KAPITEL 3
Ella folgte dem korpulenten Polizeihauptkommissar in den Korridor. Auf dem Boden lag ein Mann, auf ihm saß rittlings ihr neuer Kollege und legte dem Uniformierten Handschellen an. Einige Polizisten standen daneben und verfolgten die Szenerie mit unterschiedlichen Mienen. Ella brauchte einen Moment, um das Gesehene zu verdauen.
»Ich habe sie nicht gefickt, sie war diejenige, die die Initiative ergriffen und mich ins Bett gezerrt hat. Ich habe mich dabei vehement gegen ihre Avancen gewehrt«, knurrte Leonhard, der aus Nase und Mund blutete. Ungeachtet dessen zerrte er seinen Kontrahenten an den Armen hoch auf die Beine und rammte ihm die linke Faust in den Solarplexus.
Der gehörnte Polizist keuchte und taumelte rückwärts.
Leonhard nickte und sah zu Ella. »Mein Hemd ist ruiniert«, fluchte er und betrachtete die großen roten Flecken. »Sie, Greenwood, fahren allein zum Tatort.« Er bückte sich nach unten und hob die Mappe auf, die er Ella zuwarf.
Sie fing sie nur mit viel Glück auf.
»Ich werde mich umziehen müssen und komme nach, so schnell ich kann.« Ohne ein weiteres Wort lief er zu den Treppen und verschwand.
Ella schluckte den harten Brocken hinunter und linste zu Reinhold Stettel.
Dieser hob und senkte die Schultern. »Das wird mächtig Ärger nach sich ziehen«, prophezeite er. Nachdenklich rieb er sich über das Kinn. »Sie, Sie und Sie«, er deutete auf die zwei Beamten und Ella, »Sie verschwinden von hier und werden später behaupten, dass Sie von alledem nichts mitbekommen haben.« Noch bevor Ella etwas erwidern konnte, fuhr Stettel ihr mit einem weiteren Satz über den Mund: »Sie müssen eine Leiche untersuchen, schon vergessen? Nun gehen Sie endlich«, schob er unwirsch nach und wedelte abweisend mit der fleischigen Hand. »Ihr drei kommt mit, und du, Jörg, beruhigst dich jetzt ganz schnell mal wieder. Hast du mich verstanden?«
Ella stand immer noch da.
»Na los, verschwinden Sie! Ach, bevor ich es vergesse …« Der Polizeihauptkommissar ging zurück in sein Büro und kam mit einem Dienstausweis heraus. »Der gehört ab heute Ihnen, den müssen Sie ständig bei sich tragen. Sie haben bei Ihrem Vorstellungsgespräch einen sehr guten Eindruck hinterlassen. Nach einer kurzen Besprechung haben wir uns für Sie entschieden. Und jetzt machen Sie, dass Sie hier verschwinden.«
Kopfschüttelnd und auf zittrigen Beinen hastete sie zu den Aufzügen.
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Ella hatte das mehrstöckige Haus sofort gefunden, nur die Suche nach einem Parkplatz hatte etwas gedauert. Nachdem sie nicht fündig geworden war, stellte sie ihren Porsche einfach am Gehweg unweit des Hauses ab.
»Und Sie sind wer?«, begrüßte sie ein Mann, der vor der Eingangstür Wache schob und jeden kontrollierte.
»Ella Greenwood, Morddezernat.«
Der Mann prustete los. Er hatte einen Schnauzbart, der ihn wie ein Walross aussehen ließ, seine wässrigen Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Da oben hängt eine Leiche. Die Sache da ist etwas für Erwachsene und nicht für kleine Schulmädchen. Sind Sie vielleicht eine Reporterin?« Er schniefte und verschränkte provokativ die Arme vor der Brust.
Ella kramte in ihrer schlichten Aktentasche, ohne fündig zu werden. Hektisch verschwand ihre Hand in der Innentasche ihres Jacketts. Mit einem erleichterten Seufzer fischte sie ihren Dienstausweis heraus und hielt diesen dem Mann direkt vor die fleischige Nase.
