KAPITEL
17
Begleitet von einem erstickten Schrei riss Dennis die Augen auf und durchschnitt mit dem Messer, das er immer noch fest umschlossen hielt, die Dunkelheit. Ein Schatten aus seinem Traum flimmerte vor seinen Augen, verschwand jedoch, sobald er sich wieder etwas beruhigt hatte. Sein Herz wummerte wie ein Schmiedehammer. Die Sehnen in seinem Nacken, die weiterhin angespannt waren, brannten heiß. Er versuchte zu schlucken, doch sein Hals war wie ausgedörrt.
Er hatte den ganzen Nachmittag in diesem Keller verbracht, weil er erschöpft gewesen war und sich wieder nach Mutters Nähe gesehnt hatte. Das Verlangen wurde ständig stärker. Er war wohl nur kurz eingenickt, allerdings würde es Jahre dauern, seinen Albtraum wiederzugeben.
Es verstrich eine gefühlte Ewigkeit, bis er imstande war zu begreifen, wo er sich befand. Während er seinen Hals abtastete, spürte er, wie seine Finger nass wurden. Panik erfasste ihn. Sein Hemd war auch nass. Seine Bewegungen gerieten ins Stocken. Er ließ das Messer fallen und befühlte auch mit der zweiten Hand seinen Hals. Schließlich kroch ein leises Stöhnen der Erleichterung aus seinem Mund. Kurz darauf hatte er sich wieder im Griff.
Draußen hörte er das monotone Prasseln von warmen Regentropfen gegen die Glasscheibe. Er hob langsam den Blick. Tatsächlich war das kleine Fenster gekippt.
Der Lichtschacht ist übergelaufen
, überlegte er und stemmte sich mit schmerzenden Gliedern hoch auf die Beine. Wie oft hatte er als Kind genau vor diesem Fenster gestanden und versucht, einen Blick nach draußen zu erhaschen. Nun stand er da und beobachtete, wie ein schmales Rinnsal sich die graue Wand entlang nach unten schlängelte.
Mit einem tiefen Seufzer schloss Dennis das Fenster und klopfte den Staub von seiner Hose ab. Ein Rascheln erweckte seine Aufmerksamkeit und ließ ihn aufhorchen. Er hielt den Atem an.
Nichts. Er richtete sich auf. Da war es wieder. Er lauschte erneut in die Dunkelheit hinein. Wieder nichts.
Da war es wieder. Er sah zu Boden. Neben seiner linken Schuhspitze schimmerte etwas Weißes. Es war ein zusammengefalteter Zettel. Dennis beugte sich nach unten, hob ihn auf und faltete das DIN-A5-Blatt auseinander. In krakeliger Schrift stand eine Botschaft darauf geschrieben.
Mit faltiger Stirn und einem unguten Gefühl verließ er den Kellerraum und trat in den Flur, der von einer schwachen Lampe in schmutziges Gelb getaucht war. Dennis blinzelte mehrmals, endlich klärte sich sein Blick. Angestrengt las er die Botschaft, dabei bewegte er seine Lippen wie bei einem Gebet: »Die Bullen wissen nicht, wer die Frauen getötet hat. Aber diese Frau, sie ist dir dicht auf den Fersen.« Die Buchstaben waren rot und verschmiert, als hätte jemand einen Buntstift verwendet, dessen Spitze er sich jedes Mal in den Mund gesteckt hatte, wenn er mit einem neuen Satz begonnen hatte. Dieser Jemand war sein jüngstes ER, anders formuliert, seine vierte Persönlichkeit, sein viertes Ich, das das Verhalten eines zehnjährigen Jungen aufwies
und das schwächste Glied in der Kette war, wusste Dennis. Manchmal sprach es mit einer niedlichen Mädchenstimme zu ihm, manchmal mit der verängstigten Stimme eines Jungen, doch niemals heiter. Als kleiner Junge war er mal in den Keller gelaufen und dabei in ein dicht gewebtes Spinnennetz geraten. Unzählige kleine schwarze Tierchen waren auf seinem Mund und seinen Augen herumgekrabbelt und manche unter dem Kragen hindurch auf seinen Rücken gehuscht. Sie waren überall gewesen. Er hatte geschrien und sich dabei das Gesicht zerkratzt. Genauso redete manchmal auch die Stimme zu ihm: ängstlich und zittrig. Häufig bat er die Stimme, still zu sein, doch sie folgte nur selten seiner Bitte.
Er las die Nachricht erneut und drehte das Blatt mehrmals zwischen seinen Fingern. Da war nichts mehr. Das karierte Blatt stammte aus seinem Notizbuch, das er in der Schublade aufbewahrte. Eine fast schon fiebrige Anspannung ergriff von ihm Besitz. Eine heiße Woge durchfuhr seinen Körper.
Mit geschärften Sinnen, die von Panik genährt wurden, lief er die Steintreppen nach oben, wobei er darauf achtete, nicht abzurutschen. Die Treppe war steil, in der Mitte jeder steinernen Stufe eine Kuhle. Der Handlauf wackelte, und wenn man zu sehr daran zog, löste sich der obere Teil aus der Mauer. Darum sprintete Dennis nach oben, ohne sich daran festzuhalten.
»Dennis, schleichst du etwa durchs Haus?« Die heisere Stimme seines Vaters hallte drohend von den Wänden wider und brachte ihn dazu, unvermittelt stehen zu bleiben. Er hörte, wie sich der altersschwache Mann aus dem Bett wuchtete.
