KAPITEL 4
Leonhard stieg aus dem Taxi und stürmte zum Haus. Ihn fuchste der Gedanke, dass er sich von Reinhold hatte so leicht verarschen lassen.
Ein Selbstmord, dass ich nicht lache , dachte er. Ein Selbstmord, aus dem ein Mord geworden war, welchen er nun an der Backe hatte.
Auch der Zwist mit Jörg stimmte ihn nicht gerade fröhlich, nun wussten alle von seinem Ausrutscher. Aus Mutmaßungen wurde jetzt nackte Realität. Ja, er hatte die Frau eines seiner Kollegen gebumst, na und, schließlich war das ihre Idee gewesen, er hatte nur nicht Nein gesagt.
Mit zornrotem Gesicht schob Leonhard Stegmayer einen jungen Mann aus dem Weg.
»Hey«, empörte sich dieser.
Leonhard hob sein T-Shirt an, sodass der Jugendliche einen Blick auf seine Dienstwaffe werfen konnte.
»Wenn du mich noch einmal anbrüllst, schieße ich dir ins Knie«, brummte Leonhard missgelaunt. »Mach die Tür auf«, befahl er dem zu Tode erschrockenen Teenager, der eine Bierdose in der Hand hielt und dessen linkes Auge nervös zu zucken begann. »Mach schon«, drängelte Leonhard. »Ich bin ein verdammter Bulle, kein Einbrecher, hier ist mein Dienstausweis.« Er wies sich aus.
»Als ob ich weiß, wie ein echter Ausweis aussehen muss«, stammelte der Halbstarke und strich sich über das schwarze T-Shirt, das ihm mehrere Nummern zu groß war.
»Oversized ist scheiße, so kriegst du kein Mädel ab, Kumpel, und Bier saufen ist auch nicht gerade cool. Bist du eigentlich schon sechzehn?« Leonhard knurrte, nahm dem Jungen die Dose ab und sah sich kurz um. Warum wurde der Eingang nicht bewacht? Er warf einen hastigen Blick auf seine Uhr.
Der junge Mann glotzte ihn konsterniert an und kniff verängstigt die Augen zusammen. »Ich wohne hier gar nicht«, gab er kleinlaut zu.
»Dann verpiss dich einfach. Das Bier bleibt aber hier.«
Das ließ sich der blonde Kerl mit den langen Dreadlocks nicht zweimal sagen. Er schnappte nach seinem Longboard, das an die Wand gelehnt gestanden hatte, und gab Hackengas.
Leonhard drückte auf sämtliche Knöpfe und wartete auf das Summen des Türöffners. Die Bierdose ließ er vor der Tür stehen. Ein latentes Unbehagen und die unnatürliche Stille brachten sein Blut in Wallung.
Endlich hörte er ein Rauschen und eine gebrechliche Stimme. »Ja?«
»Post«, rief Leonhard in die Sprechanlage und hielt auf die Tür zu. Ein mechanisches Knattern ertönte. Er drückte die Tür auf und stieß beinahe mit einem Polizisten zusammen.
»Warum ist der Eingang unbewacht?«, fuhr er den Uniformierten an.
»Ich bin doch hier«, widersprach ihm der Polizist knapp und schaute ihn unbeeindruckt an. Auf ein reumütiges Geständnis könne er lange warten, verriet sein Gesichtsausdruck.
Leonhard beließ es dabei und marschierte zum Aufzug. Er stieg in den engen Lift und wunderte sich, dass die Wände mit kruden Graffitis besprüht waren. Es roch nach Lösungsmittel und Lack. Jemand hatte vergeblich versucht, die Farbe abzuwaschen.
Leonhard klopfte mit der Faust gegen den Knopf mit der Zahl drei und schloss kurz die Augen, dabei massierte er sich die Schläfen. Die Tür glitt scheppernd zu. Ein metallisches Kratzen erfüllte den Raum und jagte Leonhard eine unangenehme Gänsehaut über den Rücken.
Nach einer gefühlten Ewigkeit begann sich der Aufzug endlich nach oben zu bewegen.
fleuron
Im dritten Stock angelangt begegnete er zwei Jugendlichen in Hoodies und Jogginghosen, die laut lachend an ihm vorbei die Treppe nach unten jagten.
»Sind Sie Kommissar Stegmayer?«
Leonhard hob verwundert die Augenbrauen. Ein gelangweilter Kerl, Mitte bis Ende dreißig und mit lichtem Haar, lehnte an der Fensterbank und wartete auf eine Antwort. Er trug einen grauen Kittel. Vor seinen Füßen stand ein Metallkoffer. Seine Augen waren rot umrandet. Trotz seines relativ jungen Alters wirkte der Mann verlebt. Dunkle Ringe und angeschwollene Tränensäcke waren der Tribut eines Trinkers, den er für seine Saufgelage zahlen musste.
Seine Leber ist bestimmt größer als die Lunge , überlegte Leonhard und trat näher.
Der Mann starrte ihn aus grauen, wässrigen Augen an.
Der Kommissar fuhr sich mit der Zunge über die Innenseite seiner Wange und steckte beide Daumen in die Hosentaschen.
»Ich bin der Hausmeister und soll hier so lange warten, bis ein gewisser Herr Stegmayer auftaucht. Groß, graue Haare, schlecht gelaunt und gut gekleidet«, zählte der unbekannte Mann mürrisch auf und hielt drei Finger in die Luft. Sein Blick huschte unstet hin und her. »Die Beschreibung trifft im Groben auf Sie zu. Können Sie sich eventuell ausweisen?« Jetzt klebten die stahlgrauen Augen an Leonhards Nasenspitze. Sein Gegenüber vermied jeglichen direkten Blickkontakt.
Er verheimlicht mir etwas , sinnierte Kommissar Stegmayer mit unbeweglicher Miene und schwieg einen Moment lang weiter.
Der Hausmeister hüstelte. »Ich kann nicht jedem dahergelaufenen Proleten aufs Wort glauben, dass er ein Bulle ist.«
Leonhard zückte seinen Ausweis und hielt ihn dem Mann vor die Augen. Dieser nickte gelangweilt, ohne einen Schritt näher zu kommen.
»Und Sie?«, gab sich Leonhard trotzig und versperrte dem Mann den Weg.
Der Hausmeister richtete sich auf und klopfte mit dem rechten Zeigefinger gegen den Aufnäher auf seiner Brust, auf den in weißen Buchstaben der Name »Sternwart« gestickt war. Unter dem Fingernagel sah Leonhard einen schwarzen Strich. Auch sonst machte der Kerl keinen sonderlich gepflegten Eindruck auf ihn. Die Fahne nach billigem Schnaps war trotz des latenten Minzgeruchs noch deutlich wahrnehmbar.