Sein Lächeln erstarb. Der Polizist räusperte sich. »Dritter Stock. Und halten Sie das Ding parat. Sonst werden Sie nicht durchgelassen. Sie sind neu, oder?«
Ella nickte knapp und steckte den Ausweis zurück in die Innentasche. Mit einem kecken Lächeln beäugte sie den Mann, weil er seinen Blick zu ihrem Wagen wandern ließ.
»Und wie kommen Sie zu so viel Geld, dass Sie so einen Schlitten fahren können?«
»Mein letzter Ehemann war reich, alt und hatte ein schwaches Herz. Er starb noch im Bett …« Sie ließ den zweideutigen Satz in der Schwebe hängen und zwinkerte dem verdutzt dreinblickenden Mann frech zu.
Dieser hüstelte verlegen in die Faust. »Das erklärt aber immer noch nicht, wie eine junge Frau wie Sie es ins Morddezernat geschafft hat. Mussten Sie nicht vorher Streife fahren und Knöllchen verteilen?«
»Mein vorletzter Ex war übrigens der Berliner Polizeipräsident.«
»Sie nehmen mich auf den Arm.«
»Wer weiß!« Ella grinste und schlüpfte durch die Tür, als eine ältere Dame mit ihrem Rollator und einem Langhaardackel mühselig die Tür vor sich herschob.
»Mein Schlüssel«, rügte sie mit erstaunlich klarer Stimme und zeigte auf das Schloss, in dem ein Bund aus mehreren Schlüsseln hängen geblieben war.
»Oh, ich bitte um Entschuldigung«, sagte Ella schnell und gab der Dame das zurück, wonach sie mit herrischem Gesichtsausdruck verlangt hatte.
»Ich bekomme den Schlüssel nicht mehr so schnell aus der Tür«, murmelte die Dame. »Und Babsy hat sich mit ihrer Leine um mein Bein gewickelt. Die ist ja noch ungeschickter, als ich es bin. Babsy, zieh nicht so. Sonst musst du wieder zum Tierarzt.« Der Hund winselte.
»Der nette Polizist wird Ihnen sicherlich bei dem kleinen Malheur helfen.« Ella warf ihm ein spöttisches Grinsen zu.
»Aber natürlich, gnädige Frau«, knurrte der Polizist.
»Das ist aber lieb«, freute sich die betagte Frau und richtete kurz ihre weißen Locken. Der Hut saß schief auf ihrem kleinen Kopf, doch dieser passte gut zu ihrem restlichen Ensemble, stellte Ella fest und dachte bei sich: Ob ich in dem Alter auch noch so fit bin? Schon kehrte sie den dreien den Rücken zu und nahm die Treppe. Ihre Absätze klackerten auf den Stufen und kündigten ihr Kommen an.
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Auf dem obersten Treppenabsatz stieg ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase, herb und süßlich. Vor der Tür zur linken Wohnung stand, sichtlich übermüdet und auch gelangweilt, ein uniformierter älterer Polizist und starrte auf einen imaginären Punkt vor sich. Erst nachdem Ella ihm ihren Polizeiausweis gezeigt hatte, würdigte er sie eines Blickes und nickte knapp zur Tür.
Die Tür war nicht verschlossen. Ella fiel sofort auf, dass sie brachial aufgebrochen worden war, denn in der Zarge klaffte ein großes Loch, und der Schlossriegel ragte nach wie vor aus der Tür.
»Die Kollegen vom KDD haben sie aufbrechen müssen, wenn ich richtig informiert wurde«, setzte sie der ältere Polizist in Kenntnis. Sein Blick hing nicht mehr in der Leere, sondern auf ihrem Po.
Ella schüttelte nur den Kopf und fand sich nach einem kurzen Augenblick des Zögerns in einem geräumigen Flur wieder, der in schlichtem Weiß gehalten war, selbst der Boden war weiß gefliest.
»Sind Sie mit der Toten irgendwie verwandt? Wer hat Sie eigentlich reingelassen?« Ein bulliger Mittfünfziger stand ihr direkt gegenüber und musterte sie streng. Sein hageres Gesicht war von grauen Bartstoppeln übersät. Er sah übernächtigt und nicht wirklich gut gelaunt aus. Auch nachdem Ella sich ausgewiesen hatte, besserte sich seine Laune nicht merklich.
