den Stummel aus, den starren Blick auf das im Nebel verschwundene Ende des Gartens gerichtet. Dorthin, wo die Avenue Gabriel lag. Wo sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verlebt hatte. Der Verlust von Boy wog schwerer als jeder andere. Er hatte sie einsamer zurückgelassen, als sie sich je zuvor gefühlt hatte. Wenn Dimitri ging, war das nicht einmal annähernd so schlimm. Sie hatte ihre Freunde. Sie brauchte keinen Mann. Vielleicht einen Liebhaber, aber den würde sie schon irgendwo finden. Keinen wie Dimitri Pawlowitsch Romanow – gewiss. Aber spielte das eine Rolle?
»Wir sollten gehen«, entschied sie und wunderte sich über ihre erstickte Stimme.
»Es tut mir leid, Coco.«
Sie ignorierte seine Entschuldigung.
Während sie sich langsam umwandte und zurück in die Wohnung schritt, gewann sie ihre Contenance zurück. Er folgte ihr indes mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Als sie die Terrassentür hinter ihm schloss, plauderte sie in dem leichten Ton, als wäre ihr Salon bereits mit den Gästen ihrer Einweihungsparty gefüllt. Ihre Worte hallten von den leeren Wänden wider.
»Ich werde in den nächsten Tagen mit Misia und José Sert wiederkommen. Wir wollen uns über die Einrichtung unterhalten. Ich verlasse mich da ganz auf den Geschmack der beiden.« Sie drehte sich um die eigene Achse. »Was meinst du, Dimitri? Wo sollte ich wohl einen Flügel aufstellen lassen?« Etwas Persönlicheres als die unverfängliche Frage nach dem Standort des Pianos gab es zwischen ihnen vorläufig nicht mehr zu debattieren.
Das verstört trommelnde Klopfen ihres Herzens nahm er nicht wahr.