Leonhard rümpfte die Nase. »Wo ist die Wohnung von Frau Jung?«, fragte er dann und machte einen Schritt zur Seite.
»Einmal um die Ecke.« Der Hausmeister grapschte nach dem Koffer und streckte den linken Arm aus. Er kaute nun heftiger auf seinem Kaugummi und deutete immer noch mit dem linken Arm in eine bestimmte Richtung.
»Als ich hiervon hörte, konnte ich es kaum fassen.« Hausmeister Sternwart legte eine kurze Pause ein, bevor er weitersprach, als müsste er ständig darüber nachdenken, was er von sich gab. »Wie oft schon habe ich Frau Jung ermahnt, den Schlüssel nicht in der Tür stecken zu lassen.«
»Kannten Sie die Frau gut?«
»Ich kenne alle hier gut«, lautete die schlichte Antwort. »Ist sie tatsächlich tot?«
»Kann man wohl sagen«, brummte der Kommissar und zog sich zwei blaue Einweghandschuhe über.
Wie vor den Kopf geschlagen rieb der Hausmeister sich nervös das Kinn.
Sie liefen nur wenige Schritte um den Aufzug herum, schon sah Leonhard einen seiner Kollegen vor einer geöffneten Tür stehen. Bei Leonards Anblick nahm der Polizist eine straffe Haltung an und steckte hastig sein Smartphone weg.
»Hat mein plötzliches Auftauchen Ihre heutigen Pläne konterkariert? Haben Sie nach dem Wort ›Feierabend‹ gegoogelt?« Leonhard trat näher an den jungen Polizisten heran.
Dieser schluckte nur. Schamröte kroch aus seinem Kragen und befleckte die glatt rasierten Wangen.
»Sie haben einen Schlüssel erwähnt?« Leonhard Stegmayer lugte über die Schulter.
Hausmeister Sternwart stellte den Koffer ab. Darin schepperte etwas metallisch.
»Ja, das war so eine blöde Angewohnheit von ihr.«
»Was ist daran falsch?«
»Nichts, wenn der Schlüssel –«
»Sie meinen, der Schlüssel steckte von außen«, unterbrach ihn Leonhard ungeduldig.
»Sag ich doch. Einmal hatte sie sich ausgesperrt, sodass der Typ vom Schlüsseldienst das Schloss aufbohren musste. War teuer, das Ganze. Darum ging die gute Frau lieber das Risiko ein, ausgeraubt zu werden, als sich erneut auszusperren. Jetzt hat sie den Salat.«
»Hatte«, verbesserte ihn Leonhard und inspizierte den Türrahmen.
»Wurde von unseren Jungs aufgebrochen«, beeilte sich der junge Polizist zu sagen, der seinen Fehltritt irgendwie wiedergutmachen wollte.
»Sie bohren zwei Löcher, hier und hier«, wandte sich Leonhard ungerührt an den Hausmeister und zeigte mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand ungefähr auf die Stellen, die er meinte. »Da bringen Sie bitte ein Vorhängeschloss an, den Schlüssel geben Sie dann mir.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat er die Wohnung. Er bemerkte die Anwesenheit eines Menschen. Die flüchtige Ahnung eines Parfüms, die in der Wohnung hing, verriet ihm, dass es seine neue Kollegin war, die sich hier aufhielt. »Greenwood?«, rief er nicht besonders laut und machte noch drei weitere Schritte durch den kleinen Flur.
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Ella zuckte zusammen und ließ beinahe das Stäbchen fallen, welches sie in dem unaufgeräumten Spiegelschrank gefunden hatte. Es handelte sich um einen Schwangerschaftstest, der positiv ausgefallen war.
Sie schritt rasch in den Flur und begegnete ihrem störrischen, aufmüpfigen und arroganten Kollegen.
»Leonhard?«
»Für Sie immer noch Herr Stegmayer. Ich wüsste nicht, dass wir uns nahestehen. Bisher gibt es noch keinen Grund, uns zu duzen. Wir arbeiten zusammen und sind kein Paar. Also, wir sind Kollegen, das Wort ›Partner‹ vergessen Sie lieber ganz schnell. Was haben Sie hier gemacht? Sind Sie schwanger und haben das Bad während meiner Abwesenheit dazu benutzt, um sich zu vergewissern, dass das Ausbleiben Ihrer Tage …«
»Sind Sie komplett bescheuert?«, entfuhr es ihr, nachdem ihr bewusst wurde, wohin seine Äußerung zielte. Ihr tat ihr Wutausbruch auch gar nicht leid. Innerlich kochte sie vor Ärger. Dieser Typ war ja noch schlimmer, als sie es befürchtet hatte. Am liebsten hätte sie ihm das Stäbchen ins Auge gerammt.
»Warum behandeln Sie alle wie Dreck?«, wollte sie wissen und presste die Zähne fest aufeinander, um ihm keine weitere Beleidigung an den Kopf zu werfen.
»Weil ich ein Dreckskerl bin, und ihr Frauen steht auf solch ungehobelte Kerle mehr als auf die, die euch den Arsch nachtragen. Würde ich mich anders verhalten, bin ich mir sicher, würden die anderen mich wie Dreck behandeln. Jetzt zurück zu unserem Job, das andere heben wir uns für später auf. Was haben Sie da gefunden? Und noch etwas: Sie lernen lieber ganz schnell, sich zu beherrschen und sich von solch blöden Sprüchen wie eben nicht sofort aus der Ruhe bringen zu lassen. Damit Sie nötigenfalls in angespannten Situationen nicht gleich explodieren. In einer prekären Lage werden Sie sich des Öfteren an diesen Rat erinnern, glauben Sie mir. Ich spreche aus Erfahrung.«
»Waren Sie schon immer so?«
Er bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. »Also, war Gisela Jung schwanger?«
Ella war auf eine solch abrupte Wendung nicht vorbereitet.
»Ja. Ich habe auch den Kassenbon gefunden. Den Test hat sie vorgestern in der Apotheke gekauft, die sich nur eine Straße weiter befindet.«
»Und?«
»Ich war noch mal im Wohnzimmer.«
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ist diese Information von Belang oder kommt noch etwas hinzu?«
»Kommen Sie einfach mit!« Ella tätschelte seine verletzte Nase.
Leonhard sog zischend die Luft ein, sagte jedoch nichts.
Ella grinste in sich hinein und ging durch den Korridor. Mitten im Wohnzimmer blieb sie stehen und starrte auf die Wohnwand.
Leonhard gesellte sich zu ihr. Er holte Luft und sagte: »Nehmen wir mal an, ich wäre gut gelaunt und hätte alle Zeit der Welt.« Er klang dabei mehr als gereizt. »Was in aller Welt soll ich hier, warum gaffen wir den Fernseher an?«
»Fällt Ihnen diese Disharmonie nicht auf?« Ella klang nicht minder angespannt.
