KAPITEL
19
Ein Schwall besorgniserregender Wärme floss wie heiße Lava durch seine Adern. Dennis begriff nicht sofort, dass er auf einem Stuhl saß. Sein Rücken schrie vor Schmerzen. Alle seine Glieder waren steif, die Nackenmuskulatur brannte wie Feuer. Immer noch benommen schaute er sich um und versuchte, sich aufzurichten. Wie verloren und nach einer tiefen Narkose kamen seine Sinneswahrnehmungen nur langsam zurück. Mit dem rechten Zeigefinger kratzte er am Nagelbett seines linken Daumens. Die Haut wurde blutig und nass. Der Schmerz, der darauf folgte, war angenehm, weil er real und ihm vertraut war. Diesen Gefühlszustand konnte er kontrollieren. Sein verklärter Blick wanderte zum Tisch, auf dem das Diktiergerät und mehrere von Hand beschriebene Blätter lagen. Die Handschrift war gleichmäßig, die Buchstaben rund und gut lesbar.
Dennis legte sich die rechte Hand auf die Stirn. Die Haut war kühl, er hatte kein Fieber. Trotzdem fühlte er sich krank. Das Haus war sauber und die Luft kalt wie an einem Fluss am frühen Morgen. Er spürte sogar einen frischen Luftzug. Er fröstelte. Ein fieses Kribbeln kroch seinen Rücken hinauf.
Der angenehme Duft frisch gemachter Lasagne ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sein Magen begann zu knurren.
Doch dann wurden seine Sinneswahrnehmungen von unschönen Erinnerungen überlagert. Wie Flashbacks blitzten sie vor seinen Augen auf und blendeten ihn.
Er stand im Wald. Seine Hände brannten. Sein Rücken war von vielen Hieben wund. Sein Vater hatte für die Züchtigung erneut seinen Gürtel benutzt.
Das ist die Strafe dafür, dass du deine Mutter umgebracht hast
, sprach sein Vater mit rauer Stimme in Dennis’ Kopf.
Dennis knetete die Hände. Seine Finger waren taub und kalt wie nach einer Schneeballschlacht. Er legte die Hände ineinander und hauchte ihnen etwas Wärme ein.
Diese Nacht war anders als alle anderen zuvor, glaubte er, und rieb die Hände schnell aneinander, bis er ein leises Kribbeln an den Spitzen verspürte. Alles in seinem Kopf war durcheinandergeraten. Die Bilder aus seinem Traum waren zu real, als dass er mit Sicherheit sagen konnte, ob all das wirklich nur ein Traum gewesen war.
Er schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Alles hatte sich zu einer undurchdringlichen Aneinanderreihung von Wahrnehmungen verworren. In diesem desolaten Zustand konnte er das Erlebte nicht von den Irrbildern seiner Fantasie unterscheiden.
Eines hatte sich jedoch in sein Gedächtnis eingebrannt, wie eine Kugel steckte dieser Gedanke in seinem Kopf und bereitete ihm höllische Schmerzen.
Dieses Mal hatte er sein Handy angelassen. Er hatte es auf Videoaufnahme eingestellt und gegen den Kaffeebecher gelehnt, sodass er die Umgebung aufnehmen konnte. Auf zittrigen Beinen stand er auf. Er war nackt, das war er immer, wenn er auf diesem Stuhl wieder zu sich kam. Unter seinen Füßen lag ein Kleid, das Kleid seiner Mutter. Das erklärte auch die Ordnung, die im Haus zu herrschen schien, auch wenn sie nur oberflächlich war. Dennis riss die Besteckschublade auf,
um sich zu vergewissern, dass alles wie stets auf einem Haufen lag. Nein, es war alles in Fächer sortiert. Selbst die Richtung stimmte. Sämtliche Griffe befanden sich parallel zueinander.
Er öffnete einen der Schränke und nahm ein Glas heraus. Es war milchig trüb und hatte Wasserflecken. Die Spülmaschine war immer noch an. Die Blinklampe für »kein Salz mehr« pulsierte.
Erst nachdem er das Glas zweimal aufgefüllt und es in wenigen Zügen geleert hatte, watschelte er auf nackten Füßen zurück zum Tisch. Er nahm das Handy an sich und stierte auf das Display. Es war schwarz. Auch nachdem er die »Home«-Taste gedrückt hatte, blieb die Fläche mit den feinen Haarrissen dunkel.
»
Fuck
«, murmelte er, schlurfte zur Schublade, in der er die Kabel aufbewahrte, und schloss das Handy an ein Ladegerät an. Der grüne Balken tauchte auf. Der Akku war komplett leer. In der Zeit, in der sich der Akku auflud, wollte Dennis die vollgeschriebenen Seiten durchlesen.