»Komm hoch in mein Schlafzimmer und hilf mir. Ich muss wieder Wasser lassen. Die Tabletten, die mir der Arzt verschrieben hat, lassen mich wie einen Elefanten pissen. Aber ich kann wieder gehen«, sagte sein Vater und wurde von einem heftigen
Hustenanfall unterbrochen. »Hast du Zigaretten für mich gekauft, wie ich dir aufgetragen habe?«, brummte er mit rasselnder Stimme, die vom vielen Rauchen kratzig klang.
Dennis wagte immer noch nicht, sich zu rühren.
Als Kind hatte er zuerst die Jahre und zum Schluss die Tage bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit gezählt. Dennoch hatte er nie Anschluss an die Gesellschaft gefunden. Trotz des Bemühens der letzten Pflegefamilie, bei der er mehr als drei Jahre seines Lebens verbracht hatte, war er zu seinem Vater zurückgekehrt. Vor allem die Frau hatte es sich zur Aufgabe gemacht, aus Dennis einen besseren Menschen und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu formen, aber auch sie war bei ihrem Versuch gescheitert. Schließlich landete sie bei einem Seelsorger, nachdem ihre Tochter tot aufgefunden worden war – erhängt in einem Wald, in dem sie oft spazieren gegangen waren.
»Dennis!«, brüllte sein Vater und löste ihn damit aus seiner Starre. Ein hässliches Geräusch erfüllte das Haus. Es klang genauso schlimm wie das Würgen, wenn sich jemand in die Kloschüssel übergab. Sein Vater wurde langsam von innen heraus aufgefressen. Der Krebs ließ sich nicht mehr aufhalten. Doch sein Vater gab nicht so schnell auf.
Dumpfe Schritte brachten die Dielen zum Knarzen. Die Decke über Dennis’ Kopf keuchte.
»Komm hoch und hilf mir, verdammt noch mal«, fluchte sein Vater, doch Dennis traute sich nicht, nach oben zu gehen.
»Das bekommst du schon selbst irgendwie hin. Du kannst dich hinsetzen«, schrie er die Treppe hinauf und schlich sich Richtung Küche.
»Ich bin ein Mann, gottverdammt, kein Weib!«
»Dann machst du, wie es sich für einen Mann gebührt, eben in die Hose, oder du pisst wie ein räudiger Köter – musst
nur das Bein anheben«, murmelte Dennis. Das alles laut auszusprechen, traute er sich jedoch nicht.
Auf dem Weg zur Küche blieb er vor einem Spiegel stehen und betrachtete sich.
Ich bin schwach
, dachte er. Dieses Eingeständnis seiner Angst, die er seinem Vater gegenüber empfand, widerte ihn an. Er biss sich auf die Lippen und ballte die Hand, in der er den Zettel hielt, zur Faust. Das Papier raschelte leise.
Du bist ein Feigling!
, brüllte er sein Antlitz in Gedanken an und schlug mit der Faust gegen den Spiegel. Sein Gesicht bekam zackige Risse. Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Du bist genauso eine beschissene Kreatur wie deine Mutter«, schrie sein Vater jähzornig.
Bilder tauchten vor Dennis’ Augen auf. Er sah seine Mutter. Sie kauerte in einer Ecke und weinte stumm. Ihre linke Gesichtshälfte war angeschwollen. Neben ihr kauerte ein Junge. Dieser Junge war er.
Dennis war wieder elf Jahre alt. Sein Bild in der rissigen Oberfläche wurde milchig trüb, die Umgebung verschwamm hinter dem heißen Tränenschleier. Erinnerungen stiegen in ihm auf. Zu den Bildern gesellte sich der süße Duft von frisch gebackenen Keksen, die im Backofen langsam honigbraun wurden.
»Dennis, du musst in zehn Minuten fertig angezogen sein, deine Milch wird sonst wieder kalt und die Kekse steinhart«, hörte der tanzende Junge seine Mutter. Er hatte sich ins Schlafzimmer seiner Eltern geschlichen und eines von Mamas Kleidern angezogen. Er drehte sich im Kreis, der Saum bauschte sich auf und machte jedes Mal eine Welle, wenn er seine Drehbewegungen beschleunigte. Einmal wäre er fast über seine eigenen Füße gestolpert, weil er sich zu schnell gedreht hatte.
Das grüne Kleid mit den großen weißen Blumen roch nach Mamas Parfüm und ihr selbst. Dennis hörte ihre Stimme wie durch das Rauschen eines Wasserfalls. Er nahm die Welt nur bruchstückhaft wahr. Alle Sorgen waren vergessen. Er schloss die Augen und hob die Hände in die Luft.
Irgendwann werde ich in einem Theater tanzen. Eigentlich möchte ich als Ballerina auftreten.
Das war sein sehnlichster Wunsch. Gleichzeitig wusste er jedoch, dass ein Junge niemals eine Ballerina werden konnte.
»Dennis, wir kommen sonst zu spät zu deiner Aufführung«, mahnte seine Mama lauter und zerstörte die Bilder in seinem Kopf. Er blieb stehen und öffnete die Augen. Alles um ihn herum drehte sich noch eine Weile. Dennis war außer Atem.
