KAPITEL
10
Luis befand sich in der kleinen Werkstatt. Zwei Polizisten standen vor ihm, ein groß gewachsener Mann mit breiter, durchtrainierter Brust und Oberarmen, die so dick waren wie seine Oberschenkel. Obwohl sein Haar grau war, sah er ziemlich fit und überhaupt nicht alt aus. Er wurde von einer sehr attraktiven Frau begleitet, die in ihm kein Gefühl des Unwohlseins erweckte.
Der Polizist wiederholte seine Frage. »Und Sie wissen tatsächlich nicht, ob Ihr Vorgesetzter, Herr Sternwart, sich für heute den Tag freigenommen oder sich krankgemeldet hat?«
Luis schwieg beharrlich, weil er ja schon darauf geantwortet hatte. War das eine Fangfrage? Ein Stachel des Misstrauens bohrte sich in seine Brust. »Verdächtigen Sie mich etwa, dass ich was mit der ganzen Sache zu tun haben könnte?« Er sprach ruhig, dennoch zitterte er am ganzen Leib.
»Sollten wir das denn?«, mischte sich nun die kleine Polizistin ein, die sich ihm als Kommissarin Ella Greenwood vorgestellt hatte.
Luis schluckte den Kloß der Angst hinunter und zog am Kragen seines T-Shirts, weil er ihn zu erwürgen drohte. »Nein«, sagte er und hob den Blick. In seinen Augen schwammen Tränen. Er strich sich hastig mit dem Handrücken über die
Lippen und gab sich Mühe, sich wieder zu fangen. »Ich brauche diesen Job hier. Diese Chance bedeutet alles für mich.«
»Hatten Sie Meinungsverschiedenheiten mit Herrn Sternwart? Er war ja letztes Mal nicht sehr gut auf Sie zu sprechen. Er hat Sie sogar fortgejagt«, sagte der Polizist – seinen Namen hatte er vergessen – und stellte sich breitbeinig vor Sternwarts Spind, in dem er seine privaten Habseligkeiten aufbewahrte.
»Jürgen … ich meine Herr Sternwart«, Luis räusperte sich und setzte neu an, »war manchmal aufbrausend, aber normalerweise kamen wir gut miteinander aus.«
Der Polizist stand mit dem Rücken zu ihm und spielte mit dem kleinen Vorhängeschloss. »Wissen Sie, wann Herr Sternwart Geburtstag hat?«, ertönte die Baritonstimme des Mannes.
»Irgendwann im September. Nein. Warten Sie, er hat seinen Geburtstag im Kalender eingekreist.«
Der Polizist sah ihn prüfend an. Die Frau blätterte in ihren Unterlagen.
Luis rang mit den Fingern. »Darf ich?« Der Kommissar drehte sich um, die Polizistin hob den Blick. Luis deutete auf einen Kalender mit nackten Frauen, der auf der linken Seite des Spindes hing.
»Nur zu«, ermutigte ihn der Kommissar mit einer unbeschreiblichen Ruhe und machte eine entsprechende Geste mit der rechten Hand.
Die Polizistin zog leicht irritiert die Stirn kraus und musterte Luis mit geschürzten Lippen. »Sie hatten bisher keine richtige Anstellung, nicht einmal eine Ausbildung haben Sie angestrebt.«
»Das ist jetzt schwierig zu erklären, aber ich habe mir vorgenommen, mein Leben umzukrempeln. Wir haben ein Kind, um das wir uns kümmern wollen. Diese Chance, damit meine
ich diesen Job hier, bedeutet mir alles.« Luis stand unschlüssig da und hielt sich am Kalender fest, als wäre das glänzende Blatt der berühmte Strohhalm, an dem sein Leben hing. Als niemand etwas sagte, hob er mehrere Blätter an. Bei September sah er die mit rotem Stift eingekreiste Zahl. »Dreizehnter September.«
»Eins, drei, neun«, murmelte der Kommissar. Nach kurzem Hantieren am Schloss öffnete er die Tür, die leise quietschend aufging. »Was haben wir denn da?«, brummte der Polizist und konzentrierte sein Augenmerk auf den Inhalt des Spindes. Er hüstelte und hielt dann zwischen Daumen und Zeigefinger ein Damenhöschen. »Welche Größe ist das? Was meinen Sie, Greenwood? Sie sind hier die Einzige, die sich damit auskennt.«
Die Polizistin verdrehte die Augen.
