KAPITEL
5
Ich muss sie hier wegbringen
. Er raufte sich die Haare und stierte die Tote mit geweiteten Augen an. Seine Pupillen waren zwei schwarze Murmeln, die zu pulsieren schienen.
Er knetete die Finger und knackte mit den Knöcheln.
Murmelnd lief er nach oben ins Haus und blieb im Flur stehen, weil er eine Bewegung wahrnahm.
Er eilte zur Kommode und schnappte sich den kleinen Spiegel. Verstohlen betrachtete er sein Gegenüber – sein Spiegelbild, sein zweites Ich. »Was schaust du mich so an? Du hättest sie nicht sehen dürfen. Jetzt guck hin, was du angerichtet hast. Sie ist tot!«, schrie er. Spucke flog aus seinem Mund. Er hielt den kleinen Schminkspiegel zwischen seinen Fingern und betrachtete das Gesicht, welches seinem sehr ähnelte. Er holte tief Luft und wollte den Spiegel gegen die Wand schleudern, besann sich aber anders. Der durfte nicht kaputtgehen, der hatte seiner Mutter gehört. Das war ein Heiligtum. Der Gestank nach Verwesung kratzte in seinem Hals und juckte in seiner Nase.
Das Haus stand abseits der kleinen Siedlung. Die Ruhe und Abgeschiedenheit waren perfekt für das, was er tat, aber irgendwie war bei seinem letzten Akt alles aus dem Ruder gelaufen. Er war nicht mehr der Jäger, sondern wurde zum Gejagten.
Und Sally war einfach zu früh gestorben. Er hätte ihr nicht den Arm brechen dürfen. Aber sie, sie hätte ihn nicht schlagen dürfen, nicht so, nicht wie seine Mutter es immer tat, wenn Papa seinen Zorn an ihr ausgelassen hatte. Vorsichtig stellte er den Spiegel zurück an seinen Platz und trat mit dem Fuß gegen das Holz. Das Möbelstück ächzte leise.
Er presste die Fäuste gegen die Schläfen und gab einen gutturalen Laut von sich. Sein Augenlid zuckte. Dieses konvulsive Zucken nervte ihn.
Er quetschte die Finger fester zusammen, bis die Fingernägel sich tief in die Haut bohrten, und ging zum Fenster. Die Enge der Räume machte ihn schier wahnsinnig, wenn er aufgeregt war. Draußen loderte das Abendrot wie eine Feuersbrunst über den Baumkronen. Der Wald schien zu brennen.
Wie ein Hologramm spiegelte sich sein Antlitz in der Glasscheibe. Er hatte den Eindruck, sich selbst von der Seite beobachten zu können.
Ein Schwall zeitlich unsortierter Erinnerungen rauschte hinter seiner Stirn vorbei. Sein Spiegelbild starrte ihn an. Er musste sich zwingen, den Blick von den durchdringenden Augen abzuwenden.
Er sah wieder sich selbst. Er war zehn. Zuerst nahm er die Erinnerungen wie durch ein Laryngoskop wahr. Dieses Instrument hatte er einmal bei einem Arzt gesehen, weil der Mann sich seinen Kehlkopf anschauen wollte, nachdem er kurz zuvor ein Stück einer Rasierklinge geschluckt hatte. Das war eine Mutprobe gewesen. Er nannte sich selbst Sallys Freund, die anderen nannten ihn »Dennis« oder einfach nur »Ratte« wie sein Stiefvater. Die Stiefmutter hatte »Denny« zu ihm gesagt. Sie lag jetzt im Garten vergraben, weil keiner sie vermisst hatte. Sie war als Pflegerin für seinen Vater aus Polen eingereist. Sein Vater war seit vielen Jahren krank und konnte nicht mehr laufen. Aber er hatte Geld, viel Geld, darum durfte er noch leben.
»Ich habe einen riesigen Fehler begangen«, murmelte er. Furcht und Begreifen vermischten sich in seinen Augen zu einem eisigen Blick. Doch die Bilder aus seiner Vergangenheit verdrängten dieses Gefühl aus seinem Kopf und nahmen all seine Sinne ein. Er war wieder ein kleiner Junge.
»Du miese Ratte«, hörte er die lallende Stimme seines Stiefvaters. »Du hast schon wieder ins Bett gepisst«, brüllte er weiter. Der Wortschwall, der aus dem nach faulen Eiern und schalem Bier stinkenden Mund kam, verwirrte den Jungen nachhaltig und brachte ihn zum Schweigen. Er war nach wie vor von dem unruhigen Schlaf benommen und begriff zuerst gar nicht, was mit ihm geschah. Er sah unentwegt nach unten auf den feuchten, gelben Fleck zwischen seinen Beinen, die er in einem Winkel gespreizt hatte, als säße er auf einer Wiese. Er stützte seinen hageren Oberkörper mit ausgestreckten Armen und traute sich nicht, den Blick zu heben. Eine Welle aus Abscheu, Ekel und Scham erfasste ihn und schnürte ihm die Kehle zu.