»Ich komme schon«, rief er zurück und zwang sich vorsichtig aus dem Kleid, doch ausgerechnet an diesem Tag blieb er in einem der dünnen Träger hängen. Er verhedderte sich darin. Auf einem Bein hüpfend schaffte er es irgendwie bis zum Bett und setzte sich auf die Kante. Seine Socke hatte sich darin verknotet. Mit angestrengter Miene fummelte er an dem festen Knoten. Mama rief jetzt noch lauter, aber er ignorierte sie, weil er es beinahe geschafft hatte, die Socke freizubekommen.
»Endlich«, murmelte Dennis strahlend und grinste breit. Triumphierend hob er seine Socke in die Luft, machte einen Luftsprung und verharrte. Die ganze Freude war weg. Sein Lächeln wurde zu einem verzerrten Grinsen. Er fröstelte, da er bis auf das Kleid, das schlaff von ihm herunterhing, nackt war. Der Stoff rutschte leise raschelnd von seiner nass geschwitzten Haut. Alles Leben wich aus ihm. Sein Blick haftete an dem Mann, der in der Tür stand – sein Vater.
Beide starrten sich eine Weile an, ohne ein Wort zu sagen. Einen grausamen Moment lang wünschte sich Dennis, tot zu sein.
Sein Vater taumelte. Er war wie so oft auf Drogen. »Was ist das hier für eine verfickte Show? Habe ich eine kleine Schwuchtel in meinem Zimmer stehen oder was?«, lallte er und hob den Arm. Ehe sichs Dennis versah, landete die Faust schon in seinem Gesicht. Der kleine Junge flog auf das Bett. Sein Gesicht glühte, der Kopf summte wie eine Glocke. Die Augen füllten sich mit Tränen.
Er wischte sich schnell über Mund und Nase. Aber es war Blut und kein Rotz, das ihm über das Kinn lief. Sein Handrücken war hellrot.
»Ich habe dich gefragt, was das hier für eine verfickte Show ist?! Antworte, Bengel, oder ich ziehe dir noch eine über. Aber dieses Mal werde ich mich nicht zurückhalten!«, brüllte sein Vater. Er war außer sich vor Zorn. Sein Hirn war voll mit irgendwelchen chemischen Substanzen, hatte ihm seine Mama einmal erzählt, als er sie grün und blau geschlagen hatte. Doch wo war sie jetzt?
Dennis suchte nach ihr. Sein linkes Auge war zugeschwollen und pulsierte. Mit dem rechten blinzelte er in die Dunkelheit, die im schmalen Flur herrschte, weil dort seit Wochen schon die Glühbirne durchgebrannt war.
Endlich konnte er Mamas zierliche Gestalt erkennen, die sich kaum vom tristen Hintergrund der nackten Wände abhob. Für Tapeten hätten sie einfach kein Geld, hatte sein Papa gesagt. Aber das war eine Lüge, sein Vater war reich.
»Schau, was du angerichtet hast mit deiner Erziehungsmethode«, wandte sich sein Vater an seine Mama, die einem Geist glich, so weiß wurde sie im Gesicht. Das letzte Wort sprach er wie Hohn aus, auch kräuselte er die Lippen und säuselte: »Mami, ich bin eine verdammte Tunte, kauf mir bitte ein Kleid, weil ich eigentlich ein Mädchen sein möchte …« Dann spie er auf den Boden und packte seine Frau an den
Haaren. Mit einem heftigen Ruck zog er sie dicht an sich und bellte ihr ins Ohr: »Sieh, was du aus ihm gemacht hast. Wir hätten lieber den anderen behalten sollen!«
Seine Mutter weinte. Ihr Gesicht verkrampfte sich, ihr Haar steckte immer noch zwischen den wulstigen Fingern seines Vaters, die an den Nagelbetten blutig waren. Er schüttelte sie heftig und schleuderte seine Mama gegen die Wand. Sie winselte und rutschte zu Boden. Dennis war geschockt. Wen wollte Vater behalten? Er begriff nicht einmal die Hälfte von dem, was sein Vater da sagte.
»Bitte, tu ihm nichts, er ist doch noch ein Kind«, flehte seine Mutter ihren bis zur Weißglut erhitzten Ehemann an.
»Ach ja? Ist er das? Ein unschuldiger Junge, ein Kind? Er hat dir in das Nachthemd gewichst, schon vergessen? Er ist ein kleiner Perversling. Später, wenn er groß ist, wird er nicht anders sein. Er ist krank in der Birne, weil ihm der andere das ganze Hirn weggeprügelt hat, weil in deinem mickrigen Bauch zu wenig Platz war. Dein Ex hat die richtige Entscheidung getroffen.«
Trotz der Schwüle fror Dennis am ganzen Körper. Da war plötzlich noch eine Stimme, die er klar und deutlich vernehmen konnte, sie war lauter als die seines Vaters.
Hör nicht auf ihn
, sagte die Stimme. Sie sprach zu ihm.
Dennis riss die Augen auf und blickte sich um. Die Erinnerungen verblassten, weil sein Vater von oben zu schreien anfing. »Ich bin hingefallen. Hilf mir hoch.«
Du kannst in deiner eigenen Scheiße ersaufen
, dachte Dennis und ging in die Küche, um sich einen Schluck Wasser zu nehmen.
War diese Sinnestäuschung, die er damals im Schlafzimmer das erste Mal wahrgenommen hatte, etwa das Ergebnis der Prügel, die er täglich hatte erleiden müssen? Für Nichtigkeiten und kleinere Vergehen wie das Verschütten der Milch, oder wenn er eine Gabel fallen ließ oder beim Essen schmatzte. War die Stimme, die er da zum ersten Mal registriert hatte, Vaters Erziehungsmethode geschuldet?
