KAPITEL
6
Ella beeilte sich. Sie trug heute eine schlichte mausgraue Hose, eine weiße Bluse und eine dunkle Jacke, dazu bequeme Schuhe mit kleinen Absätzen, die nun bei jedem ihrer Schritte verräterisch klackerten. Die Mappe unter ihrem rechten Arm wurde mit jedem Atemzug schwerer. In der linken Hand balancierte sie ihre Aktentasche, die nicht weniger wog. Sie blieb vor ihrem neuen Arbeitsplatz stehen und versuchte, mit dem Ellenbogen die Türklinke nach unten zu drücken.
»Eine abgeschlossene Tür mit dem Ellenbogen zu öffnen, grenzt an Selbstüberschätzung der menschlichen Fähigkeiten, es sei denn, Sie verfügten über übernatürliche Kräfte«, ertönte eine ihr sehr wohl bekannte Stimme – Leonhard.
Ella blieb einen Moment mit dem Gesicht zur Tür gewandt stehen, damit die Schamröte, die ihr in die Wangen schoss, wieder verblassen konnte.
»Machen Sie Platz, damit ich die Tür aufschließen kann. Ich möchte nicht, dass die Kollegen etwas davon mitbekommen und noch mehr zum Tratschen haben. Als Frau dürfen Sie denen keine Angriffsfläche bieten«, sagte er mit der Selbstsicherheit eines von sich überzeugten Mannes, der stets alles im Griff hat und sich von niemandem lenken lässt.
Ella stellte ihre Aktentasche ab und angelte nach ihrem Schlüssel, der nicht sofort durch den Schlitz wollte. Unter dem Druck der Überheblichkeit ihres Kollegen klemmte der Schlüssel und ließ sich erst beim zweiten Versuch umdrehen.
»Seit wann interessiert es Sie, was andere Menschen über mich denken?«, knurrte Ella und stieß die Tür auf.
»Seitdem wir zusammenarbeiten«, entgegnete er und betrat als Erster das Büro. »Konnten Sie heute Nacht gut schlafen?«
»Diese Information liegt weit außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereichs, daher muss ich die Frage auch nicht beantworten.« Sie wuchtete alle Dokumente auf ihren Tisch. »Ich bin ja schließlich da und sehe weit erholter aus als Sie, obwohl ich eine Frau bin und meistens eine Stunde länger im Bad brauche, um mich schön zu machen.«
»Das stimmt allerdings.«
Ella sortierte die einzelnen Mappen neu und achtete darauf, dass diese parallel zueinander und zu der Kante des Tisches lagen.
»Waren Sie jemals verheiratet, Greenwood?« In der Frage lag kein Funke Sarkasmus. Ella blickte auf.
Ella räusperte sich. Die Erinnerungen an ihren Mann und die gemeinsame Zeit waren eine Art Beweis dafür, dass es im Leben auch schöne Momente gibt, die aber leider wie alles andere vergänglich sind. Diese Erinnerung war alles, was ihr von Elmar geblieben war. »Warum fragen Sie mich das? Hat das etwas mit unserem Fall zu tun?«
»In gewisser Weise schon. Wir haben eine Frau, die sich von ihrem Mann trennen wollte und bereits eine Beziehung mit einem anderen führte. All diese Komponenten haben dazu geführt, dass sie tot ist. Falls Sie auch verheiratet waren und diese Trennungsphase durchlebt haben, können Sie sich vielleicht eher in die Opferrolle der Frau hineinversetzen«, erklärte Leonhard mit ruhiger Stimme, nippte an seinem Kaffee und
setzte sich auf die Tischkante eines Tisches, der komplett leer war. Sein Tisch dagegen war von diversen Akten überhäuft.