»Nach einer gründlich durchgeführten Spurensicherung sieht es oft noch disharmonischer aus als jetzt. Auf diesen Feng-Shui-Kram habe ich keinen Nerv«, gab er sich schnippisch.
»Ich meine damit nicht die Unordnung, sondern die gebrochene Symmetrie.«
»Jetzt spucken Sie es schon aus, wir Männer betrachten die Welt von einer anderen Warte – nämlich der gegenteiligen. Die Frau muss gut aussehen und vielleicht kochen können, auch Sex ist für uns wichtig, den Rest bildet ihr Frauen euch nur ein. Daher sehen wir die Welt aus völlig unterschiedlichen Perspektiven. Unsere Betrachtungsweise ist automatisch kontrovers.«
Ella begann an sich zu zweifeln. Hatte sie sich nur etwas eingebildet? Das Flüstern der Skepsis in ihrem Kopf wurde lauter, doch Kommissar Stegmayer schwieg. Er legte den Kopf leicht schräg zur Seite.
»Da fehlt ein Bild«, murmelte er nachdenklich, »aber nicht der Symmetrie wegen, sondern wegen des rechteckigen Flecks an der Wand.« Er trat näher. Der lange Flor-Teppich dämpfte seine Schritte. Er blieb vor der Wohnwand stehen und betrachtete eine Stelle eingehend, dann warf er einen prüfenden Blick zum Fenster. »Jemand hat eines der Bilder mitgenommen. Oder die Frau hat es vor Kurzem aussortiert. Die Erklärung kann genauso simpel wie –« Eine lustige Melodie unterbrach seinen Redefluss. Umständlich griff er mit der rechten Hand nach seinem Telefon. »Ja? … Natürlich hast du meine ungeteilte Aufmerksamkeit, Tom«, versicherte er dem Anrufer, jedes Wort betonend, und fuhr mit dem Finger über die glatte Oberfläche an der Wand – dort, wo auch Ella den Platz eines Bildes vermutet hätte. Dann rieb er die Finger aneinander. »Wenn du mit der Information aufwarten willst, dass die Tote schwanger war, können wir das Gespräch beenden.« Er lachte kurz auf. »Was hast du noch?« Leonhard bedachte Ella mit einem nichtssagenden Blick und lauschte. »Halswirbelbruch – wie anfänglich vermutet? Hast du etwas, das ich nicht schon weiß? … Wann beginnst du mit der Obduktion? … Morgen? … Ja … Bis morgen.« Er legte auf.
»Sie mögen recht haben mit der Annahme, dass das Bild mitgenommen wurde. Die Tür wurde aufgebrochen –«
»Von der Polizei«, unterbrach ihn Ella.
Doch Leonhard fuhr in demselben Ton fort. »Dies wirft eine andere Frage auf: Wie kam der Täter in die Wohnung?«
»Er hat geklingelt und hat sich als Postbote ausgegeben.«
»Mitten in der Nacht?«
»Wie kommen Sie darauf?« Ella glaubte zwar an ihre Theorie, dass sich der Überfall in der Nacht zugetragen hatte, dennoch wollte sie aber seine Annahme hören.
»Die Frau hat sich gerade abgeschminkt. Ich habe Pads auf der Waschmaschine im Bad gesehen.«
»Das hat Ihnen Tom verraten«, murmelte sie.
»Und die Notizen in Ihrem Block, den Sie liegen gelassen haben.« Der Kommissar freute sich und deutete auf das Sideboard im Flur. Darauf befanden sich Ellas Schreibunterlagen. Sie fluchte in sich hinein. Leonhard fuhr fort: »Ich habe mit dem Hausmeister geredet, und er meinte, dass Frau Jung die Angewohnheit hatte, den Schlüssel außen in der Tür stecken zu lassen. Nachts hat sie ihn aber sicher abgezogen, was ein Blick auf den Schlüsselkasten bestätigt hat. Der Schlüssel war da und nach Auskunft der Hausverwaltung besaß Frau Jung nur einen Schlüssel. Ergo hat sie den Täter reingelassen. Aber dann hat hier ein Kampf stattgefunden. Sehen Sie diese Fingerabdrücke am Türrahmen? Sie hat sich daran festgehalten.« Er machte eine Pause und sah Ella fragend an. »Wären Sie bereit, diese kleine Auseinandersetzung, die für Frau Jung tödlich ausging, nachzustellen? So können wir eventuell herausfinden, wie groß der Mann ist und in welcher körperlichen Verfassung er sich befindet. Die Tote hat ungefähr dieselbe Statur wie Sie, nur mit größerer Oberweite und breiteren Hüften, was aber nicht sonderlich ins Gewicht fällt.« Erneut huschte ein Schmunzeln über seinen Mund.
Er freute sich auf den bevorstehenden Akt. Er wollte seiner Kollegin eine Lektion in Sachen Selbstverteidigung erteilen. »Stellen Sie sich mit dem Rücken zu mir. Ja, genauso.« Er nahm Ella an den Schultern und positionierte sie dermaßen, dass sie exakt im Türrahmen stand, den Körper leicht zur Seite gedreht, den Blick zum Schlafzimmer, in dem Giselas kleine Tochter geschlafen hatte. Er legte ihr den rechten Arm um den Hals und spürte ihre Anspannung. »Bereit?« Während er das fragte, erhöhte er den Druck und spannte seinen Bizeps an.
Ella legte ihre Hände um seinen muskulösen Unterarm.
»Nein, Sie müssen sich schon am Türrahmen festhalten. Ich meinerseits werde versuchen, Sie ins Wohnzimmer zu zerren. Auf drei geht’s los. Drei«, kommandierte er schnell und bekam mit dem spitzen Schuhabsatz einen harten Schlag genau zwischen die Beine, dann bohrte sich schon ein Ellenbogen in seine Magengrube. Leonhards Augen wurden groß, er schnaubte und stöhnte vor Schmerz. »Er war deutlich kleiner als ich«, wisperte er und versuchte stoisch, das Gesicht zu wahren. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich aufzurichten. Er schluckte laut. »Karate?«, keuchte er mit schmerzverzerrtem Gesicht und tränenden Augen.
»Jiu-Jitsu«, entgegnete Ella trocken.
Leonhard nickte wissend und hielt sich an der Wand fest. »Sie wissen schon, dass das hier für die Katz war, Sie haben sich nicht an meine Instruktionen gehalten«, krächzte er und holte tief Luft.