Sein Stiefvater brüllte weiter und wurde mit jeder Sekunde zorniger, seine Stimme überschlug sich beinahe. Dennis verstand die Worte nicht wirklich, aber die Wut, die sich darin verbarg, umso mehr. Wie ein Berg stand der Mann über ihm und packte ihn am Ohr, um hineinzuschreien, was für eine bepisste Ratte er doch sei. »Du bist eine miese Ratte, die in ihrer eigenen Pisse hockt!«
In Dennis’ Kopf begann es zu pfeifen. Das Ohr brannte wie Hölle. Er wollte schreien, konnte aber nicht. Eine von harten Schwielen übersäte Pranke lag auf seinem Mund und seiner Nase. Im letzten Aufbäumen seines Lebenswillens nahm er all seinen Mut und seine Kraft zusammen und biss seinen Stiefvater in den Finger, so fest er nur konnte. Der brüllte wie
ein angeschossener Bär, riss sich los und schlug seinem Stiefsohn ins Gesicht. Dennis wurde von einem Schwindel erfasst und fiel mit dem Kopf voraus aus dem Bett.
Die Erinnerung war so real, dass Dennis laut aufschrie. Von diesem einen kurzen, erstickten Schrei wurde er zurück in die Realität gerissen. Er war schweißgebadet. Das Hemd klebte wie ein nasser Lappen an seinem Körper.
Er taumelte rückwärts, dann lief er in die Küche und übergab sich in die Spüle. Der Waschlappen darin roch genauso wie der Atem seines Stiefvaters. Dennis drehte den Wasserhahn auf, der protestierend quietschte und gurgelte, dann erst zu tropfen begann. Ein von Rost getrübter Wasserstrahl ergoss sich über die halb verdaute Brühe und verschwand langsam im Abfluss. Dennis wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und setzte sich auf einen wackeligen Stuhl. Den Kopf tief in den Nacken gelegt, starrte er gegen die Decke.
Was würde geschehen, wenn es diesen Stuhl nicht mehr geben würde
, fragte er sich mit pochenden Schläfen.
Fleckige, vom Alter gezeichnete Tapeten wurden vom grauen Licht des Abends erhellt. Schatten huschten über die ansonsten kahle Wand. Der Anblick hatte etwas Schauderhaftes. Mit den Menschen, die ihr Zuhause verlassen, verschwindet auch das Leben darin, danach stirbt auch das Haus.
Wir sind die Seelen unseres Heims
, vernahm er die Worte seiner Mutter, auch hörte er sein kindliches, unbeschwertes Lachen.
Für einen Moment erblickte er ein Kind mit Sommersprossen und strohblondem Haar. Es stand auf einem Stuhl direkt über der Spüle und schleckte einen Löffel ab, der nach Zimt und Schokolade schmeckte. Die Luft roch nach warmen Plätzchen. Auch diese Erinnerung überzog ihn mit einer Gänsehaut, weil sie zu viele Emotionen in ihm aufwirbelte, aber er wollte die Bilder in seinem Kopf nicht verscheuchen.
Da wurde der heimelige Frieden von einer kalten Windböe erfasst. Wind peitschte und schlug die Tür gegen das Haus. Dumpfe Schritte von schweren Stiefeln stampften die leise Weihnachtsmusik, die aus dem Radio plätscherte, in den Boden. Alles, was von dem schönen Abend blieb, waren schmutzige Schuhabdrücke, die sein Stiefvater über den Boden verteilt hatte. Er war wie so oft betrunken. »Hey! Ist jemand zu Hause?!«, schrie der wankende Mann und kam dann in die Küche. An den Türpfosten gelehnt grinste er Dennis und seine Mutter an. Dann erstarrte seine Visage und wurde zur Fratze eines Monsters. »Warum sieht er schon wieder aus wie ein Schwein? Hat er etwa Scheiße mit dem Löffel gefressen!?«, wollte er im Brustton auffahrenden Zorns von seiner Frau wissen, den Blick hielt er jedoch auf seinen Sohn gerichtet.
»Das ist nur Schokolade«, fiepte seine Mutter und hielt inne. Zwischen ihren mit Mehl bestäubten Fingern hielt sie ein frisches Plätzchen, welches sie vor Angst zu Staub zerbröselte.
»Ab in den Keller mit euch!«
»Nein!«, kreischte die Mutter flehend und der Verzweiflung nahe, dann fiel sie auf die Knie.
Dennis schluckte.
Die Bilder verschwanden, doch der Geschmack nach Zimt und Schokolade blieb auf seiner Zunge. Er stand auf und lief nach draußen. Im Augenblick der aufgesetzten Zuversicht, dass er sein Leben halbwegs im Griff hatte, musste er erneut an die Tote im Keller denken.
Morgen, morgen würde er sich der Leiche entledigen, schwor er. Danach würde er sein Leben in eine andere Richtung lenken.
Er strich sich über das Haar, linste auf die Uhr und lief zurück zur Straße. Der letzte Bus fuhr in einer halben Stunde ab, wusste er. Also hatte er noch genügend Zeit für eine Zigarette. Gemächlich schlenderte er über den schmalen Weg.
Kies knirschte unter seinen Schuhen. Warme Luft strich ihm über die Wangen. Er musste geweint haben, denn die Haut fühlte sich an einigen Stellen nass und kühl an.
Kurz blickte er sich um, um sich zu vergewissern, dass er die Tür tatsächlich abgeschlossen hatte. Ein harter Klumpen blieb in seinem Hals stecken. Die Tür stand sperrangelweit offen. In der Küche brannte Licht.
Er musste zurück auf den Stuhl, denn jemand wartete dort in der Stille auf ihn.