Er nahm das zuoberst liegende Blatt zwischen seine Finger und hatte Mühe, das Geschriebene zu lesen, so stark zitterten seine Hände. Unbehaglich verlagerte er das Gewicht von einem Bein aufs andere und zwang sich zur Besinnung, indem er tiefe, gleichmäßige Atemzüge machte. Er konzentrierte sich. Tatsächlich lösten sich die Krämpfe und die Hände zitterten nicht mehr wie bei einem Junkie auf Entzug.
Gurke
, war das erste Wort, das er entziffern konnte.
»Gurke?«, fragte er laut. »Eine gottverdammte Gurke, Karotten, Wurst … Was zum Teufel?«, stammelte er verblüfft und drehte das Blatt um. Die Rückseite war leer. »Das ist eine Einkaufsliste. Bloß eine Einkaufsliste«, wiederholte er und schnappte sich das zweite Blatt. »Töte ihn, töte ihn, töte ihn …«, flüsterte er, während er über die Zeilen flog.
»Ahh!«, schrie Dennis, zerknüllte mit einem drohenden Knurren das Blatt Papier zu einem Knäuel und pfefferte es dann gegen die Wand. Wut loderte in seinen Augen auf. Er schlug sich die Hände vors Gesicht und weinte stumm.
Beneide deine Freunde für das, was sie besitzen, und du wirst erfahren, was es bedeutet, sie zu verachten,
sprach erneut sein Vater in seinem Kopf zu ihm.
Ich beneide dich für die Liebe, die deine Mutter dir gegenüber aufbringt. Sie opfert sich für dein Glück, und darum hasse ich dich aus tiefster Seele, weil ich diese Liebe bei mir vermisse, weil deine Mutter sie restlos an dich verschwendet.
Das familiäre Glück blieb mir nicht vergönnt, egal, wie sehr ich mich dafür abgemüht habe. Es ist wie ein Affront, der die Eifersucht in mir entfacht und mich dazu bringt, dir alles Böse auf der Welt zu wünschen. Es nährt das Böse in mir und erweckt den Wunsch, sie und dich zu töten. Diese Liebe, die ich nicht bekomme, hat mich zu dem gemacht, was ich bin.
Dennis nahm das Diktiergerät und zögerte. Was würde er dieses Mal zu hören bekommen? Hatte er seinen Vater doch noch umgebracht, ohne es bewusst erlebt zu haben?
Auch ohne physische Präsenz deiner Mutter kann sie in dir weiterleben. Auch wenn es nicht dasselbe ist, so kannst du ihr trotzdem all das sagen, was dir auf dem Herzen liegt, dazu brauchst du deine Sorgen nicht einmal laut auszusprechen.
Mit diesem plumpen Satz hatte der Psychologe versucht, ihm Trost zu spenden.
Dennis drückte auf »Play«. Zuerst kam ein Rauschen aus dem kleinen Lautsprecher. Das leise Summen der mechanischen Teile wirkte beruhigend, fast schon vertraut. »Hallo, Dennis«, sprach eine raue Stimme zu ihm. Dennis’ Herz machte einen Sprung und setzte für einen Schlag aus. »Bist du bereit zu erfahren, wie es sich damals tatsächlich zugetragen hat?« Dennis nickte unmerklich. Seine Finger verkrampften sich um das kleine rote Ding, in dem sich zwei Kassettenrädchen drehten. Unzählige Fragen rauschten durch seinen Kopf, doch er rief
sich resolut zur Konzentration und lauschte weiter. »Spürst du immer noch den kalten Kuss auf deiner Wange? Den letzten, endgültigen Kuss des Abschieds?«
Dennis berührte mit den Fingern sein Gesicht. »Sei still.« Er bewegte nur die Lippen. »Sei. Endlich. Still.«, murmelte er. Seine kalten Fingerkuppen flatterten die glühende Wange hoch und verharrten schließlich über einer bestimmten Stelle. Dicht an der Schläfe, da fing die Haut zu brennen an, wie damals, als seine Mutter ihn an sich gedrückt und ihm ins Ohr geflüstert hatte, dass das die Erlösung sei und die einzige Möglichkeit, dieser Hölle zu entkommen – für sie beide.
Dennis hörte der rauen Stimme weiter zu, obwohl er es nicht wollte. Mit den Worten kamen auch die längst vergessen geglaubten Erinnerungen zurück. Ein grelles Licht blendete ihn. Das gleißende Weiß nahm sein ganzes Umfeld ein, obwohl er von der trüben Dunkelheit umnachtet war, und flimmerte wie die Leinwand in einem Kinosaal, bevor der Film anfängt.