So etwas wie Hohn funkelte in den stahlgrauen Augen des Mannes. Ein knappes, abschätziges Lächeln huschte über den schmallippigen Mund.
»Stellen sie jetzt schon unschuldige Mädchen ein? Wo ist Stegmayer?«
»Er ist verhindert, ich bin seine …« Sie haderte mit sich selbst, weil sie sich nicht sicher war, ob »Partner« tatsächlich eine gängige Beschreibung für einen Kollegen war. »Wir arbeiten zusammen«, erklärte sie schließlich und hielt dem bohrenden Blick doch noch stand.
»Herzliches Beileid.«
»Danke«, entgegnete sie trocken, ohne näher darauf einzugehen. »Darf ich weiterfragen, ob Sie sich ausweisen können?«, fragte Ella in demselben barschen Ton.
So etwas wie Respekt funkelte in seinen Augen. Er hob die Augenbrauen und griff zur Gesäßtasche. »Das Küken zeigt Zähne, gefällt mir. Kommissar Mittnacht mein Name, doch alle nennen mich Harry. Aber jetzt mal im Ernst, ist es denn um das Berliner Morddezernat so schlecht bestellt, dass sie jetzt schon Schülerinnen einstellen?«
»Ich weiß nicht, bei wem ich schlechter aufgehoben wäre, bei Ihnen oder Herrn Stegmayer. Wenn ich beim ersten Mal über Ihren Witz nicht gelacht habe, werde ich auch dann nicht lachen, wenn Sie ihn noch weitere drei Male wiederholen«, konterte Ella und deutete zur Tür. »Darf ich fragen: Die Tür musste aufgebrochen werden?«
»Ja, der KDD, also der Kriminaldauerdienst, hat die Tür aufbrechen müssen.«
Ella ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Natürlich wusste sie, was die Abkürzung bedeutete. »Die Tür war jedoch nicht abgeschlossen«, konstatierte sie ruhig und beäugte noch einmal das klaffende Loch im Türstock.
»Ist das denn von irgendeiner Bedeutung? Bei einem Suizid ist es einerlei, ob die Tür nur zugeschlagen oder abgeschlossen war.«
»Warum sollte eine Frau Selbstmord begehen, wenn sich ein kleines Kind mit in der Wohnung befindet? Das macht keine Mutter, egal, wie verzweifelt sie auch sein mag. Sie hätte erst dafür gesorgt, dass ihr Kind bei jemandem gut aufgehoben war.«
»Hm, Sie sind wohl einer dieser Supercops? Woher wussten Sie von dem Kleinkind, können Sie etwa hellsehen?«
»Nein, ich beobachte nur gern.« Sie deutete mit einer knappen Kopfbewegung zum Sideboard, auf dem das Telefon und eine Milchflasche standen.
»Auch dieser Punkt geht an Sie. Nur so wurden die Nachbarn auf das hier aufmerksam. Das Schreien eines Kindes brachte die Nachbarin dazu, die Polizei zu verständigen. Das Kind befindet sich momentan in der Obhut der Ärzte. Das Mädchen war leicht dehydriert und wirkte verstört, aber es ist zu klein, um das ganze Ausmaß des Schreckens zu begreifen.«
»Das würde ich nicht so unterschreiben wollen«, erwiderte Ella.
»Sie sind aus demselben Holz geschnitzt wie Leonhard, Sie lassen sich auch nicht verbiegen, was?«
»Ich muss der jungen Dame recht geben«, intervenierte ein kleiner Mann in einem weißen Schutzanzug und stellte sich zu den beiden. Er atmete schwer und zupfte sich die Schutzmaske von Mund und Nase. »Kinder begreifen oft mehr, als uns lieb ist. Meine Enkelin ist auch so eine. Aber das nur nebenbei erwähnt. Was ich eigentlich sagen wollte, ist Folgendes …« Er beäugte zuerst Ella, dann Kommissar Mittnacht. »Wie der Rechtsmediziner bereits festgestellt hat, haben wir es hier aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit einem Suizid, sondern mit einem Mord zu tun. Der Mörder wollte es nur als solchen aussehen lassen. Aber es liegt ein Halswirbelbruch vor. C3 und C4 sind verschoben, ungefähr hier …« Der Mann zeigte auf seinen Nacken und wollte mit seinem Bericht fortfahren, wurde jedoch von Kommissar Mittnacht unterbrochen.