»Möglich. Aber warum glauben Sie, dass der Angreifer kleiner war als Sie?«
Leonhards Gesicht war immer noch schmerzerfüllt. »Ich hatte hier keine Bewegungsfreiheit. Sehen Sie diese Vase hier?« Er zeigte mit dem Kinn auf eine schmale, durchsichtige Vase. »Ich hätte sie beinahe mit dem Knie umgestoßen, weil ich zu groß bin und tief in die Knie gehen musste, um Sie festhalten zu können. Ich hätte Sie sonst nicht am Hals packen können.« Er stöhnte leise und kniff vor Schmerz die Augen zusammen. »Und die Haare von Frau Jung waren immer noch halbwegs zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Also hat er sie nicht an den Haaren gezerrt. Die Leute von der Kriminaltechnik haben auch nur vereinzelte Haare auf dem Boden gefunden. Daraus lässt sich folgern, dass der heftige Kampf lediglich von kurzer Dauer war.«
»Woher sind Ihnen so viele signifikante Details bekannt, trotz der Abwesenheit der Leiche? Und warum konnte er sie so schnell überwältigen?«
»Frage Nummer eins«, er hob den Daumen, »Richie hat genügend Fotos in die digitale Akte hochgeladen. Sie werden später den Zugangscode von mir bekommen. Nun zu Frage Numero zwei«, jetzt folgte der Zeigefinger, »Gisela Jung hatte einen wunden Punkt.« Leonhard legte eine Pause ein, um seiner Aussage mehr Nachdruck zu verleihen.
»Das Kind«, flüsterte Ella.
Leonhard nickte stumm. »Alles deutet auf einen Familienstreit hin. Vielleicht ging es dabei um das Sorgerecht oder nicht bezahlten Unterhalt.«
»Oder um das ungeborene Kind. Vielleicht ist die Frau fremdgegangen und hat so den Streit ausgelöst, weil der Ehemann dahintergekommen ist.«
»Und das aus Ihrem Mund.« Leonhard richtete sich endlich auf. »Sie unterstellen also, dass die Frau –«
»Ich unterstelle nichts, ich sammle nur mögliche Indizien.«
»Ein sehr guter Ansatz. Ich schaue mich hier noch in Ruhe um. Danach lassen Sie uns was essen gehen.« Er sah auf seine Rolex. »Für ein Mittagsbüfett ist es leider schon zu spät«, brummte er in sich hinein und hob den Blick. »Ich brauche unbedingt etwas Kühles für meine Schwellung. Ab morgen kümmern Sie sich um Herrn Jung und besorgen sich andere Klamotten, vor allem bequemere Schuhe.«
Ella blieb ihm eine Antwort schuldig. Sie ging ins Schlafzimmer und ließ ihren Kollegen allein.
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Leonhard biss sich nachdenklich auf die Lippe und schaute sich um. Auf der weißen Kunstledercouch lag eine Decke. Davor befand sich der langflorige Teppich, der verrutscht war.
Über dem Zweisitzer, denn das Sofa war wirklich klein, hing ein formschönes Regal. Er streifte die nach Farbe sortierten Buchrücken mit einem flüchtigen Blick. Sie wirkten, als würden sie rein der Zierde dienen. Die Luft war warm und stickig, der Heizkörper immer noch eingeschaltet. Er rieb sich nachdenklich das Kinn und überlegte, was ihn hier so störte.
Im Kopf ging er erneut alle Eckdaten durch. Gisela Jung, vierundzwanzig Jahre alt, blond, in Trennung lebend. Der Noch-Ehemann arbeitete als Zimmermann, war nicht zu erreichen. Er war nicht aktenkundig und bisher nicht negativ aufgefallen. Kein Eintrag, nicht einmal einen Strafzettel. Gemeinsames Kind, ein Mädchen, ein Jahr alt.
Leonhard schlenderte zum Fenster und sah sich erneut eingehend die Stelle an, an der die tote Frau gefunden worden war. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, Rollläden gab es nicht. Er spähte durch das von Staub bedeckte Glas, konnte jedoch kein Haus erkennen, aus dem man etwas beobachtet haben könnte.
Er holte sein Handy heraus und scrollte die Bilder durch. Eine grüne Schmeißfliege flog ununterbrochen gegen das Glas und störte Leonhard beim Denken.
Die Leichenstarre war noch nicht vollständig ausgebildet. Das bedeutete, dass Gisela Jung seit höchstens achtzehn Stunden tot war. Eher weniger, weil das Kind sonst schon früher zu schreien begonnen hätte. Also war der Frau höchstwahrscheinlich in der vergangenen Nacht das Leben genommen worden.
Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Halt – da war er, der Gedanke, den er endlich zu fassen bekam: Hier drin war es eindeutig zu warm. Draußen herrschten fünfundzwanzig Grad und die Heizung ging immer noch. Entweder war der Hauptregler, der die Heizung automatisch abschaltete, sobald sich draußen die Luft über zwanzig Grad erwärmte, kaputt, oder er war absichtlich manipuliert worden. Aber ohne Zugang zum Heizraum war dies nicht möglich.
Leonhard fegte durch den Flur zur Tür. »Wo ist der Kerl?«, fuhr er den Polizisten an, der erneut in sein Handy starrte und es vor Schreck über Leonhards plötzliches Auftauchen beinahe fallen ließ.
»Sie … Sie meinen den Hausmeister?«
»Nein, den Präsidenten. Natürlich den Hausmeister, wen denn sonst?«
»Er hat irgendwas vom Schloss gesagt. Dass er es nicht dabeihat und gleich wiederkommt.«
»Darum hat er auch den Werkzeugkasten mitgenommen?«
»Man könne zurzeit niemandem trauen, nicht mal der Polizei, hat er gemeint.«
Leonhard raste die Treppe nach unten. »Falls er vor mir da ist, halten Sie ihn so lange fest, bis ich wieder da bin!«, schrie er über die Schulter und nahm zwei Stufen auf einmal.
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Unten angekommen sah sich Leonhard hastig um und fühlte sich für einen Augenblick um Jahre in die Vergangenheit katapultiert. Als Kind hatte er sich in genauso einem Wirrwarr an Gängen in einem Keller verirrt und war sich dabei ziemlich verloren vorgekommen. Nur mit viel Glück und lautem Geschrei hatte er es aus dem Labyrinth herausgeschafft, nachdem er von einem der Bewohner entdeckt worden war. Auch damals hatte er in einem langen Flur gestanden, das war jedoch in einem Hotel gewesen, wo er sich im Stockwerk geirrt hatte.
Jetzt starrte er den langen Korridor entlang, der von metallenen Türen flankiert war.
»Wie oft habe ich dir das eingetrichtert? Wenn du etwas rausholst, musst du es auch sofort wieder zurücklegen«, erklang eine aufgebrachte Stimme von irgendwoher.
Leonhard kniff angestrengt die Augen zusammen.
