KAPITEL 16
Ella stand in der Tür und schaute die Frau fragend an. Hinter der Frau versteckte sich ein blonder Junge von etwa neun Jahren mit zerzausten Haaren.
»Geh auf dein Zimmer«, ermahnte ihn die Mutter, ohne sich umzudrehen.
»Mein Name ist Ella Greenwood, ich bin von der Polizei und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, Frau Siebert, aber nicht unbedingt zwischen Tür und Angel. Auch hier haben die Wände Augen und Ohren. Die Gerüchteküche kann einem das Leben ganz schön versalzen, glauben Sie mir.«
Larissa Siebert lachte humorlos auf. »Da haben Sie recht.« Dann rief sie: »Geht es Ihnen gut, Frau Beckstein? Wenn Sie möchten, so können Sie unserem vertraulichen Gespräch gern beiwohnen.« Ihr Blick ging knapp an Ella vorbei. »Sie müssen sich nicht verstecken!«
Ein helles Kettenrasseln und das Klacken einer Tür hallten durch das Treppenhaus wider.
»Frau Beckstein ist der Admin unseres Hauses und immer online.« Frau Siebert lächelte Ella freundlich an. »Alte Leute eben.«
Ella musterte die Frau. Auf ihrem schmalen Hals konnte sie einen blauen Fleck erkennen.
Larissa Siebert bemerkte, dass sie angestarrt wurde, und fuhr sich mit den Fingern über das Haar. Es war dunkelblond und mit grauen Strähnen versehen.
»Ich war heute beim Friseur. Sie hatten eine Aktion. Es war kostenlos, weil eine Azubine mir das Haar machen durfte. Sie hat mir auf der linken Seite zu viel abgeschnitten.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen. Aber der Fleck.« Ella berührte sich an derselben Stelle, um das, was sie sagte, zu verdeutlichen.
Die dunkel unterlaufenen Augen der Frau weiteten sich.
»Wird Ihr Ehemann handgreiflich?«
»Um Gottes willen, nein«, lachte Larissa auf und schlug sich die Hand vor den Mund. »Kommen Sie bitte rein, sonst wird es echt peinlich.« Immer noch lachend machte sie Ella Platz und warf einen prüfenden Blick ins Treppenhaus, bevor sie die Tür schloss. »Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen, ich war gerade dabei, die Wohnung auf Vordermann zu bringen. Sie sehen selbst, was ich hier angerichtet habe.«
Ella bezweifelte, dass diese Wohnung jemals sauber war. Überall lagen Sachen herum und der modrige Geruch in der Luft sprach nicht gerade für Frau Sieberts Putzfimmel. Aber jeder sah die Welt in anderen Farben.
»Nehmen Sie Platz«, bot Frau Siebert an und klaubte ein T-Shirt sowie ein Unterhemd von dem wuchtigen Sofa, um kurz darauf aus dem Wohnzimmer zu verschwinden. »Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«, rief sie aus dem Flur.
»Nein, danke«, beeilte sich Ella zu sagen und machte keine Anstalten, sich dem grünen Sofa mit den dunklen Flecken zu nähern, geschweige denn, sich darauf zu setzen.
»Nehmen Sie ruhig Platz.« Larissa Siebert war wieder da und schob mehrere Zeitungen, die auf dem Boden verstreut lagen, zu einem Stapel und wuchtete den Papierberg auf den Couchtisch. »Ich habe heute in den Wochenblättern geblättert, weil wir bald eine neue Wohnung brauchen werden, und bin alle Angebote durchgegangen, da wir sparen müssen. Ich bin es leid, so zu leben. Hier ist es einfach zu eng. Mein Mann gibt sich Mühe und arbeitet für drei. Alles zum Wohle der Familie.« Ihre Stimme bekam einen sanften Klang. »Wieso setzen Sie sich nicht?«
»Vom vielen Sitzen bekomme ich noch einen breiten Hintern«, scherzte Ella und lächelte.
»Wenn Ihr Mann so liebevoll ist, wie Sie es sagen, woher –«
»Vom Ficken«, antwortete die Frau geradeheraus. Diese Direktheit verschlug Ella die Sprache.
»Seitdem er eine feste Anstellung hat, ist er wie einer dieser arabischen Hengste, wild und unaufhaltsam. Luis war nicht immer so zielstrebig. Aber seitdem unser Sohn zur Schule geht, ist er wie ausgewechselt.«
Ella wurde hellhörig. »Können Sie das konkretisieren?«
»Die Männer begreifen manchmal nicht sofort, was ihnen guttut. Vielleicht hat er in seinem Sohn etwas gesehen, das ihn an seine eigene Kindheit erinnert, und hat sich entschlossen, die Sache mit dem Vatersein besser zu meistern als sein Erzeuger.«
»Frau Siebert –«
»Larissa, sagen Sie ruhig Larissa zu mir. Wenn Luis nach Hause kommt, bleibt uns keine Zeit zum Fernsehen. Wissen Sie, was bei mir der stärkste Muskel ist?«
Ella war sich nicht sicher, ob sie das hören wollte.