»Kann es bei einer Strangulation nicht dazu kommen, dass die Wirbel brechen?«
»Schon, aber erst ab einer bestimmten Fallhöhe. Hier war der Abstand viel zu gering. Außerdem würde eine Mutter so etwas nicht im Beisein ihres Kindes tun. Nie im Leben.« Der Mann spähte zu Ella, als suchte er nach Bestätigung.
Ella nickte zustimmend. »Darf ich mir den Tatort ansehen?«
»Das hier muss nicht zwangsläufig der Tatort sein«, verbesserte sie der Mann im Tyvek-Schutzanzug und deutete mit der behandschuhten Hand auf den Boden. »Achten Sie bitte auf den Trampelpfad«, verwies er auf den Bereich, der von den Polizisten betreten werden durfte. Auf dem Boden verliefen parallel zwei gelbe Streifen, die den Weg markierten.
»Sie können mich Richie nennen, das machen alle hier. Zu Hause bin ich Richard, aber behalten Sie das bitte für sich. Ich mag diese formellen Bezeichnungen nicht. Gekränkte Eitelkeiten und verletzte Gefühle, all das gehört nicht zu unserem Job, darum lasse ich diesen ganzen Firlefanz daheim. Man muss das Private vom Beruflichen sehr sorgsam trennen, sonst geht man schnell ein. Aber das ist nur ein Rat von mir, Sie sind erwachsen genug, um den richtigen Weg für sich zu wählen.«
Ella war der Mann auf Anhieb sympathisch.
»Und wie heißen Sie?«
»Ella«, sagte sie schlicht und folgte dem älteren Beamten ins Wohnzimmer.
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»Es wurden schon die ersten Maßnahmen eingeleitet, um den ungefähren Todeszeitpunkt zu bestimmen, aber das ist bei dieser Zimmertemperatur sehr schwer. Da gehören zu viele Faktoren zusammen. Manchmal sind die Abgründe der menschlichen Seele schrecklicher als jede Fiktion. Und glauben Sie mir, ich habe schon vieles gesehen. Sich am Leid der anderen zu laben, scheint manchen zur Lebensaufgabe geworden zu sein. In diesem Fall sieht jedoch alles nach einem Streit aus, der eskaliert und schließlich in einem Mord geendet ist. Die müssen Sie sich noch überstreifen.« Richie reichte ihr zwei blaue Handschuhe und blieb stehen.
Ella sah nicht zum ersten Mal, wie eine Frau durch Strangulation getötet worden war.
»Hier passen bedeutsame Punkte nicht, die auf Erhängen hindeuten würden«, ertönte eine tiefe Stimme. Sie gehörte einem Mann, der gerade dabei war, der Toten mit einer kleinen Taschenlampe in den Mund zu leuchten. Mit dem Daumen hob er die beiden Lider nacheinander an und schaute in die trüben Augen der Toten. »Keine Petechien. Aber Würgemale am Hals.«
Ella vergegenwärtigte sich noch einmal die Situation und ließ den Blick über die Einrichtung schweifen. Mit nachdenklicher Miene sah sie sich in dem rechteckigen Raum um. Hier dominierte ebenfalls die Farbe Weiß. Die Möbel waren nicht teuer, aber auch nicht billig. Der einzige Farbtupfer war das Grün der Baumkronen, das durch das große Fenster leuchtete.
Die Tote lag neben einem Heizkörper. Sie hing an einem Strick, der an einem dünnen Rohr festgeknotet war, das in der Decke verschwand.