»Ich hätte niemals zustimmen sollen, dich bei mir aufzunehmen.« Die Stimme, die von den grauen Wänden abprallte, gehörte definitiv dem Hausmeister, da war sich Leonhard mehr als sicher. »Wo ist der verdammte Akkuschrauber?«, fuhr Hausmeister Sternwart seinen Stift – mutmaßte Leonhard – in barschem Ton an. »Diese Inklusion macht mich fertig. Hat man dich deswegen … hey, bleib stehen …!«
Leonhard ging der Stimme nach und stieß beinahe mit einem Mann zusammen, der durch eine Tür in den Gang hinausstürmte und davonlief. Den Kopf hielt er nach unten gesenkt. Seine Schritte durchbrachen die Stille.
Der Hausmeister verfolgte seinen Schützling bis in den Gang. »Wenn du jetzt abhaust, brauchst du nie wieder … hörst du?« Zornröte färbte sein Gesicht dunkel. Verzweiflung und Wut verzerrten sein Antlitz zu einer bösen Maske. Er presste die Lippen zusammen. Eine dicke Ader schwoll an seinem Hals fingerdick an. »Dann brauchst du nie wieder zurückzukommen«, drohte er dem verschwindenden Schatten lasch und glotzte den Kommissar entgeistert an. »Was wollen Sie denn schon wieder von mir? Hat der begriffsstutzige Kerl Ihnen etwa nicht ausgerichtet, dass ich gleich wieder da bin?«
Leonhard warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. »Autorität scheint nicht unbedingt Ihre Stärke zu sein. Wenn Ihnen schon die Stifte einfach so weglaufen …« Leonhard ließ den Satz in der Schwebe und verzog die Mundwinkel zu einem abwertenden Lächeln.
»Er heißt Luis, dieser Taugenichts, und sein Verstand ist wie das Wetter – mal scheint die Sonne, mal herrscht da oben totale Finsternis.«
»Und jetzt herrscht hier im Keller ein Donnerwetter«, witzelte der Kommissar weiter, blieb dabei jedoch ernst. »Wo ist eigentlich der Heizungsraum?«, wechselte Leonhard schnell das Thema und brachte den Hausmeister damit aus dem Konzept.
»Was ’n das schon wieder für ’ne Frage? Soll ich nun das Schloss anbringen oder die Heizung reparieren?«
»Nur den Thermostat. Oder warum knallt die Heizung selbst bei fünfundzwanzig Grad Außentemperatur, als würden draußen nordische Klimaverhältnisse herrschen? Haben Sie eine Wasserpumpenzange?«
»Ich bin hier der Hausmeister, oder ist Ihnen diese Information entgangen? Trage ich den Kittel einfach so zum Spaß?«
»Sie sind ein Säufer, und dennoch sehe ich nicht das Etikett einer Schnapsflasche auf Ihrer Stirn«, konterte Leonhard nonchalant und grinste schief.
»Wozu brauchen Sie denn eine Wasserpumpenzange?« Der Hausmeister klang schnippisch. Seine rechte Hand verschwand in der Tasche seines Kittels. Er fummelte darin herum und warf sich einen weiteren Kaugummi in den Mund. »Der Thermostat ist nicht kaputt. Gisela …« Er schluckte und verhaspelte sich. »… Frau Jung war eine Frostbeule, und der Typ von gegenüber hat was dafür springen lassen, wenn ich die Temperatur aufdrehe.«
»Also, Sie kannten Gisela Jung so gut, dass Sie sie duzten?« Leonhard hob die Augenbrauen und griff nach einem kleinen Schreibblock, der in seiner Gesäßtasche steckte, um sich diese Information zu notieren.
Der Hausmeister zupfte am Revers seines Kittels und schien zunehmend unruhiger zu werden. »Nicht so, wie Sie denken«, murmelte er mit dem Unterton eines Menschen, der etwas zu verbergen hat und sich gleichzeitig in die Ecke gedrängt fühlt. Schweißperlen benetzten seine von Aknenarben übersäte Stirn. Für den Bruchteil eines Augenblicks wirkte er traurig, als würde ihm gerade bewusst, dass die Frau, über die sie sprachen, tot war. »Ich hatte nichts mit Gisela.« Seine Stimme flackerte. »Aber ich gebe zu – ich empfand so etwas …«, er hüstelte, »… ich hegte Gefühle für sie. Aber sie war verheiratet und hatte eine Tochter. Das ist ein Tabu für mich«, sagte er entschieden und verschwand hinter der Tür. Leonhard folgte ihm.
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Der Raum, der als Werkstatt und Sammelsurium für diverse Gegenstände fungierte und alles Mögliche beherbergte, wirkte klein und unordentlich.
»Ich bin kein Mörder.« Sternwart bemaß den Kommissar mit kaltem Blick. Sein Gesichtsausdruck verdeutlichte dem Polizisten, dass er sich lieber vorsehen sollte. Der aufgebrachte Hausmeister griff nach einem Hammer und wog ihn abschätzig in der Hand, um ihn dann scheppernd in eine Ecke zu pfeffern. »Der, der ihr das angetan hat, muss genauso elendig verrecken«, zischte er und schlug sich die Hände vors Gesicht.
»Warum gehen Sie von einem Mord aus? Was macht Sie da so sicher? Haben Sie etwa die Leiche zu Gesicht bekommen? Haben Sie den Tatort ohne unser Wissen betreten? Oder haben Sie da einen konkreten Verdacht? Wem würden Sie so etwas zutrauen?« Leonhard klang gefasst und ruhig. »Wenn Sie mir die Wahrheit sagen, werde ich nachsichtig sein«, fuhr der Kommissar fort und klang weiterhin verständnisvoll.
»Nachsichtig sein«, echote Sternwart. »Sie sind doch von der Mordkommission, darum bin ich auch von einem Mord ausgegangen, ist doch logisch, oder?« Er nahm die Hände wieder weg, um Stegmayer einen kalten Blick aus seinen rot unterlaufenen Augen zuzuwerfen. »Das war dieser Typ, dieser Nachbar, der tagein, tagaus bei ihr ein und aus ging. Ich glaube, die hatten sogar etwas miteinander. Seinetwegen ist der Ehemann auch abgehauen. Er war total verstört, kam auf mich zu und meinte, Gisela sei etwas zugestoßen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Wen, den Ehemann? Wann war das?«
»Nein, den Nachbarn. Es war gestern Abend. Ich hatte Feierabend und eine leere Flasche Schnaps. Kann mich nur schemenhaft daran erinnern. Ich schlafe hier manchmal auch, selbst wenn das gegen die Hausordnung verstößt.« Er deutete auf eine zusammengerollte Luftmatratze, die in der Ecke hinter einem verbeulten Spind stand.
»Ich höre Ihnen zu.« Leonhards Stimme klang wie die eines Psychologen, der einen dazu einlädt, sich alles von der Seele zu reden. Er wusste, dass man einen Bären am besten mit Honig fängt.