»Meine Muschi.« Larissa nahm kein Blatt vor den Mund.
Ella rang nach passenden Worten. Das Niveau der Konversation verschlug ihr regelrecht die Sprache. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Larissa sie unbedingt loswerden wollte. »Sie sagen, Ihr Familienleben nahm eine Wende, nachdem der Sohnemann in die Schule kam?« Ella ging zu der schwarz-weißen Wohnwand, deren Türen von unzähligen fettigen Handabdrücken übersät waren.
Larissa stellte sich zu Ella, sodass ihre Schultern sich fast berührten. Die junge Mutter roch nach Keller und zu viel Waschmittel. Ella sah sich stumm einige Fotos an, die auf dem billigen Möbelstück aufgestellt waren. Die Bilderrahmen waren allesamt unterschiedlich, von der Form wie auch der Farbe. Die Frau hatte nicht nur keinen Sinn für Ordnung, sondern auch kein Händchen für Geschmack und Harmonie. Alles hier war chaotisch, nichts war aufeinander abgestimmt.
»Hat Ihr Mann Ihnen etwas von seiner Kindheit erzählt?« Ella erkannte einen kleinen Jungen auf dem Arm einer Frau, deren Gesicht nicht zu sehen war. Der obere Teil des Fotos war augenscheinlich abgeschnitten worden. »Ist das Ihr Mann da?« Ella zeigte auf das verblichene Foto.
»Ja. Hier ist er drei Jahre alt. Mein Luis war immer auf der Suche nach seinem Bruder. Er wusste zwar, dass er einen hat, mehr aber auch nicht. Sie wurden als kleine Kinder getrennt. Aber so genau weiß ich das nicht. Luis spricht nur ungern darüber.«
»Ist das Luis auf den Armen seiner Mutter?«
»Seiner Stiefmutter, ja«, bestätigte Larissa bereitwillig und trat einen Schritt näher an das Foto, das von einem wie Chrom glänzenden Rahmen umrandet war.
Ella war darauf bedacht, die Frau mit keinem Körperteil zu berühren. Sie mochte Larissa nicht, weil sie von einer Aura umgeben war, die sie davon abhielt.
»Wo sind seine Eltern jetzt? Sein leiblicher Vater zum Beispiel. Hat er wieder geheiratet? Ich sehe hier eine abgebrannte Kerze und ein kleines Kreuz. Glaubt Ihr Mann an Gott?«
»Beide sind bei einem Autounfall gestorben. Vor zwei Jahren. Seine Stiefmutter war sehr religiös, sein Vater dagegen konfessionslos. Er hat mal gesagt, dass der Glaube von skrupellosen Geschäftsleuten erfunden wurde, um an noch mehr Geld heranzukommen. Wer an Gott glaubt, sei entweder verzweifelt oder sehr verzweifelt.«
»Und Ihr Mann?«, wiederholte Ella die Frage, entgegen der Stimme in ihr, die sie davon abhalten wollte, weil Larissa sich zu verschließen drohte. Tatsächlich schwieg die Frau eine Weile, ohne sich dabei zu rühren.
»Ich war früher sehr verzweifelt. Das Kreuz gehörte mir. Ich war drogenabhängig und von allen, wirklich von allen alleingelassen. Dann traf ich meinen Mann. Er hat in einem dieser Heime gearbeitet, in denen solche wie ich aufgenommen werden. Das hier ist ein kleiner Altar und ein Mahnmal. Er soll mich stets daran erinnern, wie tief man im Leben ohne Liebe und Rückhalt sinken kann.« Tränen schwammen in ihren Augen. Larissa schlang beide Arme um ihren Körper, als würde sie frieren, obwohl in der Wohnung hochsommerliche Temperaturen herrschten.
»Ist es in Ihrer Wohnung immer so warm wie jetzt?«
»Nein. Unser Sohn ist krank. Er sagt, er friert, darum habe ich die Heizung aufgedreht.« Sie starrte zum Fenster, das von zwei vergilbten Vorhängen aus löchriger Gaze umrandet war. Mächtige Baumkronen wiegten sich sanft im lauwarmen Wind des Spätsommers.