Die Erinnerung an diesen besagten Tag, die viele Jahre im Verborgenen geblieben war, hatte der Psychologe aus seinem Innersten herausgekramt.
Unentwegt hagelte es Schläge, egal, was Dennis versuchte. Auch wenn er brav war, gab es Prügel.
»Bitte, tu ihm nichts«, sprach die Mutter auf ihren erzürnten Mann ein, doch er war taub für all das Flehen und zerrte an seinem Hosengürtel.
Manchmal drängte sich die Vergangenheit so dicht an ihn heran, dass er sie von der Realität nicht zu unterscheiden wusste, so wie jetzt. Er roch erneut den schalen Atem seines Vaters. Er spürte das klamme Laken unter seinen nackten Füßen, weil er sich vor Angst bepinkelt hatte.
Du musst dich wehren, Dennis
, sprach die Stimme zu ihm, während der lederne Riemen zischend die Luft zerschnitt und ihn auf der nackten Schulter traf. Immer und immer wieder peitschte der Gürtel auf seine Haut ein und traf Dennis am Rücken und sogar im Gesicht. Endlich war sein Vater so erschöpft, dass er sich keuchend und nach Luft ringend auf die Bettkante setzte.
Nach einem zerfahrenen Augenblick der ohrenbetäubenden Stille sah Dennis sich entgeistert um. Sein Blick war von einem roten Schleier getrübt. Er schmeckte Blut, doch was ihn
so verwirrte, war nicht die Wut seines Vaters, sondern der Klang dieser Stimme in seinem Kopf, die keiner außer ihm zu vernehmen vermochte.
Dieses einmalige Erlebnis hatte sich an diesem Abend unauslöschlich in sein kindliches Seelenleben eingebrannt und ließ sich mit keiner Therapie rückgängig machen.
»Eines Tages werde ich dich umbringen«, hatte der Junge damals mit blutverschmierten Lippen geflüstert, sich selbst über seine Drohung wundernd, weil nicht er derjenige war, der da aus ihm gesprochen hatte. Es war die Stimme. Sie war tief und versetzte nicht nur ihn in einen Schockzustand. Seine Mutter sah ihren Sohn konsterniert an, sein Vater drehte sich schwerfällig zu ihm um. Um seine rechte Faust war immer noch der Gürtel gewickelt.
»Was hast du da gesagt?«, brummte er im Brustton abschwellenden Zorns. Verwunderung und Ärger zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. Tiefe Furchen gruben sich wie Risse in seine Stirn, seine Mundwinkel zuckten. Er schien auf etwas zu kauen, denn sein mächtiges Kinn bewegte sich unaufhörlich.
»Hast du das gehört?«, brüllte der erzürnte Mann und wischte sich den Speichel mit der Hand über die Bartstoppeln, weil er vor Wut schäumte. Nun galt der ganze Jähzorn seiner Frau. Dennis beobachtete die Szenerie nur einen kurzen Augenblick lang. Sobald sein Vater aufgestanden war und die Hand zum ersten Schlag hob, um auf seine Frau einzuschlagen, sprang Dennis auf die Füße, griff nach der bauchigen Vase, die an Mamas Seite auf dem Nachtschränkchen stand, und holte weit aus. Das dicke Kristallglas wog schwer in seinen Händen und drohte zwischen seinen von Blut und Tränen beschmierten Fingern wegzurutschen. Eine Welle der Panik und bodenlosen Verzweiflung verdrängte das Gefühl der Furcht in seiner Brust. Endlich konnte er wieder tief Luft holen. »Ich … werde … dich … TÖTEN!!!«, schrie er wie ein Wahnsinniger.
Er wurde oft von seinem Vater verprügelt. Diese aufreibenden Begebenheiten hatten ihn abgehärtet und gefühllos gemacht. Er hatte sich in diesem Augenblick kein bisschen vor den bevorstehenden Konsequenzen gefürchtet, sollte er seinen Vater doch nicht erschlagen. Er sprang samt der Vase vom Bett und schlug seinem Peiniger das schwere Ding auf den Schädel.
Das laute, von Wahnsinn durchtränkte Kreischen eines Kindes, vermischt mit dem schmerzerfüllten Schrei eines Erwachsenen erfüllten das ganze Haus und hallten in Dennis’ Ohren nach. Er fiel nach einem wuchtigen Faustschlag zu Boden. Sein Kiefer hatte wie ein trockener Ast geknackt und wurde taub. Helle Funken tanzten vor seinen Augen und machten ihn blind. »Du verdammter Hurensohn!«, hörte er seinen Vater brüllen. Ein weiterer Schlag trieb ihm die restliche Luft aus der Lunge, die mit einem pfeifenden Zischen durch seinen Mund und die Nase aus ihm wich.
»Du hast unseren Sohn umgebracht«, fiepte seine Mutter mit kindlicher Angst in der Stimme.
»Deinen Sohn«, widersprach sein Vater knurrend.
Mit diesen Worten wich das ganze Leben aus seinem Körper und tauchte alles in undurchdringliche Schwärze. Eine angenehme Schwere ließ seine Glieder schwerelos werden. Dennis glaubte zu schweben …
Mit einem gepressten Stöhnen und flatternden Lidern kam Dennis wie durch ein Wunder zur Besinnung. Zwei blutunterlaufene Augen blickten auf ihn herab. Der geschwächte Junge lag in seinem frisch bezogenen Bett, das intensiv nach Weichspüler roch, und versuchte zu sterben.