»Stammt das vielleicht von Gisela Jung? Oder trug Ihr Vorgesetzter so ein Spitzenteil unter seinem Kittel? Haben Sie etwas davon gewusst? Hat er ihr nachgestellt? Oder vielleicht Sie?«
Luis schluckte. Binnen Sekunden veränderte sich sein Leben. War er jetzt ein Verdächtiger? Wie kamen die Bullen auf ihn?
»Wir werden hier alles durchsuchen müssen und Sie können sich die nächsten Tage freinehmen, weil diese Räume erst mal nicht betreten werden dürfen.«
Das war’s dann wohl mit meinen Plänen
, dachte er. Eine unsägliche Leere breitete sich in ihm aus. »Aber ich brauche das Geld«, krächzte Luis.
»Tut mir leid, das hier könnte ein Tatort sein«, warf der Polizist ein.
»Lagen Sie mit Herrn Sternwart im Clinch? Gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen beiden?«
Luis schüttelte verneinend den Kopf und sah den Mann stumm an.
»Warum ist er heute nicht zur Arbeit erschienen?«
»Er hat Urlaub.« Schnell blätterte Luis den Kalender um und klopfte mit den Fingern auf eine markierte Zahl.
Der Kommissar trat näher. »Hmm …«
Ella warf Stegmayer einen zornigen Blick zu, der von ihrem Kollegen einfach abprallte. Er hielt immer noch das Höschen zwischen den Fingern. Stegmayer spannte die Unterhose so, als wollte er die Größe schätzen, und schwenkte das Kleidungsstück ins Licht, das von einer Leuchtstoffröhre gespendet wurde.
»Die Größe steht auf dem kleinen Etikett. Wenn Sie auch Unterhosen tragen, dann müssen Sie wissen, was ich damit meine«, entgegnete Ella. »Aber es ist fast die gleiche, die ich oben in der Wohnung entdeckt habe. Das erkenne ich an dem Label.«
Leonhard Stegmayer musterte die zwei roten Buchstaben auf dem weißen Hintergrund, die schon verwaschen waren. »Dieses Kleidungsstück wurde getragen und gewaschen, anders als das andere«, konstatierte der Kommissar mit der Andeutung eines schiefen Grinsens und hob das Höschen an die Nase.
Ella zog die Stirn kraus.
Der junge Mann sah zuerst sie, dann Leonhard an. Kein Wunder, was sollte er sich aus solch einer zweideutigen Aussage auch zusammenreimen.
»Zeigen Sie uns doch jetzt bitte den Trockenraum.« Kommissar Stegmayer griff zum Telefon. Er erteilte Befehle in kurzen und knappen Worten. Zuerst drängte er jemanden zur Eile, dann schickte er einen Streifenwagen zu Sternwarts Adresse. »Die Männer sollen sich Einlass zur Wohnung verschaffen«, befahl er trocken.
Die Wohnung wurde seit Tagen observiert, doch von dem Mann fehlte jede Spur, wusste Ella.
»Ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss wird hier nicht benötigt, es ist Gefahr im Verzug«, bellte er in den Hörer, bevor er auflegte.
Danach musterte er Luis mit einem fragenden Blick. »Los, los, wir haben keine Zeit zu verlieren«, tönte er und wies mit der Hand auf die Tür. »Zeigen Sie mir den Weg.«
»Der ist abgeschlossen. Dieser Raum wird renoviert wegen eines Wasserschadens«, stotterte Luis.
»Sie haben bestimmt einen Schlüssel?«
Luis nickte unschlüssig und inspizierte den Schlüsselbund in seinen Händen. »Das müsste dieser hier sein.«
»Warten Sie kurz draußen auf uns, am besten vor der Treppe, und wehe, Sie versuchen zu fliehen. Draußen stehen zwei Beamte, die werden bei der Festnahme nicht zimperlich sein. Ich komme gleich nach. Sie warten brav, bis ich da bin, und rühren sich nicht vom Fleck«, ermahnte Kommissar Stegmayer den jungen Mann und drehte sich zu Ella um.
Der eingeschüchterte Mann senkte den Kopf und schlich zu den Treppen. Dort blieb er dann stehen, ohne sich zu bewegen.