»Er hat nach einem Ersatzschlüssel gefragt.« Sternwart schluckte, als hätte er Staub eingeatmet. »Ich habe einen Generalschlüssel für Notfälle.« Der Hausmeister knetete die Hände, atmete tief ein und zitternd wieder aus. »Aber ich weiß wirklich nicht, wo die verdammten Schlüssel sind und ob ich sie dem Typen ausgehändigt habe oder nicht. Wenn ich Pech habe, verliere ich dieses Mal wirklich diese verkackte Stelle, außer der ich nichts mehr habe.« Er legte die Hände zusammen, Fingerspitzen an Fingerspitzen, und hielt sie sich vor die Lippen wie zu einem Gebet. »Ich habe sie nicht umgebracht«, winselte er beinahe und trat näher, dann stieß er Leonhard grob gegen die Brust und stürmte aus dem Raum.
Leonhard war nicht auf diese plötzliche Wendung gefasst gewesen. Ehe er sichs versah, lag er schon auf dem Rücken. Bei dem Sturz prallte er gegen die scharfe Kante eines der Schränke und zog sich eine Platzwunde am Hinterkopf zu. Etwas klimperte laut zu Boden. Nägel und Schrauben verteilten sich um ihn herum. Noch mehr Zeug prasselte von oben auf ihn ein wie scharfkantige Schrapnellsplitter. Leonhard schützte sein Gesicht mit den Unterarmen.
Als er sich keuchend auf die Ellenbogen stützte, sah er, wie die schwere Tür ins Schloss fiel. »Verdammter Hurensohn«, krächzte er und drückte sich weiter vom Boden weg. Mit schmerzverzerrter Miene rappelte er sich auf und stellte fest, dass sich einer der Nägel in seinen linken Handrücken gebohrt hatte. Er zerrte den Nagel mit den Zähnen aus der Hand, spuckte ihn auf den Boden und wankte auf die Tür zu. Mit einem kräftigen Ruck drückte er den Türgriff nach unten, doch die Tür gab nicht nach.
Er hat mich tatsächlich eingesperrt , ärgerte sich Leonhard und schlug mit der Faust gegen das Blech.
Sein Handrücken blutete, auch von seinem Unterarm tropfte Blut, doch all das war zweitrangig. Wie stünde er nun vor seiner neuen Kollegin da, falls ihm keine Lösung einfiel? Er, der Ermittler des Morddezernats, hatte sich von einem halb betrunkenen Hausmeister vorführen lassen – mehr noch, er sah auch noch so aus, als hätte ihn dieser Typ vermöbelt.
Mit zusammengepressten Lippen fischte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer seines Chefs.
»Stettel«, meldete sich der Polizeihauptkommissar.
»Kannst du bitte jemanden runter in den Keller schicken? Ja … Ja, ich bin immer noch in dem Haus. Hab mich ausgesperrt … Eigentlich eingeschlossen. Die Tür geht nicht auf. Die sollen einen Winkelschleifer mit einer Trennscheibe nehmen.« Plötzlich ertönte ein metallisches Schaben. »Warte kurz, vielleicht hat sich das Problem schon von allein gelöst.«
»Was soll das, Leonhard? Versuchst du schon wieder, irgendwelche Spielchen zu spielen?«, empörte sich Reinhold Stettel mit vollem Mund.
»Jetzt spiel dich nicht wie ein Gockel auf. Ich wollte dich nicht bei deinem dritten Mittagessen stören«, murrte Leonhard und starrte auf die Tür, die langsam aufging.
In dem immer breiter werdenden Spalt erkannte Leonhard eine zierliche Gestalt auf Stöckelschuhen. Schnell steckte er das Telefon weg und wischte sich grob das Blut von der Stirn.
»Was machen Sie hier?« Ella schaute sich verwirrt um. »Ist das eine Art Prüfung? Oder haben Sie sich unter Vorspiegelung falscher Spuren hier einschließen lassen, um festzustellen, ob ich einen Kollegen schnell genug finden kann, falls er in der Klemme sein sollte?«
»So in etwa. Die Schlüssel steckten ja nicht umsonst in der Tür.«
Ellas Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen. »Warum bluten Sie dann wie ein Schwein?«
»Sollte alles möglichst realitätsnah aussehen. Ihr Frauen behauptet, dass ihr auf Männer mit Ecken und Kanten steht, die uns so maskulin erscheinen lassen, aber in Wahrheit törnt euch das nicht wirklich an. Nur in Filmen vielleicht. Oder ist Ihr Typ eher der, der Ihnen in den Mantel hilft und Ihnen die Türe aufhält?« Die Wunde an seinem Unterarm brannte nun doch deutlich stärker. Die Beule an seinem Kopf bescherte ihm ein Gefühl der Schwerelosigkeit, bei der sich einem der Magen umdrehte.
»Ich stehe mehr auf Männer, die mir statt meines Mantels die Hand reichen, und statt mir die Tür aufzumachen, sich lieber selbst öffnen, um mit mir über alles zu reden. Sie jedoch haben nur Ecken und Kanten, bei denen man sich blaue Flecken holen kann, falls man sich dazu entschließen sollte, sich Ihnen zu nähern. Sie sind ein egozentrischer Macho.«
»Sind Sie eine Psychiaterin oder so?«, brummte er und tastete seinen Hinterkopf ab, um danach die Finger zu begutachten. Es war kein Blut auf den Fingerkuppen zu sehen.
»Ich habe mal ein Semester Psychologie studiert, es dann aber sein lassen.«
»Weil?«
»Weil ich etwas anderes ausprobieren wollte.«
»Ich habe Streber immer gehasst.«
»Und ich mag dumme Menschen nicht.« Wohlüberlegt waren die Worte nicht, aber Ella war nun mal so. Wenn man sie reizte, dann sagte sie, was ihr auf der Zunge lag.
Leonhard ballte die Hand zur Faust. »Wie haben Sie mich hier gefunden?«
»Ich habe den Hausmeister wegrennen sehen. Er sah dabei nicht halbwegs so ramponiert aus, wie Sie es sind. Hier, wischen Sie sich damit das Blut ab.« Ella zog ein schneeweißes Taschentuch aus dem Ärmel und reichte es dem Kommissar. Ihre Augen huschten durch den Raum. Dann blieb ihr Blick erneut an ihrem Kollegen haften. Er band sich das Taschentuch um den Unterarm. Der Stoff färbte sich sofort rot.
»Es gibt Menschen, die zwischen den Zeilen lesen können, Sie scheinen eine von denen zu sein, die sich dazu noch Randnotizen macht?«, murmelte Leonhard. Eigentlich sollte der Satz schnippisch klingen, doch irgendwie wurde er zu einem Kompliment. So hatte sie es zumindest aufgenommen. Leonhard machte einen weiteren Knoten, dabei hielt er das zweite Ende mit den Zähnen fest.
»Danke«, nuschelte sie.
»Eigentlich wollte ich Sie damit ärgern«, grummelte er mit dem Stück Stoff zwischen den Zähnen und zog den Knoten noch fester zu.