»Er hat nicht aufgepasst und ist dummerweise ausgerechnet vor dem Treppenabsatz über dieses Auto gestolpert, das ich ihm
gekauft habe.« Dennis traute seinen Augen nicht. Sein Vater hielt tatsächlich einen Miniaturrennwagen zwischen seinen Fingern, die an den Kuppen vom vielen Rauchen gelb waren. Diesen Ferrari hatte er sich seit Jahren gewünscht und hatte sich selbst in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass er ihn jemals von seinem Vater bekommen würde.
»Hat es sich genauso zugetragen, wie Sie es mir gerade eben geschildert haben? Sonst sehe ich mich gezwungen, das Jugendamt zu informieren und gegebenenfalls eine andere Instanz zusätzlich einzuschalten.«
Sein Vater lachte theatralisch auf, die Mutter stand dicht neben ihm. Sie war an diesem Tag so stark geschminkt, dass Dennis sie nicht sofort erkannt hatte. Aber das schob er auf den Schlag seines Vaters, von dem sein Schädel immer noch brummte.
»Nein, meine Frau kann all dies bestätigen. Habe ich recht, Schatz?«, fragte er freundlich und legte das Auto auf Dennis’ Brust.
In diesem Augenblick war der schwer verletzte Junge das glücklichste Kind auf Erden – mit einem sehr traurigen Ausdruck in den Augen, weil er wusste, dass dieses Glück nicht von langer Dauer war.
»Wir beide lieben unseren Sohn«, beteuerte der Vater mit so viel Zuneigung und Freundlichkeit, wie er nur aufbringen konnte. Der Arzt, dem die unzähligen Überstunden ins Gesicht geschrieben standen und dessen Atem latent nach Alkohol roch, bedachte die beiden Eltern mit einem nachdenklichen Blick.
»Ich würde Dennis dennoch gern röntgen. Die Schwellung an der linken Wange verheißt nichts Gutes«, sagte der Arzt und legte seine kalten Finger auf die heiße Haut. Der stechende Schmerz trieb Dennis Tränen in die Augen. »Tut das weh?«, wollte der Arzt von seinem kleinen Patienten wissen.
Dennis sah ängstlich zu seinem Vater hoch. Der freundliche Glanz in den Augen wurde von eisiger Kälte übertüncht. Dann bewegte sein Vater den Kopf langsam von links nach rechts.
»Nein«, nuschelte Dennis und fuhr sich mit der Zunge über das aufgerissene Fleisch seiner linken Wange und die Backenzähne.
»Sie werden ihn im Auge behalten, falls er spucken muss. Wenn sich sein Zustand verschlechtern sollte, müssen Sie unverzüglich ins Krankenhaus fahren«, trug der Arzt den Eltern auf und schlug die Decke zur Seite, um Dennis’ Lunge abzuhören. Das Auto befand sich gefährlich nah an der Bettkante. Dennis’ Finger krampften sich hastig um den Heckspoiler.
»Aber natürlich«, pflichtete der Vater mit überraschend zurückhaltender Geste bei, während er einen Arm um seine Frau legte.
Dennis schluckte mit schmerzverzerrter Miene den glibberigen Schleim, der nach Metall schmeckte, hinunter.
»Sein Herzrhythmus ist in Ordnung, auch die Lunge ist intakt. Kannst du den Mund weit aufmachen, Dennis?«
Erneut wanderte der Blick des verängstigten Jungen zu seinem Vater. Auch jetzt spiegelte sich dieselbe Kälte in den dunklen Augen wider. »Als ich ein Kind war, habe ich mir auch immer so ein Auto gewünscht, jedoch nie eins bekommen. Es sei zu teuer, lautete jedes Jahr die Antwort. Auch wir haben nicht wirklich viel Geld, aber was tut man nicht alles für seine Kinder«, sagte er beinahe entschuldigend.
Dennis öffnete den Mund in der Erwartung, dass ihm der Unterkiefer einfach abfiele, wie damals das abgebrochene Stück einer Vase, die seine Mutter von ihrer Oma vererbt bekommen hatte. Dennis hatte sie versehentlich umgestoßen. Sie fiel zu Boden, ging jedoch nicht komplett zu Bruch. Nur ein großes Stück vom gebogenen Rand hatte sich gelöst und ließ sich nicht mehr kitten. Sie stand später im Keller, bis das Erbstück
irgendwann doch noch im Mülleimer gelandet war, wie alles im Leben irgendwann auf der Müllhalde oder auf dem Friedhof landet.
Der Arzt fummelte in seiner Tasche herum und zerrte ein Holzstäbchen sowie eine kleine Taschenlampe heraus. Mit dem Stäbchen drückte er Dennis’ Zunge nach unten, bis der Junge von einem Würgereflex übermannt wurde und sich aufbäumte. Auch der sengende Stich in seinem Knochen dicht am linken Ohr ließ ihn aufstöhnen. »Scheint nichts gebrochen zu sein, ist nur eine Prellung«, beendete der Arzt mit einem schweren Atemzug den Hausbesuch, stand auf und verstaute seine Requisiten.