»Sie bleiben hier und suchen nach Dingen, die nicht unbedingt in eine Werkstatt gehören. Ich möchte, dass Sie unvoreingenommen an die Sache herangehen. Ich möchte keine Vermutungen und keine Mutmaßungen, auch keine Ideen, die sich noch entwickeln müssen. Ich will nur Fakten. Haben Sie mich verstanden? Was ist los? Warum schauen Sie mich so an? Was liegt Ihnen auf dem Herzen? Nun spucken Sie es schon aus, Greenwood. Was passt Ihnen diesmal nicht?«
»Wir hatten an der Uni einen jungen attraktiven Studenten. Er trug immer einen perfekten Anzug, roch gut und fuhr einen schicken Wagen. Aber keines der Mädchen wollte mit ihm tanzen. Nicht, weil er nicht tanzen konnte. Nein, er war einfach ein von sich überzeugtes Ekel und wollte uns bei jeder sich darbietenden Gelegenheit an die Wäsche. Sein Ruf eilte ihm voraus.«
»Armer Kerl!«, kommentierte Stegmayer. »Jetzt sehen Sie zu, dass Sie etwas Brauchbares finden. Sie haben schließlich bewiesen, dass Sie einen Riecher dafür haben.« Er zwinkerte ihr zu und strich Ella einen unsichtbaren Fussel von der Schulter. »Und starren Sie mich nicht so an. Ich kann diese durchdringenden Blicke nicht ausstehen. Diese Scheiße funktioniert nur bei intelligenten Menschen. Darum schlage ich Ihnen vor, dass Sie es lieber sein lassen. Haben Sie mich verstanden?«
Ella blieb ihm eine Antwort schuldig.
Leonhard hob einen Mundwinkel und stolzierte wortlos durch die Tür.
Ella schaute ihm nach. Warum war dieser Mann nur so ein Ekel? Sie blinzelte den restlichen Nebel ihres Zorns weg und sah sich um. Sie hörte die Männer im Korridor, wie sie laut miteinander sprachen.
Ella durchsuchte den Spind, ohne fündig zu werden. Dann hob sie die Augen und betrachtete das Seil. Langsam ließ sie ihren Blick zur Werkbank schweifen. Sie näherte sich der Säge und nahm einen Seitenschneider in die Hand. Ihr Vater war früher, als Ella noch ein Kind gewesen war, ein begeisterter Hobbyhandwerker gewesen, darum kannte sie sich mit dieser Materie gut aus. Der Seitenschneider hatte vom vielen Abzwacken von Drähten eine Einkerbung. Sie ging zurück zum Seil und musterte das ausgefranste Ende. Hier waren einige Fäden länger als die anderen. Dieses Muster passte zu ihrer Vermutung: Das Seil war mit diesem Werkzeug durchtrennt worden.
Luis lief durch den dunklen Raum. Seine Hand tastete nach einem Lichtschalter, fand jedoch keinen. Der Polizist blieb irgendwo hinter ihm stehen. Er hörte ein leises Klacken.
»Warum geht hier das Licht nicht an?«, empörte sich der Kommissar.
»Der Raum wird saniert, das habe ich Ihnen doch vorhin schon gesagt. Die Kellerräume waren marode –« Luis’ Stimme versagte, während er den Blick auf den Schatten vor sich gerichtet hielt, der in der Luft schwebte.
Durch ein kleines Fenster schien ein gleißend heller Sonnenstrahl und erleuchtete das tote Gesicht, obwohl der restliche Körper in der Dunkelheit zu einem Schemen verschwamm. Die weit aufgerissenen Augen trotzten dem Licht. Der Tote blinzelte nicht, er starrte in das grelle Gelb der Sonne. Leonhard drückte Luis gegen die Wand. »Sie bleiben hier stehen!«, flüsterte er.
Luis nickte kaum merklich.
Leonhard klopfte ihm sachte auf die Schulter und bewegte sich dann zu dem Mann, der an einem Seil aufgehängt an der Decke hing, den Mund zu einem ewigen Schrei aufgerissen. Als er nah genug vor Sternwart war, hielt er ihm den Lichtstrahl seiner Taschenlampe in die toten Augen. Sie hatten eine leichte Trübung angenommen.
Eine laute Melodie ertönte. Vor Schreck ließ Leonhard beinahe die Taschenlampe fallen. »
Fuck
«, fluchte er in sich hinein.