»Sie erinnern mich an ein Kind, das von den Eltern vernachlässigt wurde. Darum versuchen Sie, die fehlende Nähe durch Ihre abweisende Art zu kompensieren.«
»Auf Ihre altklugen Kommentare pfeife ich. Ich habe in der Zeit, in der Sie da oben auf mich gewartet haben, zwei Dinge herausgefunden.«
Ella visierte den Kommissar abwartend an.
Er streckte ostentativ den Daumen hoch. »Der Hausmeister war in die Tote verknallt.« Darauf folgte der Zeigefinger. »Und es gibt einen Nachbarn, der etwas mit Gisela Jung hatte. Er wohnt auf demselben Stockwerk. Wenn ich mich recht entsinne, sind es jeweils vier Wohnungen pro Etage.«
»Ich wiederum habe ein dunkles Haar im Siphon gefunden«, konterte Ella. Sie trug immer noch die Einweghandschuhe. Als sie Leonhards Gesicht erblickte, stieg so etwas wie ein leichter Hauch von Schadenfreude in ihr auf. »Sie wissen, was ein Siphon ist?«
»Ein u-förmiges Stück Rohr, das dem Geruchsverschluss dient, aber dass –«
»… ich als Frau das auch weiß, damit hätten Sie nie im Leben gerechnet«, fiel sie ihm ins Wort.
»Beinahe wortgetreu«, lächelte Leonhard.
»Das ist Sexismus.«
»Das ist mir scheißegal. Sie verblüffen mich mehr und mehr. Und wie haben Sie die Verschraubung gelöst?« Er lächelte verschmitzt und abwartend.
»Der junge Mann vor der Tür war sehr behilflich.«
»Hat er vorher googeln müssen?«
»Mich wundert es, dass man Sie all die Jahre nicht totgeschlagen hat für Ihr Mundwerk.«
Leonhard zuckte nur die Achseln.
Beide schwiegen.
Leonhard rieb sich über das kantige Kinn und ließ den Blick durch den Raum schweifen, weil die entstandene Pause auch für ihn unangenehm war. Ella mit ihren dunkelbraunen Haaren und ihrem etwas dunkleren Teint – all das erschien ihm in diesem Augenblick mehr als sympathisch, aber er durfte sich nicht erneut seinen männlichen Trieben hingeben.
Mit ihren dunkelblauen Augen scannte sie die Werkstatt ab.
Auch Leonhard inspizierte die Regale und die Schränke. Während er einen Schritt zur Seite tat, stieß er mit dem Arm gegen eine verbeulte Tür und stöhnte auf. Zuerst massierte er sich den Arm, dann bediente er sich unflätiger Worte, die sonst nicht zu seinem Wortschatz gehörten, wenn eine Frau anwesend war. Anschließend schlug er die Tür mit voller Wucht wieder zu, doch sie schwang langsam wieder auf. Da entdeckte er, dass sich oben etwas bewegte. Augenblicklich blieben seine Augen an einer Schnur hängen, die auf dem grünen Schrank lag. Das lose Ende baumelte nicht mehr und hing nun schlaff herunter.
»Mit so einem Seil wurde Gisela aufgehängt«, flüsterte er.
»Ist das nur ein dummer Zufall oder spielt hier jemand ein perfides Spiel?«
»Sie meinen, ob dieser Hinweis fingiert ist? Das kann man nie ausschließen. Haben Sie noch ein Paar von diesen Gummidingern?« Er deutete mit dem Kinn auf Ellas Hände.
»Nicht in Ihrer Größe«, entgegnete sie knapp und trat näher an den Schrank.
»Das Seil wurde durchgesägt. Mit einem handelsüblichen Messer bekommt man die Ummantelung nicht durchgeschnitten, das erkenne ich an den ausgefransten Fasern«, warf Leonhard lapidar in den Raum und sah sich um. Unter seinen Schuhen knirschten Glassplitter und anderes diverses Kleinzeug, während er sich der einzigen Werkzeugbank näherte, über der an der kahlen Betonwand mehrere Gegenstände hingen. »Vielleicht mit dieser Metallsäge?«
»Das würde bedeuten, dass die Tat nicht im Affekt geschah, sondern von langer Hand geplant und kaltblütig durchgeführt wurde.«
»Das habe ich nicht gesagt, Greenwood. Aber der Mörder kam zu Frau Jung mit der Absicht, sie zum Schweigen zu bringen, weil sie etwas gegen ihn in der Hand hatte oder sie ihn verlassen wollte. Darum hat er sie gewürgt. Wissen Sie, wie lange so ein Kampf dauert, bis ein Mensch stirbt, während man ihm die Luftzufuhr unterbricht?«
»Manchmal sogar länger als eine Viertelstunde. Ein sehr qualvoller Tod. Oft nässen sich die Opfer beim Todeskampf ein oder machen sich in die Hose.«
Leonhard nickte zustimmend, ohne den Blick von dem Werkzeug zu nehmen.
»Der Streit geriet außer Kontrolle. Dem Angreifer glitt die Situation aus den Händen, genauso wie der Hals, den er fest zudrückte. Frau Jung konnte sich aus seinem Griff befreien, weil er seinem Opfer körperlich nicht sonderlich überlegen war. Können Sie mir so weit folgen, Greenwood?«
»Tom, unserem Rechtsmediziner, sind Kratzspuren am Hals und im Nacken aufgefallen. Stellen Sie sich folgende Situation vor …«, sagte sie schnell, weil sie sich an dieses Detail erinnerte.
Leonhard wandte sich von der Wand ab, drehte sich auf dem Absatz um und blickte in Ellas blaue Augen, die vor fiebriger Anspannung zu glänzen schienen. »Er dringt … nein …«, verbesserte er sich schnell und spann den Gedanken weiter. Mit nach innen gekehrtem Blick rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Die Tür war nicht aufgebrochen …«
»Entweder schlich er sich in die Wohnung, weil er einen Schlüssel besaß …«, fuhr Ella fort.
»… oder Frau Jung machte ihm die Tür auf. Fast hätten wir ein Detail vergessen. Gisela Jung ließ des Öfteren den Schlüssel in der Tür stecken, und zwar von außen. Damit vergrößert sich der Kreis der Verdächtigen um mehrere Kilometer. Auch wenn keiner der Schlüssel fehlte, wäre es doch möglich, dass sie sich einen nachmachen ließ, ohne jemanden darüber in Kenntnis zu setzen.«
»Aber hier handelt es sich um eine Schließanlage. Jeder der Schlüssel hat eine Nummer. Soll ein Schlüssel nachgemacht werden, muss auf jeden Fall die Hausverwaltung informiert werden. Oder der Vermieter«, widersprach sie erneut mit einer matten Empörung in der Stimme.