Larissa machte einen dieser Atemzüge, die einen davor bewahren zu ersticken. Ihr Kinn bebte. »Ich möchte, dass Sie gehen«, durchbrach sie mit zittriger Stimme die Stille und sah Ella mit geröteten Augen an. »Wir sind vielleicht nicht perfekt …« Larissa stockte, dann bewegte sie ihren Unterkiefer, ohne etwas zu äußern.
Ella wartete.
Es dauerte zwei Herzschläge lang, bis Larissa weitersprach. »Perfekt«, sie lachte höhnisch auf, »dieses Wort wird mit unterschiedlicher Einheit gemessen. Wir sind glücklich, und das allein zählt für uns. Was Glück bedeutet, wissen nur die wenigsten mit richtigen Worten zu beschreiben, weil sie nie wirklich ganz unten gewesen sind. Um Glück schätzen zu können, sollte man auch die andere, die dunklere Seite im Leben kennengelernt haben.«
»Die Welt stand schon immer kopf, da gebe ich Ihnen recht. Manche Menschen nehmen es als Lauf der Dinge hin, wenn in ihrem Leben etwas schiefgeht, anstatt das Schicksal in die Hand zu nehmen.«
»Bitte, gehen Sie.« Larissas Stimme drohte zu kippen. Sie streckte den rechten Arm aus und wies zur Tür. Ellas Augen starrten auf die vernarbte Haut. Larissas Unterarm war von schmalen, silbernen Linien überzogen.
»Sie haben sich auch geritzt«, sagte Ella ruhig. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Bei dem Anblick überlief es sie kalt. Noch bevor Larissa auffahren konnte, fügte die Polizistin hinzu: »Das hat meine Mutter auch gemacht. Dieser Schmerz ließ sich kontrollieren und gab ihr das Gefühl, dass ihr Leben noch nicht ganz verloren war. Sie wusste jedoch nicht, wie schlimm es wirklich um sie bestellt war.«
Zum ersten Mal hörte Larissa ihr aufmerksam zu. »Steven, lass uns bitte allein. Ich helfe dir dann bei den Hausaufgaben«, flüsterte sie ihrem Sohn zu, als er erneut im Türrahmen auftauchte. »Ich habe dir Apfelschnitze gemacht, das Schälchen steht in der Küche. Sei so lieb und schließ in deinem Zimmer die Tür.«
Der blonde Junge kaute nachdenklich auf der Unterlippe. »Ich hab dich lieb, Mama.« Stevens Mund verzog sich zu einem scheuen Lächeln.
»Ich dich noch mehr«, entgegnete seine Mutter. Das war ein Ritualspruch, der besagte, dass alles in Ordnung war, wusste Ella. Ich liebe dich bis zur Sonne , hörte sie die Stimme ihrer Mutter und fügte in Gedanken hinzu: Und ich dich bis zum Weltall . Als Kind hatte sie gedacht, dass das Weltall die Unendlichkeit darstellte.
»Er ist ein guter Junge«, wandte Ella den simplen Standardspruch an, weil sie wusste, dass er seine Wirkung nicht verfehlen würde.
Larissas harte Gesichtszüge nahmen sanftere Konturen an. »Das stimmt. Er ist wie ein Katalysator. Der Arzt hatte mir empfohlen, das Kind abzutreiben. Sagt Ihnen Spina bifida etwas?«
»Gespaltene Wirbelsäule.« Ella schenkte der Frau ein sanftes Lächeln. »Und Sie haben sich trotzdem für das Kind entschieden.«
Zu ihrem Erstaunen schüttelte Larissa reumütig den Kopf und senkte kurz den Blick, als würde sie sich schämen. »Luis hat mich davon abgehalten, Steven abzutreiben.«
»Und das beschäftigt Sie immer noch?« Auch Ellas Stimme klang nun belegt.
»Damals, als ich mich geritzt habe, da dachte ich, ich trüge die ganze Welt auf meinen Schultern. Doch die Bürde der Verantwortung als Mutter wiegt viel mehr. Als er noch ein kleines Baby war, war er oft kränklich. Diese Dimensionen hatte ich davor nie erlebt. Zum ersten Mal habe ich erfahren, was Verantwortung wirklich bedeutet. Abends, wenn Steven im Bett liegt und mir beim Vorlesen zuhört, verspüre ich eine unbeschreibliche Erleichterung in mir, die mit nichts zu vergleichen ist. Und gleichzeitig beschleicht mich ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Was wird aus ihm, wenn er groß ist? Werde ich ihn auf den richtigen Weg …« Ihre Stimme brach ab. Sie wurde bleich im Gesicht. Gedankenverloren fuhr sie sich mit den zittrigen Fingern ihrer linken Hand über die Narben ihres rechten Unterarms.