Der Duft nach nasser, morscher Erde kroch in seine Nase. Die Luft roch nach altem Papier, Schimmel und der unsäglichen Angst eines kleinen Jungen, der von seinem eigenen Vater im Keller eingesperrt worden war. Seine Mutter lag auf dem Boden. Sie atmete abgehackt in kurzen, heftigen Stößen. Er kroch auf Knien zu ihr und wischte ihr das schwarze Haar aus dem Gesicht, das wie Seetang auf ihrer Stirn klebte.
»Mein kleiner Engel«, flüsterte seine Mutter. Ihr Atem roch nach faulen Eiern. Dennis rieb sich die Augen. Feiner Staub flog in der Luft und kratzte in seinem Hals. Er hatte Durst, seine Lippen waren rissig geworden. Die Angst, die sein Herz höherschlagen ließ, war beinahe mit Händen greifbar, aber sie war zu feige, um sich fassen zu lassen. Das hatte seine Mama
stets zu ihm gesagt, wenn er sich davor gefürchtet hatte, allein einzuschlafen: »Die Angst ist ein Feigling und lässt sich deswegen nie fangen, daher sollst du dich von ihr auch nicht fangen lassen.«
»Ich habe Angst, Mama«, winselte er und legte sich neben seine Mutter auf die feuchte Erde. Eine der Wände glänzte nass. Ein schmales Rinnsal schlängelte sich durch das kleine Fenster hindurch und plätscherte leise über die raue Oberfläche.
»Ich kann den Regen draußen hören«, sagte seine Mama und fuhr ihm sachte über das nass geschwitzte Haar. »Dein Vater meint, es ist nicht immer so, wie es scheint.«
»Er hat dich geschlagen und dir den Zeh kaputt gemacht«, stotterte Dennis und sah auf den Fuß, der nur mit einem schmutzigen Lappen verbunden war. Schwarzes Blut färbte den bunten Stoff dunkel. »Wo ist dein Gott, Mutti? Wo ist er? Warum beschützt er uns nicht?«
»Wir sollen uns nicht anmaßen, die Entscheidungen des Herrn infrage zu stellen.«
»Das ist doch dumm!« In Dennis’ Hals wuchs der Zorn und drückte ihm die Kehle zu.
»Alles Unerklärliche erscheint für uns nicht richtig und nachvollziehbar, was nicht bedeutet, dass es falsch sein muss. Du musst mir heute bei etwas helfen, das uns beide befreien wird.«
Mit dem kindlichen Optimismus, diesem euphorischen Gefühl, das in Erwachsenen längst erloschen ist, und dem Glauben, dass bald alles besser sein würde, drückte er sich hoch, um seiner Mutter tief in die Augen schauen zu können, und lächelte sie abwartend an.
»Wirst du bald wieder gesund werden?«, fragte er sie hoffnungsvoll und blinzelte die Tränen weg, die sich anbahnten.
»Ja, ich werde bald keine Schmerzen mehr haben«, bestätigte sie mit gesenkter Stimme, um ihren Sohn zu beruhigen,
was ihr auch einigermaßen gelang. Dennis schöpfte neue Hoffnung und ließ den Tränen freie Bahn. Er wollte sie nicht zurückhalten, weil er sonst ersticken würde.
»Was muss ich tun, Mama?«
»Ganz tapfer sein. Irgendwann wirst du mich vielleicht verstehen und mir verzeihen können. Du warst doch bei diesem Seemannskurs für junge Piraten«, fuhr seine Mutter in demselben Ton fort, als läse sie ihm aus einem Buch vor.
Sein Gesicht war von Angst gezeichnet. Er fürchtete sich, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. »Ich war nur ein einziges Mal da, danach … also … weißt du noch?« Er stotterte und suchte nach Worten. »Wir hätten fünf Mark für Material mitbringen müssen …«
»Ich weiß, die habe ich dir doch gegeben, und fünfzig Pfennig für ein Eis«, flüsterte seine Mutter und berührte ihn an der Hand. Seine war eiskalt, ihre hingegen warm und weich.
»Ich habe das Geld für mich behalten.«
Die Hand seiner Mutter zuckte von ihm zurück, doch dann legten sich ihre Finger wieder auf sein Gesicht und fuhren ihm zärtlich mit dem Daumen über die Wange.
»Ich wollte einen Blumenstrauß für dich kaufen, zu deinem Geburtstag, doch dann habe ich mir ein T-Shirt gekauft und später behauptet, ich hätte es in der Schule bei einem Wettbewerb gewonnen.«
»Das blaue mit einem brennenden Basketball.«
»Der in der Luft explodiert«, hatte Dennis hinzugefügt.
»Kannst du trotzdem eine Schlaufe binden?«
»Ich denke schon, aber ich habe sie immer falsch herum geknotet«, gestand Dennis erleichtert.