»Man kann das jedoch umgehen, wenn man den Hausmeister darum bittet.«
»Das stimmt.«
»Okay, konzentrieren wir uns jetzt auf den Kampf zwischen Frau Jung und dem Mörder. Er packt sie also am Hals, von vorn, und sieht ihr in die Augen. Dabei registriert er den gebrochenen Blick und merkt, wie sein Opfer sich immer schwächer zur Wehr setzt, weil es erkennt, dass es kein Entkommen gibt. Aber was kann einer Frau unbeschreibbare Kräfte verleihen – einer Frau, die Mutter ist?«
»Ein schreiendes Kind«, raunte Ella. Sie spürte, wie ihr ein kalter Schauer den Rücken hinaufkroch. In Gedanken stand sie oben in der Wohnung. Betrachtete die Szenerie mit den Augen der sterbenden Frau. Alles um sie herum begann sich zu drehen – wie damals, als sie selbst in der Schlinge gehangen hatte. Das Atmen wurde zu einem Kampf. Alles schwoll an. Das Umfeld war mit schwarzen und hellen Punkten befleckt. Sie hörte Leonhards Stimme wie aus weiter Ferne.
Sie stellte sich vor, was Gisela Jung zu dem Zeitpunkt hatte durchmachen müssen. Keiner ist imstande, die plötzliche Wende zu begreifen, zu akzeptieren, dass man gleich sterben muss. Manche bezeichneten alles, was mit ihnen geschah, als Schicksal, doch für Ella war das nur eine Abfolge von Ereignissen, die einem lediglich dann vorbestimmt war, wenn man sich nicht dagegen wehrte. Auch wenn man keine Fehler begeht, kann vieles im Leben falsch laufen , dachte sie. Ihr Blick war immer noch konzentriert.
Die Luft in der kleinen Werkstatt roch zunehmend nach Altöl. Ella hörte ihre eigene Stimme wieder klar und deutlich. Sie hatte jedoch einen bebenden Unterton, weil zu viele Gedanken durch ihren Kopf schwirrten. Sie bekam nur einige Fragmente der Bilder zu fassen, die vor ihrem inneren Auge vorbeirasten.
Leonhard stand ihr direkt gegenüber und lauschte. Er wirkte körperlich beeindruckend, die frisch zugefügten Wunden ließen ihn regelrecht bedrohlich erscheinen. Aber seine Augen spiegelten seine Intelligenz wider.
Ella sah in sie hinein und sprach ihre Gedanken laut aus. »Er packt mich am Hals. Seine Finger drücken gegen meinen Nacken, die Daumen verkrampfen sich um meine Kehle. Er hat mich gegen die Wand gepresst. Das Glas eines Bildes hinter meinem Rücken bekommt Risse. Es knirscht. Der Rahmen bricht. Er drückt weiter zu.« Ella leckte sich über die Lippen. Ihr Atem ging flach. Etwas huschte hinter ihren Augen vorbei und ließ alles um sie herum dunkler werden. Die Umrisse der Gegenstände bekamen weiche Konturen. Leonhards Silhouette verschmolz mit der Umgebung. Sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. »Ich kann mich nicht mehr wehren, der Griff lockert sich nicht. Das Bild an der Wand fällt zu Boden. Ein dumpfes Geräusch und das helle Klirren von Glas wecken meine Tochter. Mein Kind schreit. Das Leben erwacht aufs Neue in mir. Ich reiße mich los und will zu ihr. Zwei Arme zerren mich zurück. Dann wird wieder alles dunkel um mich herum.« Ella hörte ein hässliches Geräusch, hörte das Knacken ihrer Halswirbelsäule. Das Brechen von Knochen ließ sie zusammenzucken. Langsam hob sie die Lider und wartete auf Leonhards Reaktion.
Er klatschte zweimal in die Hände und grinste. »Nicht schlecht, bis auf ein kleines Detail. Das Bild. Es war nicht da.«
»Ein Hund mit gefletschten Zähnen sieht freundlicher aus als ein Mensch mit einem falschen Lächeln. Ihr falsches Grinsen steht Ihnen nicht wirklich«, sagte sie matt. »Der Mörder hat die Scherben zusammengekehrt. Ich habe eine Einkerbung im Boden entdeckt, und die Wand wurde an einer kleinen Stelle – dort, wo der Nagel drinsteckte – neu verputzt. Das Bild war da. Bewusst herbeigeführte Umstände lassen sich von den zufälligen leicht unterscheiden, aber nur, wenn man aufmerksam danach sucht. Ich weiß auch, dass vielschichtige Verkettungen von Geschehnissen die Ermittlungen erschweren, sie aber gleichzeitig interessanter machen.«
Das Grinsen auf Leonhards Mund erlosch langsam.
»Der Mörder ist vielleicht handwerklich nicht sehr begabt.« Ella machte eine kleine Pause. »Aber er kennt sich in einigen Dingen aus.« Sie ging zum Schrank und nahm das Seil zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich werde mich schlaumachen, wo ich genauso ein Seil kaufen kann.«
»Aber zuerst bewegen wir uns nach oben. Ich möchte mich mit dem Verehrer unterhalten.«
Leonhard verließ den Raum als Erster, ohne Ella die Tür aufzuhalten. Er griff nach seinem Telefon. Mit knappen Worten orderte er einen kleinen Trupp der Kriminaltechnik und erteilte kurze Anweisungen. »Ich muss dich doch nicht instruieren, Philipp … Sag mal, magst du deinen Job noch behalten? … Und noch etwas: Frag Tom, ob die Fingerkuppen der Frau, die heute bei ihm eingeliefert wurde, mit irgendwelchen chemischen Mitteln behandelt wurden. Mir schienen ihre Fingernägel zu grob geschnitten zu sein. Nein, so brechen die Fingernägel nicht ab. Sie hatte sich diese künstlichen Dinger aufkleben lassen. Ja, ich glaube, dass unser Mann ihr die Nägel geschnitten und die Finger anschließend gereinigt hat. Das konnte ich zumindest an den Bildern erkennen … Ich war anderweitig verhindert und konnte mir die Leiche nicht persönlich anschauen … Die Männer von der Spurensicherung sollen unten im Keller nach einer Feile suchen … Nein … keine Nagelfeile, eine normale Feile, wie die eines Handwerkers … Philipp, du machst mich kirre … Auch ich habe schon eine Doppelschicht hinter mir … Er könnte ihr damit die Nägel abgefeilt haben … Der Kerl ist vielleicht nicht sonderlich intelligent, aber einfallsreich, was ich von dir momentan nicht behaupten kann …«
Ella hörte ihrem Kollegen nicht wirklich zu. Ein Gedanke beschäftigte sie am meisten: Welche Kreatur tötet eine Frau und lässt das Kind schreiend zurück in der Wohnung, neben seiner toten Mutter?