Adrenalin breitete sich in ihrem Körper wie ein Flächenbrand aus und schärfte ihre Sinne. Ella musste sich konzentrieren. Das hier war ihr erster Fall. Sollte sie ihn verpatzen, konnte sie sich die Karriere abschminken. Darum hoffte sie inständig, nicht in ein Fettnäpfchen zu treten. Der Umgang bei der Polizei war rau, weil jeder hier überarbeitet war.
»Wer leitet diese Ermittlung?«, wollte der Mann mit der tiefen Stimme wissen und stand auf. »Sie?« Zwei schwarze Augen waren auf Ella gerichtet. Der scharfe Unterton in seiner Stimme machte ihn keinen Deut sympathischer. Auch er trug einen Overall.
Ella nickte knapp.
»In welcher Art von Schwierigkeiten mag die Frau wohl gesteckt haben?«, murmelte Richie neben ihr und brachte damit den Mann mit dem finsteren Blick durcheinander.
Einen Moment lang visierte der große Mann sie noch einmal prüfend an, dann entspannte sich seine Körperhaltung. »Und wo ist unser Choleriker?« Hier und da ertönte gedämpftes Gemurmel, das entfernt nach leisem, abgehacktem Gelächter klang und zu dieser angespannten Situation überhaupt nicht passte, fand Ella. Aber sie war ja noch nicht so lange dabei, um so abgebrüht zu sein wie der Rest der Truppe.
»Willkommen im Klub«, vernahm Ella eine Frauenstimme. »Irgendwann gewöhnst auch du dich an den Tod. Unser Tom ist gar nicht so ernst, wie er immer tut«, sagte die Frau und deutete auf den Mann mit den rabenschwarzen Augen, der immer noch neben der Toten stand.
»Danke, Renate«, erwiderte dieser und schüttelte leicht den Kopf. »Aber sie hat recht. Ich bin von der Rechtsmedizin und dafür zuständig, die Art des Todes und dessen Ursache festzustellen. Die anschließende Obduktion wird auf dem Seziertisch vorgenommen. Ich wäre hier so weit fertig.« Er packte seine Sachen zusammen und machte sich zum Aufbruch bereit.
»Jochen, Arnold, ihr könnt das Seil durchtrennen, aber weit oberhalb des Knotens«, instruierte Richie daraufhin zwei Männer, die seine Anweisungen ohne Widerrede befolgten. »Leonhard wird sich den Knoten später anschauen wollen«, schob er wie eine Warnung nach. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Das ist ein einfacher Palstek«, überlegte Ella und hielt den Blick auf den Knoten gerichtet. Mit diesem Satz brachte die junge Polizistin alle Anwesenden zum Verstummen. Tom, der Rechtsmediziner, blieb in der Tür stehen.
»Ein was?«, entfuhr es ihm, während er sich zu Ella umdrehte. Einen der Handschuhe hatte er bereits ausgezogen, der andere hing noch an seiner linken Hand.
»Ein einfacher und zugleich wichtiger Seemannsknoten mit einem nicht zuziehbaren Auge, auch Schlinge genannt. Aber er wurde nicht professionell …«
»Segeln Sie etwa?«, fiel ihr der Rechtsmediziner ins Wort.
»Nein, ich interessiere mich einfach dafür«, sagte sie laut und fügte in Gedanken hinzu: Allein dieser Eigenheit habe ich es zu verdanken, dass ich noch am Leben bin.
»Wenn wir von Halswirbelbruch als Todesursache ausgehen, wurde ihr der Strick post mortem um den Hals gelegt. Das erklärt auch, warum wir hier auf dem Boden unregelmäßige Schleifspuren entdeckt haben«, erfüllte Richies Stimme die Stille.
Ella sah die dazugehörigen Markierungen mit den entsprechenden Nummern.
»Was fällt Ihnen noch auf?«, wollte der große Mann wissen und zog auch den zweiten Handschuh ab, um nach zwei neuen zu verlangen. »Kommen Sie ruhig näher und lassen Sie sich Zeit«, ermutigte Tom sie.