»Mein Mann ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Beantwortet das vielleicht Ihre Frage?«
»Tut mir leid, ich wollte die schlecht verheilten Wunden Ihrer Seele nicht erneut aufreißen.« Auch dieser Satz klang ehrlich. »Wir haben bisher noch niemanden gefunden, der die Leiche identifizieren kann. Von dem Noch-Ehemann fehlt uns jede Spur, aber unterdessen würde würde ich gern mit Ihnen zusammen den Nachbarn befragen. Er hat eine Vorladung zugeschickt bekommen, weil er sich ja gestern vehement geweigert hat, eine Aussage zu machen. Was wäre die Welt ohne die älteren Nachbarn, die ihren Alltag damit zu verbringen scheinen, alles um sie herum im Auge zu behalten?«
»Tja, die alte Dame hat mir vieles über ihren Nachbarn verraten, auch das, was sie nicht sehen, sondern nur hören konnte.« Ellas Mundwinkel zuckten leicht. Tatsächlich war eine alte Dame sehr auskunftswillig gewesen, ihnen zu berichten, dass ein gewisser Herr Krakowitz ein heimlicher Verehrer von Gisela Jung gewesen sei. Sie hatte sogar die Zeiten seiner nächtlichen Besuche aufgeschrieben und durchnummeriert. Früher sei sie in der Buchhaltung tätig gewesen, hatte sie bereitwillig zugegeben, und konnte auch noch mit weiteren Informationen aufwarten, die jedoch nicht wirklich konstruktiv waren. Dennoch hatte sich Ella bei der Dame bedankt. Mit Leonhard wollte die Rentnerin nicht reden, weil er nicht wie ein Polizist aussähe.
»Vielleicht ist es Intuition oder auch nur der Instinkt eines verantwortungsvollen Beamten.« Leonhard zog Ellas Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er hielt eine dünne Mappe zwischen den Fingern, die er kurz zuvor aus seinem Schrank herausgezogen hatte. »Ich würde Sie gern noch in einen weiteren Fall involvieren, der bisher ungeklärt geblieben ist. Wie wir festgestellt haben, starb die Frau nicht infolge der Strangulation.
Dieser Akt diente auch nicht der Vertuschung. Das Aufhängen ist ein Ritual.«
»Ein Ritual?«, echote Ella und merkte, wie ihr der Mund trocken wurde.
Ein mühsam unterdrücktes Grinsen huschte über Leonhards Lippen. Er hob die Mappe in die Luft. »Also, trauen Sie sich zu, sich einem Serienmörder in den Weg zu stellen? Und seien Sie gewarnt, Sie passen vielleicht in sein Beuteschema.«
»Ich habe noch nie gekniffen, wenn es brenzlig wurde«, lautete die Antwort. Ella bemühte sich darum, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen, damit diese nicht verräterisch zitterte. Nicht, weil sie sich fürchtete, sie hatte einfach Angst zu versagen. Ihre Gedanken schweiften kurz in die Vergangenheit ab, doch Ella schob sie entschieden beiseite.
»Das hier ist nur das Register. Die Akten, die hier aufgelistet sind, befinden sich in diesem Schrank.« Leonhard Stegmayer warf die dünne Mappe mit einem leisen Klatschen auf den Tisch, machte zwei Schritte nach rechts und öffnete beide Türen. Der stabil wirkende Schrank aus hellem Holz beherbergte eine stattliche Anzahl dicker Ordner, die durchnummeriert waren. Jede Reihe hatte eine andere Farbe.
»Es gibt mehrere unverkennbare Parallelen, die mich dazu veranlassen zu glauben, dass wir es hier nicht mit einem Nachahmungstäter zu tun haben, sondern mit dem Würger, nach dem wir schon seit fünfzehn Jahren fahnden. Seine Handschrift hat sich mit den Jahren zwar geändert, aber das Muster ist dasselbe geblieben.«
Ellas Blick verweilte für zwei Herzschläge auf den Ordnern. »Wie viele?«, lautete ihre schlichte Frage.
»Fünfzehn«, gab Leonhard Stegmayer lakonisch zur Antwort.
»Jedes Jahr eine?«
Leonhard schüttelte den Kopf. »Nein. Es existiert keine Konstante, die wir irgendeinem Ereignis zuordnen könnten. Seine Taten sind willkürlich, was den Zeitpunkt betrifft, es gibt kein bestimmtes Datum. Auch die Orte sind um Berlin herum verstreut, nur die Gegebenheiten sind dieselben. Es ist immer ein Wald mit Wanderpfaden und Fahrradwegen. Und das Beuteschema: Bis auf die letzte Frau sind seine Opfer dunkelhaarig und nicht mehr ganz jung. Er erwürgt sie und hängt sie danach auf.« Leonhard legte eine kurze Pause ein. »Und es ist jedes Mal eine Eiche, an der er seine Opfer zur Schau aufhängt. Dieser Ordner beinhaltet alle wesentlichen Hinweise auf den Täter.« Leonhard zerrte den dicksten Ordner aus dem Schrank und wuchtete ihn auf den leeren Tisch. »Werfen Sie ruhig einen Blick hinein, ich gehe solange nach oben zu unserem Chef.«
Ella beobachtete, wie Leonhard einfach zur Tür hinausmarschierte und sie leise ins Schloss fallen ließ.