»Schatz, kannst du den Doktor zur Tür begleiten? Und vergiss nicht die Flasche. Ich habe da etwas von einem Arbeitskollegen zum Probieren bekommen, aber ich trinke keinen Schnaps. Dieser soll besonders gut sein. Ist mit Zwetschgen, hat Horst von seinem Schwiegervater zugesteckt bekommen. Eine ganze Kiste.« Beide Männer lachten gekünstelt auf.
Der Arzt verließ das Kinderzimmer und wünschte seinem kleinen Patienten beim Hinaustreten eine schnelle Genesung. Die Mutter folgte ihm.
Der Vater blieb jedoch. Er starrte seinen Sohn schweigend an und kreiste mit den Schultern. »Beim nächsten Mal solltest du genauer zielen, du hast mich lediglich an der Schulter erwischt«, flüsterte er, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.
Dann machte er zwei Schritte auf den eingeschüchterten Jungen zu und riss ihm den Wagen aus den Fingern. »Den werde ich noch heute zurückgeben, ich habe nämlich den Zettel aufgehoben. Aber ich habe auch noch eine gute Nachricht für dich.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Dein Kinderarzt hat dich für den Rest der Woche krankgeschrieben, jetzt kommt jedoch der so berühmte Wermutstropfen.« Das
Grinsen wurde breiter. Sein Vater triumphierte. »Die nächsten fünf Tage wirst du im Keller verbringen, du und deine Mutter. Ah, da ist sie ja schon, wenn man vom Teufel spricht …« Sein Gesicht verdunkelte sich.
»Du hast ihm schon genug Leid zugefügt, lass ihn bitte in Frieden«, sagte seine Mutter von der Tür her.
»Wehe, du unterbrichst mich noch mal«, herrschte der erzürnte Mann seine Frau an und hob seinen Arm zum Schlag in die Luft.
»Ich werde dich verlassen!« Ihre Stimme schraubte sich zu einem panischen Schrei hoch.
»Du bewegst dich mit keinem Muskel.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brust und verpasste seiner ungehörigen Gattin eine Ohrfeige. Zu seiner Bestürzung lächelte seine Frau traurig. Anstatt wie so oft in Tränen auszubrechen, stand sie einfach nur da und lächelte. Ihre Gedanken waren mit dem schrecklichen Wissen belastet, dass ihre Tage gezählt waren. So oder so würde ihr Leben einen anderen Verlauf nehmen müssen.
»Hör auf, so dumm zu grinsen«, knurrte er. Zum ersten Mal zitterte seine Stimme nicht vor Zorn.
Seine Frau jedoch kreuzte die Arme vor der Brust und lächelte einfach weiter. Ihr Lächeln war wie gefroren, der Blick triefte vor Hohn.
Eine bodenlose Leere füllte Dennis von innen aus.
Meine Mama ist stark
, nistete sich in seinem Kopf ein.
Auch ich werde später so stark sein wie sie
, dachte er. Es war ein Bewusstsein, welches den Selbstbetrug eines Kindes zu unterdrücken versuchte. Damals war er zu jung, um den Gesichtsausdruck seiner Mutter richtig zu deuten. In ihren Augen spiegelte sich nicht nur Hohn, sondern auch das Wissen, dass sie zu weit gegangen war.
»Mama, nicht«, winselte Dennis, stemmte sich auf die Ellenbogen und sah, wie ein weißer Klumpen aus ihren Lippen
flog. Die Spucke hing wie eine Spinnwebe an Vaters unrasierter Wange, die von rötlich und grau schimmernden Stoppeln übersät war.
Er machte keine Anstalten, sich den Geifer aus dem Gesicht zu wischen. »Du undankbares Miststück«, zischte er und packte seine Frau am Haar. In seiner Stimme schwang die Gewissheit eines Mannes mit, der zu allem entschlossen war. Er drückte sie fest an sich und begrub ihr Gesicht an seiner Brust. »Du bist entschieden zu weit gegangen, Weib«, raunte er ihr ins Ohr. Er sprach so, als wäre sein Kehlkopf entzündet und er hätte Mühe, richtig zu schlucken.
Die Finger seiner Mutter gruben sich krampfhaft in sein Baumwollhemd. Sie versuchte, ihre Nägel tief in das Fleisch ihres Peinigers einzugraben.
Mit einem heftigen Ruck warf sein Vater die Mama zu Boden.
Dennis riss sich aus der Erinnerung. Er stand wieder in der Küche.
»Dennis!«, kreischte sein Vater von oben.
Dennis spürte eine mächtige Welle des Verlangens nach Rache durch seine Adern strömen. Er zog einen der Schränke auf und holte den Fleischwolf heraus. Das alte Ding wog schwer in seiner Hand.
Ich werde alles mir zur Verfügung Stehende in Bewegung setzen, um mich an dir zu rächen
, hatte Dennis sich an dem Abend damals fast schon feierlich geschworen. Doch alles war anders verlaufen.
Er starrte auf den Fleischwolf und schluckte schwer. Die schwindelerregende Orientierungslosigkeit riss ihm beinahe
den Boden unter den Füßen weg. Noch immer wie benommen lief er nach oben.
»Ich habe jetzt Lust auf Frikadellen«, verfolgte ihn die Stimme seines Vaters aus der Vergangenheit und wurde von derselben Stimme, die um mehrere Jahre gealtert und vom Krebs geschwächt war, übertönt. »Ich verrecke!«, brüllte sein Vater aus Leibeskräften. Das Brüllen ging in ein schwaches Gurgeln über.