Ella trat näher. Sie legte ihr ganzes Augenmerk auf den blau angelaufenen Hals, der an der Stelle um den Knoten aufgedunsen war.
»Der Knoten wurde falsch gebunden«, erklärte sie mit ruhiger Stimme.
»Und weiter?« Tom stand neben ihr.
Die beiden Männer hielten ihr den Leichnam so hin, dass Ella freie Sicht auf den Knoten hatte. Die Schlaufe schnitt der toten Frau seitlich ins Fleisch. Der Strick verlief dicht am Ohr. Die Leiche trug nur ein Nachtkleid.
»Okay, das reicht fürs Erste«, entschied Tom mit seiner rauen Stimme, als hätte er Rasierklingen gefrühstückt, und ging. Dieses Mal verließ er aber endgültig das Wohnzimmer. Die beiden Männer hievten die Leiche in die Höhe, einer kappte das erschlaffte Seil mit einem Messer.
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Ella versank in der Welt der Vergangenheit. Sie sah sich als Kind, wie sie an einem Seil aufgehängt wurde. »Wie ein Straßenköter«, hörte sie die tiefe Stimme des Mannes, der ihr das angetan hatte. Ihre zierliche Gestalt hob sich kaum von der dunklen Wand aus grünem Laub ab. Die Erde war warm an diesem Tag, die Luft kühlte nur langsam ab und roch nach Regen. Nebel stieg vom Boden auf und umhüllte sie.
Eine Stimme wie von einem Geist rief nach ihr. Schrie ihren Namen. Das verzweifelte Rufen kam von ihrer Mutter, die unweit der Waldlichtung vergewaltigt und aufgeschlitzt worden war. Das ungeborene Kind lag in ihren Armen. Immer noch mit der Nabelschnur verbunden, kämpften die beiden um ihr Leben. Aussichtslos.
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Der dicke Reißverschluss verursachte ein lautes, ratschendes Geräusch und riss Ella grob aus den Erinnerungen. Die Leiche verschwand in einem schwarzen Sack und wurde auf einer Rolltrage aufgebahrt.
Die Wohnung leerte sich.
»Kommen Sie zurecht?« Renate sah Ella abwartend an. »Ich kann Ihnen noch etwas Gesellschaft leisten, bis Leonhard hier auftaucht.«
»Nein, danke. Ich schaue mich solange um.«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Lassen Sie sich nicht von den Jungs unterkriegen!«
Über Ellas Mund huschte so etwas wie ein trauriges Lächeln.
»Tom, kommst du mit oder willst du der jungen Dame den Hof machen?«, zog Renate ihren Arbeitskollegen mit einem verschmitzten Lächeln auf.
Der große Mann wirkte ohne den Overall ganz anders. Er trug einen grauen Hoodie, weite Hosen und blaue Sneaker. Das dunkelblonde Haar sah gewollt zerzaust aus und stand in krassem Kontrast zu seinen schwarzen, ständig lauernden Augen. Ella schätzte ihn auf Ende dreißig, und wäre sie ihm auf der Straße begegnet, hätte sie ihn für einen Skater gehalten.
Renate boxte ihn gegen die Schulter und riss ihn so aus der Starre. Sein Blick löste sich von Ella.
»Hey, ich war nur nett«, brummte er, schulterte eine dicke Ledertasche und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung.
»Bevor Sie gehen, müssen Sie dafür sorgen, dass die Wohnung versiegelt wird. Das machen die Jungs, die draußen im Treppenhaus auf Sie warten werden. Aber Sie sollten es dennoch überprüfen.«
»Danke«, sagte Ella nur.
»Keine Ursache.«
Einer unerklärlichen Eingebung folgend peilte Ella zuerst das Badezimmer an. Das Gesicht der Frau war an einem Auge stark geschminkt gewesen, am anderen fehlte die Schminke. Sie hatte sich also bettfertig gemacht und war gerade dabei gewesen, das Make-up abzutragen. Womöglich hatte sie auch die Milch für das Kind aufgewärmt und sie zum Abkühlen auf das Sideboard gestellt. Mit diesen Gedanken zog sie sich Handschuhe über und öffnete die Tür.