»Ich muss da rangehen, das ist meine Frau, sie macht sich bestimmt Sorgen«, hörte der Kommissar Luis’ beinahe weinerliche Stimme.
»Dann gehen Sie gefälligst raus in den Gang, aber Sie verlassen das Haus nicht, bis wir hier alles Nötige erledigt haben«, knurrte Leonhard und tastete die Leiche mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe ab. Die ausgeprägten Totenflecken an den Händen wiesen darauf hin, dass der Hausmeister schon seit einigen Stunden tot war. Der Kommissar nahm die kalte linke Hand in die seine, drückte sie zusammen und wartete kurz.
Nach dem Loslassen beäugte er die Stelle mit konzentriertem Blick. Der Fleck wurde für einen Moment wieder heller.
Seine Gedanken wurden von der stotternden Stimme des jungen Mannes gestört, der im Gang mit seiner Frau sprach und ihr die Situation schilderte.
Leonhard lief um den Toten herum und entdeckte eine Ungereimtheit. Der Lichtkreis scannte den nackten Hals des Mannes, der von dem dünnen Seil eingeschnürt war. Oberhalb des linken Ohres bemerkte er eine leichte Schwellung. Kam das von einem Sturz oder von einem Schlag?
Der Raum roch nach Moder, Flusen tanzten im Lichtkegel. Leonhard stellte sich vor, wie er kleine Teilchen der Leiche einatmete, und kräuselte die Nase. Mit einem fahlen Geschmack auf der Zunge verließ er den Raum und rief Tom an. Kurz darauf forderte er ein Team von der Spurensicherung an. »Und Sie …« Er taxierte Luis mit durchdringendem Blick. »Sie werden darüber Stillschweigen bewahren, auch Ihre Frau, sonst müssen wir Sie beide einsperren.«
Luis nickte stumm. Tränen füllten seine Augen.
»Wo ist hier der Stromkasten?«
»Wie bitte?« Luis blinzelte. Ein betrübter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Ist Herr Sternwart«, er schluckte, »ich meine, hat er sich etwa das Leben genommen? Er hat das immer wieder angedeutet, aber dass – dass er es wirklich über sich bringt.« Seine Stimme klang rau, er kämpfte um Fassung.
»Wo ist der Stromkasten?« Leonhard verbarg seine Ungeduld nicht, jedes Wort klang wie ein Hammerschlag.
»Kommen Sie mit.«
Sie hasteten im Stechschritt bis zum Ende des Ganges und bogen nach links ab. »Das ist er. Aber ich habe keine Ausbildung. Ich darf nichts anfassen, wovon Menschenleben abhängen können«, rechtfertigte sich Luis und hielt gebührenden Abstand zu dem Schrank.
»Ist schon okay.«
Augenscheinlich hat auch hier seit geraumer Zeit keine Modernisierung mehr stattgefunden
, stellte Leonhard fest und öffnete eine der Türen. Der Sicherungskasten war nicht abgeschlossen. Er betrachtete alle Schütze und Sicherungen eingehend und betätigte einen der Hebel, über den mit einem Bleistift das Wort »Wäsche« hingekritzelt worden war. Es klackte trocken.
Ella eilte zu den Kellerräumen. Leonhard hatte etwas gefunden, das er ihr unbedingt zeigen wollte.
»Wir haben eine weitere Leiche?«, prophezeite sie und ließ den Satz wie eine Frage klingen.
Leonhard Stegmayer bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. »Kommen Sie mit.«
Der Raum wirkte im hellen Licht der Deckenbeleuchtung kahl. Bis auf den toten Mann, der an einem der Haken hing, der für die Wäscheleinen vorgesehen war, war hier alles aufgrund der Sanierungsarbeiten weggeschafft worden, mutmaßte Ella und blieb im Türrahmen stehen. Ihr Kollege stand dicht hinter ihr. Der Tote mit seinen blauen Lippen, der angeschwollenen, dunklen Zunge, die aus seinem Mund hing, und den trüben Augen wirkte unecht.
»Wir sollten den Raum nicht weiter verunreinigen, Greenwood. Wer weiß, vielleicht ist es gar kein Selbstmord, und der Mörder hat absichtlich alles so geschickt in Szene gesetzt, um uns in die Irre zu führen.«
»Was für einen Kick verschafft es einem Menschen, einem anderen das Leben zu nehmen?«
»Macht«, entgegnete der Kommissar ruhig und machte zwei Schritte zurück.