»Da bin ich mir ganz sicher.« Ella machte einen Schritt nach vorn. Larissa blickte auf und tat etwas, womit Ella niemals gerechnet hätte. Sie nahm ihre Hand in die ihre, die kalt und zittrig war. Ella strich ihr mit der freien Hand über das Haar. Larissa lehnte ihren Kopf an Ellas Schulter und begann zu schluchzen.
»Manchmal bin ich trotz all der Menschen allein«, hörte Ella Larissas Stimme an ihrem Ohr. »Ich habe Angst, alles zu verlieren. Ich habe nicht viel, aber das, was ich habe, bedeutet mir alles. Wenn Steven oder meinem Mann etwas zustoßen sollte, werde ich wieder in dieses Loch fallen und nie wieder rauskommen. Luis ist derjenige, der mich am Leben hält, und Steven bringt mich dazu, dieses Leben zu lieben.« Als würde sie sich erst jetzt der Situation bewusst, drückte sie sich von Ella weg und sah peinlich berührt erneut zum Fenster. »Tut mir leid«, schniefte sie und strich sich die Tränen aus den Augen. »Luis hat mit alledem nichts zu tun. Und der blaue Fleck hat nichts zu bedeuten. Und jetzt müssen Sie wirklich gehen. Wir haben noch Hausaufgaben zu erledigen, danach muss ich zum Einkaufen. Mein Mann kommt erst übermorgen, darum wäre es verlorene Liebesmüh, hier auf ihn zu warten.«
»Übermorgen? Heute ist Freitag.« Ellas Augen wurden enger.
»Ja. Am Wochenende arbeitet mein Mann auch. Wie gesagt, er arbeitet hart. Jede zweite Woche hilft er in der Suppenküche aus. Er ist sozial sehr engagiert.«
Eine schnelle Melodie unterbrach Larissa.
»Mama, Papa ist am Telefon«, ertönte eine kindliche Stimme.
»Steven, Schatz, sag deinem Papa, dass die Polizei hier ist.«
»Papa, Polizei ist hier«, echote Steven und erschien mit ausgestreckter Hand, in der er den Hörer hielt, im Wohnzimmer.
Larissa riss ihm beinahe das Telefon aus der Hand. »Schatz, die Polizei ist hier. Eine Frau Greenwood.«
Ella wollte etwas sagen, doch Larissa hielt die Sprechmuschel mit der Hand zu. »Sie sollten besser gehen. Steven, begleite Frau Greenwood zur Tür und häng danach die Kette wieder ein. Papa muss heute arbeiten. Wir bestellen uns dann eine Pizza.« Der Junge warf jubelnd die Fäuste in die Luft. Im nächsten Moment packte er Ella mit seinen kräftigen Händen am Handgelenk und führte sie aus dem Wohnzimmer in den Flur und dann zur Tür. Im Hintergrund sprach Larissa aufgeregt mit ihrem Mann.
Ellas Blick streifte über schlicht gemusterte Tapeten, über die billigen Dielenmöbel und blieb an einem Bild hängen. »Steven, wer ist dieser Mann hier?«, flüsterte sie dem Jungen verschwörerisch zu und warf einen lauernden Blick zur Wohnzimmertür. Larissa tauchte nicht auf.
»Das ist mein Papa.« Auch der Junge verfiel in einen flüsternden Ton.
»Und der hier?« Sie zeigte mit dem Finger auf einen Kerl mit einer grünen Baseballmütze. Beide Männer hatten sich gegenseitig die Arme auf die Schultern gelegt. Eine freundschaftliche Geste. Sie sahen einander sehr ähnlich, fast schon erschreckend ähnlich, sinnierte Ella. »Ist er Papas Bruder?«, grübelte sie laut nach.
Steven nickte.
»Kommt er euch manchmal besuchen?«
Steven sah zu ihr auf. Seine warme Hand hielt Ella am kleinen Finger. »Nein. Papa sagt, sie verstehen sich nicht mehr wirklich. Weil sein Bruder ein arroga… arra…« Er schnaubte verärgert, weil er das Wort nicht aussprechen konnte, obwohl es ihm in diesem Moment anscheinend sehr wichtig erschien, wie sein Vater reden zu können.
»Weil er ein arroganter Kerl ist?«
»Nein.« Stevens Hand zog an Ellas Finger. Sie beugte sich tief nach unten. »Er hat das A-Wort benutzt«, raunte Steven ihr das Geheimnis ins Ohr.