»Du wirst mich nicht umbringen, du hast nicht den Mumm dazu«, höhnte sein Vater, als er ihn mit dem Fleischwolf in der Tür stehen sah. »So wie damals. Ich habe deinen Arsch gerettet und dafür viel Geld kassiert. Deine Mutter ist krepiert und ich bekam eine Stange Kohle dafür. Ist das Schicksal nicht ein Arschloch?« Sein Vater lachte. Ungeachtet dessen, dass er mit heruntergelassener Hose in einer Brühe aus Durchfall und anderen Ausscheidungen lag, strahlte er eine unerklärliche Macht aus, die Dennis einschüchterte. Das Vorhaben, seinem Vater auf der Stelle, hier und jetzt, mit dem Fleischwolf den Kopf einzuschlagen, war verflogen und hatte sich in nichts aufgelöst wie eine Gewitterwolke an einem Sommertag. Alles, was blieb, war ein schaler Geschmack auf der Zunge.
Dennis’ Muskeln verkrampften sich.
»Jetzt hilf mir endlich auf.« Sein Vater hob den Kopf an. Sein Kinn und die linke Wange glänzten, ein glibberiger Faden hing daran und zog sich in die Länge.
Dennis unterdrückte nur mit Mühe ein Würgen. Kotze stieg seinen Hals empor und verätzte ihm die Speiseröhre.
»Du kannst deine böse Absicht nicht verhehlen, deine Augen verraten deine Absicht.« Sein wissendes Lächeln entblößte eine Reihe von fauligen Zähnen. Seine Arme zitterten und knickten in den Ellenbogen ein. Er klatschte wieder in die Lache und gab ein leises Stöhnen von sich. Das Badezimmer, in dem die gelben Fliesen an manchen Stellen durch weiße ersetzt worden waren, wirkte genauso verwahrlost wie der Rest
des Hauses. Der am Saum schwarz gewordene Vorhang war zur Seite geschoben worden, der Duschkopf hing krumm an der Befestigung. Ein einzelner Tropfen bildete sich darauf und flog geräuschlos zu Boden, um mit einem kaum hörbaren Ploppen in der grauen Duschwanne zu zerschellen.
Dennis sah sich in dem stumpf gewordenen Spiegel an und konnte hinter seinen Augen jemanden erkennen. Das Böse erwachte in ihm und war zu allem bereit.
»Man hat damals versucht, mich eines Verbrechens zu bezichtigen, das ich niemals begangen habe«, keuchte sein Vater und robbte mehrere Zentimeter über die glitschigen Fliesen – so weit, bis sein mageres Gesicht nicht mehr in der Pfütze lag. Er wischte seine Finger an dem runden fleckigen Teppich ab, der früher mal beige gewesen war. »Ich werde nicht einfach so sterben.« Von dem einst bulligen Mann war nur noch ein Knochengerüst übrig. Der Krebs hatte ihn ausgezehrt, und trotzdem lebte er noch. »Du warst derjenige, der seine Mutter umgebracht hat.«
»Schweig!«, krächzte Dennis, der Schrei blieb ihm im Halse stecken. Die Erinnerung schmerzte wie ein weher Zahn. Sein Oberkörper wiegte sich vor und zurück. Der Fleischwolf entglitt seinen Fingern und polterte zu Boden. Eine der gelben Fliesen zersprang. Ein Loch klaffte auf und füllte sich mit Vaters Exkrementen.
»Genau mit diesem Ding habe ich Ruth damals den Zeh vom Fuß abgemacht.« Er robbte weiter bis zur Badewanne. Seine Finger umschlossen den glatten Rand, rutschten ab, doch dann zog sich sein Vater hoch, bis er sich mit dem Rücken anlehnen konnte. Er legte den Kopf leicht in den Nacken. »Die Polizei glaubte, es wäre ein Waschbär oder womöglich ein Wolf gewesen.« Ein Grunzen drang aus seiner Kehle. Mit einer fahrigen Bewegung schnappte er nach einem Badetuch, das über dem Rand der Wanne ausgebreitet lag, und rieb sich damit das Gesicht sauber. »Das mit dem Wolf war gar nicht so verkehrt.«
Seine ausdruckslosen Augen stierten auf den Fleischwolf. Er hustete und spuckte Blut. »Kannst du dich noch an den Baum erinnern? An die faserige Borke, die rau und warm war und so wunderbar nach Freiheit roch? Du hast mir die Arbeit abgenommen. Du warst so ein unschuldiges Kind, ich kann’s der Polizei nicht verdenken, dass sie nicht auf dich gekommen ist.« Seine dunkel umrandeten Augen wirkten hohl in dem schwachen Licht. »Ist Mama tot?«, äffte er Dennis mit affektiert kindlicher Stimme nach.
»Schweig!«, herrschte Dennis seinen Vater an. Er presste die Fäuste so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Aber du warst zu blöd, den Knoten richtig zu binden, und deine Mutter litt unmenschliche Qualen, bis sie jämmerlich krepierte. Wie ein gottverdammter Köter muss sie gehangen haben. Und was hast du gemacht? Du hast ihr dabei zugesehen.«
»Du hast ihr den Zeh abgemacht!«, brüllte Dennis trotzig, wie damals an dem Abend, als der Vater, benommen von den Drogen, nach unten in den Keller gekommen war und seine Frau an einem Strick hängend vorgefunden hatte. Zwei Tage zuvor hatte er ihren Zeh in den Fleischwolf gesteckt und so lange an dem Griff gedreht, bis die Sehnen samt den Knochen vom restlichen Fuß abgetrennt waren.