Ella drehte sich um.
Luis saß in der Hocke. Den Kopf tief in den Nacken gelegt, stierte er zur Decke.
»Macht?«, echote Ella.
»Es gibt Bedürfnisse, besser gesagt Triebe, die wir nur dann stillen können, wenn wir in Interaktionen mit anderen menschlichen Wesen treten. Sex ist eine Möglichkeit dafür, Mord ist lediglich eine Steigerung.«
»Und die Liebe?«
»Liebe ist nur ein Vorwand.«
»Wie bitte?«
»Liebe ist bloß ein Gefühl, Greenwood, eine Täuschung. Liebe ist ein Mittel zum Zweck. Für die Liebe sind manche bereit zu sterben, andere würden dafür sogar töten.«
»Sind Sie schon immer so ein Romantiker gewesen?«
Die beiden schwiegen sich angespannt an.
»Ich bin pragmatisch veranlagt, diesen Firlefanz mit der rosaroten Brille überlasse ich lieber anderen. Wir schweifen zu sehr von unserem Fall ab. Haben Sie weitere relevante Informationen für mich? Sind Sie in der Werkstatt fündig geworden?«
»Ich nehme stark an, dass das Seil mit einem Seitenschneider durchtrennt wurde, und ich habe ein Foto gefunden, welches aus der Wohnung von Gisela Jung entwendet wurde. Ich gehe davon aus, dass der Hausmeister sich unerlaubten Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft hat. Ich habe alles an Ort und Stelle liegen lassen«, fügte sie ruhig hinzu.
»Gute Arbeit, Greenwood. Womöglich hat er sie auch gefilmt. Er war ein Spanner. Vielleicht hat er sogar Videos online gestellt, wer weiß?«
»Ihr Männer seid in einer Hinsicht alle gleich. Ihr meint, etwas besitzen zu können, ohne euch vor Augen zu führen, dass Besitzen und Behalten nicht ein und dasselbe ist.«
»Mir fällt da etwas ein, Greenwood. Wussten Sie, dass unerfüllte Wünsche – damit sind sexuelle Impulse gemeint – oft
in Gewalt übergehen? Ich habe mal ein Gespräch mit einem Sexualstraftäter geführt. Er hat es so beschrieben, dass dieses Gefühl, das ihn in Besitz nimmt, etwas Zwingendes an sich habe, und dass er diesem Zwang kein Paroli bieten könne. Nichts schrecke ihn ab, kein Gesetz, nicht einmal der Tod.«
»Und was empfinden die Täter unmittelbar nach der Tat?«
»Ich weiß nicht, ob man das pauschalisieren kann, aber dieser Mann lag mehrere Tage zu Hause in seinem Bett einfach nur da wie in einem existenziellen Schockzustand. Alles, wozu er fähig war, war atmen. Er hat sich später das Leben genommen. Bei seinem letzten Gespräch hat er mir etwas offenbart, das mich bis heute beschäftigt: ›Ich finde für mich keinen Ort auf dieser Welt, wo ich mich verstecken kann, oder zumindest die Fantasien in mir.‹ Er hat mir schreckliche Dinge erzählt. Seine Vorstellungen waren grausam und endeten immer mit dem Tod.«
»Heutzutage ist das Internet voll davon. Unser Leben ist mit krankhaften Bildern verseucht. Egal, wohin man schaut, man findet Perversion in all ihren Facetten.«
Leonhard schwieg, holte tief Luft und sagte: »Wir modernen Menschen sind zu einer voyeuristischen Gesellschaft verkommen, sehen uns bemüßigt, die anderen zu überwachen. Gleichzeitig hoffen wir, dass niemand unsere Geheimnisse veröffentlicht.«
Schritte hallten durch das Treppenhaus und prallten von den weiß getünchten Wänden ab, die von metallenen Türen flankiert wurden. Die beiden Kommissare drehten sich in die Richtung, aus der die Geräusche erklangen. Das atmosphärische Rauschen eines Funkgeräts verriet, wer die Neuankömmlinge waren.
»Bitte kommen«, ertönte eine mechanische Stimme, die von schweren Schritten überlagert wurde.
»Unsere Kollegen sind da!« Leonhard ging den Männern entgegen.