Schon nach dem kurzen Weg von ihrem Taxi zu der Haustür trieften Gabrielles Schuhe vor Nässe. Der Schnee blieb als Matsch auf der Rue du Faubourg Saint-Honoré liegen und würde über Nacht vermutlich zu Eis erstarren. Es war bitterkalt, und Gabrielle hoffte, dass Joseph großzügig eingeheizt hatte, selbst in den Zimmern, die sie nicht ständig bewohnte. Eine einzige kalte Wand genügte, um sie an die Frostbeulen ihrer Jugend zu erinnern. Weder in ihrem Elternhaus noch im Kloster hatte es ausreichend Holz oder Kohle für die Öfen gegeben. Nie wieder wollte sie so frieren.
Die Wohnung erwies sich als zu groß für sie allein, aber Gabrielle hatte eine Reihe von Gästezimmern einrichten lassen. Für ihre Freunde. Im Grunde waren es die Räume, die sie für Dimitri vorgesehen hatte. Da die meisten Menschen, mit denen sie verkehrte, in Paris beheimatet waren, benutzte jedoch so gut wie niemand diese Betten. Manchmal übernachtete Paul Reverdy bei ihr, der traurige Lyriker, der sie schon so lange anhimmelte und ihr ständig seine Gedichte widmete. Sie hatte ihn erhört, um sich über die Trennung von Dimitri hinwegzutrösten. Aber dieser Mann war ein schwacher Trost – wenn sie mit ihm schlief, blieb meist nicht mehr davon zurück als das Chaos ihrer Gefühle.
Müde schloss sie die Haustür auf. Ein Zittern lief durch ihren Körper, kroch von ihren kalten Füßen hinauf, bis es als Schauer über ihren Rücken rann. Ein heißes Bad wäre jetzt gewiss das Beste, um einer Erkältung vorzubeugen. Und danach würde sie ein leichtes Abendessen zu sich nehmen und mit einem Buch zu Bett gehen. Alle Welt sprach über die Neuerscheinung »La Garçonne« von Victor Margueritte, und sie sollte den Roman unbedingt aus ihrem Stapel ungelesener Bücher befreien. Wie sie gehört hatte, handelte die Geschichte von einer jungen Frau, die von ihrem Verlobten betrogen worden war und daraufhin ein freies, selbstbestimmtes Leben führte. Ähnlichkeiten mit realen Personen ausgeschlossen, dachte Gabrielle ironisch.
»Mademoiselle Chanel!« Die Stimme des Comte Pillet-Will unterbrach ihre Gedanken.
Er stand im Dämmerlicht des Hausflurs am Fuße der Treppe, die in die obere Etagen führte, als habe er auf sie gewartet. Seine Haltung entsprach der eines Hausherrn, der Gäste empfing. Ihm wohnte nicht die Attitüde eines Mannes inne, der sich in die erste Etage seines Palais zurückgezogen hatte, um die anderen Wohnungen zu vermieten. Offenbar betrachtete er es als große Geste seinerseits, dass er einer Fremden erlaubte, in seinen Räumlichkeiten zu leben. Dass sie ihm dafür jeden Monat einen Scheck ausstellte, schien er ebenso regelmäßig zu vergessen.
Sie strahlte ihn an. »Ja, bitte?«
»Ich kann diese dauernden Störungen nicht dulden. Gestern wurde bei Ihnen bis in die Nacht hinein Klavier gespielt, und ich muss Ihnen sagen, dass es sich dabei um ganz schreckliche Musik handelte …«
»Der Pianist war Igor Strawinsky«, unterbrach sie ihn. Ihr Verhältnis hatte sich normalisiert, und sie gingen inzwischen respektvoll miteinander um, woran Djagilews Überzeugungskraft, das musste sie zugeben, einen großen Anteil besaß. Strawinsky hatte sie besucht, um ihr ein Geschenk zu bringen: eine Ikone, die sie, wie er sagte, für immer beschützen sollte.
Doch der Name des berühmten Komponisten beeindruckte den Comte Pillet-Will nicht. Ungeachtet ihres Einwurfs fuhr er fort: »Heute ersuchte ein Mann lautstark um Zutritt in die Wohnung. Ich weiß nicht, warum Ihr Diener ihm nicht öffnete. Er wird seine Gründe haben. Aber ich muss Ihnen sagen, Mademoiselle Chanel, dass ich weder Lärm wie gestern noch derartiges Benehmen dulde.«
»Wahrscheinlich war Joseph mit den Hunden unterwegs«, erwog sie. »Ich erwarte keinen Besuch, dessen können Sie versichert sein. Gute Nacht, Comte.« Sie wandte sich rasch ab, um ihrem Vermieter keine Gelegenheit zu geben, weitere Versäumnisse oder Störungen ihrerseits aufzuzählen.
In Gedanken ging sie ihre Freunde durch. Wer mochte vor ihrer Tür randaliert haben? Sie konnte sich niemanden vorstellen, auf den die vage Beschreibung passte. Leider passte es vor allem nicht zu Dimitri, der vielleicht früher von einer Reise zurückgekommen war und sie wiedersehen wollte.
Joseph hatte anscheinend ihre Stimme gehört. Er öffnete ihr, bevor sie die Hand zur Klingel erhoben hatte. Die Wärme der gutgeheizten Wohnung und das warme Licht der Dielenbeleuchtung wirkten wie ein Willkommensgruß.
»Guten Abend, Mademoiselle«, sagte Joseph und beeilte sich, ihr den Mantel abzunehmen, auf dem Schneeflocken wie Tautropfen hingen.
»Haben wir einen Gast, Joseph?«, fragte sie, während sie noch im Stehen die Schuhe abstreifte.
Ihr Diener sah sie erstaunt an. »Nein, Mademoiselle, nicht, dass ich wüsste.«
In diesem Moment klingelte es Sturm. Jemand musste seine Hand auf die Türglocke gelegt haben, denn es hörte nicht auf zu läuten. Der Ton war so durchdringend, dass Gabrielle befürchtete, ihr Vermieter würde ihn in seiner Wohnung im ersten Stock hören. Die Hunde, die sich anscheinend im Küchentrakt aufhielten, schlugen an. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Mit einer Geste hinderte sie Joseph daran nachzusehen, wer so dringend Einlass begehrte. »Lassen Sie nur«, fügte sie hinzu und zog die Tür auf.
Die Klingel verstummte.
»Guten Abend, Coco. Ich war schon einmal hier, aber es war niemand da.«
Gabrielle starrte den Mann an, der vor ihr stand.
Er war gut, aber nachlässig gekleidet, eine von der Witterung feuchte Strähne seines dunklen Haares fiel ihm in das Gesicht mit der breiten Nase, seine schwarzen Augen blickten sie trotz der Klage in seinen Worten selbstbewusst und durchdringend an.
Sie war so verblüfft, dass ihr nichts anderes einfiel, als seinen Namen zu sagen:
»Picasso!«
»Sie sind meine Rettung, Coco. Ich verliere den Verstand, bei Olga bekomme ich Platzangst. Darf ich bei Ihnen bleiben?«
Es klang nicht wie eine Frage, eher wie eine Feststellung.
Picassos Blick war hypnotisch, seine Anziehungskraft so stark, dass sie von neuem zu zittern begann. Diesmal vor Hitze und nicht vor Kälte. Sie wusste nicht, ob sie noch ein Genie in ihrem Leben ertrug, wollte eigentlich nicht noch einmal in den Strudel einer Ehekrise hineingezogen werden.
Schick ihn fort, riet ihr eine innere Stimme. Schließ sofort die Tür!
Gabrielle trat zur Seite. »Komm herein.«