»Verstehe«, erwiderte Ella in derselben Stimmlage wie der Junge. Sie ging in die Hocke und legte Steven die Hände auf die Schultern. Sie versuchte es mit einem Lächeln, welches von ihrem kleinen Gegenüber prompt erwidert wurde. »Streiten Mama und Papa oft?«
Der Junge druckste herum. Ella war bewusst, dass sie sich nun auf sehr dünnem Eis bewegte. Sie betrat verbotenes Terrain. Ihr Vorgehen könnte mit einer Abmahnung geahndet werden. Aber es erschien ihr in diesem Augenblick sehr wichtig.
»Ich habe gehört, wie Mama im Badezimmer geschrien hat. Aber Mama sagt, das war nichts.«
»Warum hat deine Mama geschrien?«
Steven hob nur die Schultern.
»Hat Papa sie geschlagen?«
Wieder nur ein Schulterzucken.
»Ist dein Papa auch manchmal gemein zu dir?«
Steven schüttelte den Kopf. Dann kratzte er sich nervös am Nacken und stierte auf seine nackten Füße.
»Machst du ins Bett, Steven?«, fragte Ella einem unerklärlichen Instinkt folgend, weil sie glaubte, einen leichten Uringeruch wahrgenommen zu haben.
»Nein. Aber mein Papa.« Die Worte glichen einem leisen Lufthauch. Leise und flüchtig. Auf Ellas Armen stellten sich die Härchen auf.
»Dein Papa macht ins Bett?«, wiederholte sie den Satz, weil sie sich nicht sicher war, ob sie ihn richtig gehört hatte.
»Ja. Aber er behauptet, dass ich es war.«
»Schläft er in deinem Bett? Ohne Mama?«
Steven zögerte. »Nein. Ich krieche manchmal zu ihnen, oder Papa holt mich aus meinem Zimmer, wenn ich schon eingeschlafen bin.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
Ein unsicheres Nicken.
»Weiß deine Mama was davon?«
»Steven, ist die Frau schon weg?« Larissas Stimme versetzte Ella kurz in eine Schockstarre. Auch der Junge verkrampfte sich. Ella drückte sich den Zeigefinger gegen die Lippen. »Schsch …«, machte sie und stand auf.
Steven öffnete die Tür. »Aber mein Papa ist sehr lieb zu mir. Ich liebe ihn über alles, er ist mein bester Freund«, sagte er schnell und warf die Tür zu, sobald Ella ins Treppenhaus trat. Die Sicherheitskette klimperte hinter Ellas Rücken.
Worauf bin ich da gestoßen , fragte sie sich und versuchte, die neu gewonnenen Informationen in ihrem Kopf zu ordnen.
Während sie die Treppe nach unten nahm, klingelte ihr Telefon.
»Greenwood, haben Sie etwas Brauchbares für mich?«, meldete sich Leonhard.
»Wir müssen Luis’ Bruder ausfindig machen!«
»Der Kerl hat einen Bruder?«, wunderte sich Stegmayer.
»Wahrscheinlich einen Zwilling! Wenn ich das alles richtig verstanden habe.«
»Es liegt die Vermutung nahe, dass dieser Luis etwas zu verbergen versucht. Und unsere Männer haben in Sternwarts Keller noch mehr an Beweisen sammeln können, die den Hausmeister belasten. Er war ein perverser Voyeur. Unzählige Pornokassetten und anderes Filmmaterial waren hinter einem Regal versteckt. Ich warte im Green-Unicorn-Pub auf Sie. Wir haben etwas Wichtiges zu besprechen. Und auf mein Büro habe ich keine Lust. In diesem Raum bekomme ich immer Sodbrennen. Sie müssen mir ein Bier ausgeben und ich spendiere uns ein Mittagessen. Essen Sie auch saftiges, halb rohes Fleisch? Sagen Sie Ja, weil ich diesen Typ von Frauen, der sich nur von Gurkenwasser ernährt, nicht ausstehen kann.«
»Ich könnte eine doppelte Portion Spareribs vertragen«, sagte Ella und hörte sich leise auflachen. Dabei begann ihr Magen zu knurren.
»Schon erscheinen Sie mir einen Deut sympathischer, was jedoch noch nicht bedeutet, dass ich Sie mag. Ich habe Hunger, das ist alles. Wir beide müssen schließlich irgendwie miteinander klarkommen.« Stegmayer klang nicht wirklich ernst. »Und beeilen Sie sich gefälligst. Ich bin kein Gentleman und werde ganz bestimmt nicht auf Sie warten.« Abrupt legte er auf.
Ella lief zu ihrem Wagen und fuhr an, ohne auf das hupende Auto hinter sich zu achten.