»Du wolltest immer eine Ballerina werden. Nun, ohne den hier wird es ganz schön schwierig werden«, hatte er gebrabbelt. »Morgen, wenn ich euch hier rauslasse, machst du mir Fleischklöße, so, wie ich sie mag«, hatte er geknurrt und wie ein Wahnsinniger gelacht, bevor er sie wieder einsperrte. Kurz darauf kam er zurück und warf Dennis einen Lappen vor die Füße. »Hier, damit kannst du ihr die Blutung stoppen. Ich möchte nicht, dass sie hier alles vollsaut.«
Mit dieser Erinnerung trat Dennis näher an seinen Vater heran.
Dieser hob den Kopf. »Ich habe deine Mutter immer gehasst, noch mehr, als ich dich gehasst habe«, keuchte er und leckte sich hastig die Lippen. »Und der Zeh wollte nicht richtig reinpassen. Weißt du noch, wie sie gejammert hat? Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut bei dem Gedanken, wie sie mich angefleht hat.« In den glasigen Augen seines Vaters erkannte Dennis, wie ein für ihn bis dahin unbekanntes Gefühl aufflackerte. »Sie hat diesen Tod mehr als verdient.« Erneut huschte eine Regung über sein aschfahles Gesicht und strafte seinen scharfen Unterton Lügen.
»Du hast sie geliebt«, hörte Dennis sich flüstern.
»Wie kommst du darauf, bist ja sonst nicht so gescheit?«, spottete sein Vater mit der Fistelstimme eines Sterbenden.
»Du hast sie geliebt, aber sie hat deine Liebe nicht erwidert. Damit konntest du nicht umgehen.«
»Ich habe sie geliebt, aber sie hat mich betrogen und wurde sogar schwanger. Ich habe sie trotzdem nicht fortgejagt wie eine läufige Hündin. Aber sie, sie hat mich dennoch …« Er verschluckte sich. Seine von Zorn erfüllten Augen liefen über. Er hustete. »Bring mich zurück in mein Bett, aber vorher solltest du mich waschen. Ich verspreche dir, dass ich mir Mühe geben werde, so schnell wie nur möglich zu sterben«, sagte er müde. »Ich werde das Geheimnis mit ins Grab nehmen. Danach bekommst du das Haus, das Geld und deine Ruhe.« Sein Kinn zitterte.
Dennis wusste nicht, was er tun sollte. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er den Fleischwolf und ging auf seinen Vater zu. Er achtete nicht darauf, dass er durch die Pfütze schritt und seine Schuhe schmatzende Geräusche verursachten. Er roch auch nicht den beißenden Gestank. Wie durch einen Nebelschleier sah er lediglich diesen gebrochenen Mann, dem er den Kopf einschlagen wollte. Doch etwas hinderte ihn daran. All die Jahre hatte er sich nicht dazu überwinden können, den Mann zu töten.
»Wenn du mich umbringst, wirst du im Gefängnis landen, und dort werden dich die Häftlinge in den Arsch ficken.«
Du musst auf den Stuhl, Dennis, lass mich das machen.
Die Stimmen in seinem Kopf wurden in letzter Zeit immer lauter und versuchten nicht mehr, sich zu verstecken. »Wer seid ihr?«, sprach er seinen Gedanken laut aus.
»Was?« Sein Vater sah ihn perplex an.
Dennis atmete laut durch die Nase. Seine Nasenflügel blähten sich auf.
DU SOLLST AUF DEN VERDAMMTEN STUHL!
, schrie die Stimme in seinem Kopf. Sie klang drohend und lähmte ihn. Er fühlte sich genauso wie damals, wenn sein Vater ihn angebrüllt hatte, bevor er ihn auf den Stuhl zwang, um ihn mit einem Gürtel festzuschnüren. Seine Brust wurde eng.
»Schrei mich nicht an«, keuchte er und hatte Mühe, die Worte auszusprechen. Sein Gesicht färbte sich dunkel.
»Was redest du da?« Der todkranke Mann blickte sich verwirrt um. »Mit wem redest du?«
»Mit dir, du verdammtes Arschloch«, schrie Dennis und hob den Arm in die Luft. Der Fleischwolf wäre ihm dabei beinahe aus der Hand gefallen. »Raus aus meinem Kopf!«
»Du bist verrückt, Dennis! Beruhige dich doch!«, bemühte er sich, seinen Sohn zu beschwichtigen. Bei dem Versuch, sich die Hände schützend vors Gesicht zu halten, rutschte er zur Seite und fiel hin.
Der Fleischwolf knallte scheppernd gegen die Wanne. Die Emaille-Schicht platzte. Das laute, metallische Geräusch klang in Dennis’ Ohren nach und vermischte sich mit dem dröhnenden Gelächter der Stimme, die ihn in den Wahnsinn trieb.
Du bist ein Loser
, lachte die Stimme ihn aus.
»Nein, das bin ich nicht!«, widersprach Dennis der Stimme.
Dann töte ihn doch!
Unten klingelte das Telefon.
Dennis sah auf seinen Vater herab. Er wimmerte und lag – die Beine ausgestreckt, den Kopf mit den Händen bedeckt – einfach nur da. Das Klingeln hörte nicht auf.
Töte ihn!
, verhöhnte ihn die Stimme.
»Ich mache es!«, schrie Dennis und holte erneut zu einem Schlag aus.