»Das ist nicht wirklich wichtig. Da oben auf dem Schrank liegt ein Seil, siehst du es?«
Dennis strengte sich an und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Tatsächlich lag auf dem weiß lackierten Schrank, der
aus alten Brettern und Sperrholzplatten zusammengeschraubt war, ein Seil.
»Kommst du dran?«
»Ich versuch’s.« Fast schon euphorisch und von dem Gedanken beflügelt, dass Mama mit seiner Hilfe einen Ausbruch plante, sprang er auf die Füße und schlich sich zum Schrank. Er achtete sehr darauf, dabei keine Geräusche zu erzeugen. Die weiße Farbe roch immer noch stark nach frischem Lack. Dennis streckte den rechten Arm aus und biss sich auf die Lippen. Das lose Ende baumelte noch gute zwei Zentimeter über seinen Fingern. »Ich komm nicht ran.« Er klang dabei, als flehte er seine Mutter um Vergebung an, weil er sie aufs Neue enttäuscht hatte. Draußen vor der Tür erklangen dumpfe Schritte. Panik drohte den Jungen zu übermannen. Sein Herz wummerte wie ein Schmiedehammer, Blut stieg ihm in den Kopf und ließ alles um ihn herum schwarz werden.
»Dennis, komm schnell wieder zu mir.«
Dennis zögerte kurz und lief zu seiner Mutter. Er kauerte nun dicht neben ihrem warmen Oberkörper. Den Rücken an die Wand gepresst, mit angezogenen Beinen in der dunkelsten Ecke, starrte er auf die Tür. Bis auf den Schrank war der Keller seit dem Hochwasser leer, Dennis hatte seinem Vater beim Entrümpeln geholfen. Ein metallisches Schaben erfüllte die Dunkelheit und trieb eine kalte Welle unter Dennis’ Haut.
Die schwarze Silhouette eines Mannes tauchte in dem hellen Viereck auf, nachdem die Tür geöffnet war. Sein Vater schnaubte. »Morgen fahre ich dich ins Krankenhaus, bis dahin musst du dir eine plausible Erklärung ausgedacht haben, wie du den Zeh verloren hast«, brummte er und warf einen Topf auf den Boden. Etwas schwappte über den Rand. »Hier ist noch etwas von der Plörre, die du Suppe nennst. Und du, Bengel, kommst mit mir.«
»Nein«, japste Dennis wie ein mit einem schweren Stiefel getretener Köter.
»Wie du willst, dann bleibst du eben hier«, war alles, was sein Vater von sich gab, bevor er die Tür scheppernd ins Schloss fallen ließ.
»Du kannst den Topf nehmen«, flüsterte Mama. Dennis wusste sofort, was sie damit meinte. Er kippte die Brühe einfach auf den Boden und drehte den Topf um. Er platzierte ihn so, dass er mit Leichtigkeit das lose Ende des Seiles erreichen konnte. Er zog daran. Das Seil schlängelte sich und fiel in unregelmäßigen Schlaufen auf die feuchte Erde.
Dennis rüttelte auch an den Türen des Schrankes, aber sie blieben verschlossen und ließen sich auch nicht öffnen, als er mit beiden Händen am Türknauf zerrte.
»Lass gut sein, Dennis, mein Schatz. Mach einfach einen Knoten und binde das andere Ende an den Fenstergriff.« Dennis sah seine Mutter mit traurigen Augen an. Eine unschöne Vorahnung hatte von ihm Besitz ergriffen und ließ ihn trotz der Schwüle frösteln. »Die Schlaufe muss aber groß sein, damit zumindest mein Kopf hindurchpasst.«
»Mama, was hast du vor?«, wollte er wissen und fing an, das Seil um seinen linken Unterarm aufzurollen, wie er es gelernt hatte. Er wickelte es zwischen seinem Ellenbogen und der Hand auf, wobei er das Seil mit Daumen und Zeigefinger festhalten musste, weil es ungewöhnlich starr war und sich dauernd abwickelte, wenn er nicht aufpasste.
»Ich werde mich durch das Fenster davonstehlen und die Polizei rufen.« Ihre Stimme klang dabei traurig.
»Meinst du, du schaffst das? Du blutest immer noch.«
Dennis war mit dem Aufwickeln fertig und sah auf den Fuß seiner Mutter. Da, wo einmal ihr großer Zeh gewesen war, sickerte ständig mehr von der roten Flüssigkeit durch den Stoff und füllte die kleine Mulde im Boden mit frischem Blut.
»Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Ich werde mich einfach hochziehen. Ich werde auch das Fenster so weit aufbekommen, dass ich mich hindurchzwängen kann. Ich habe ja nicht viel Fleisch auf den Rippen.«
»Ich kann das auch tun«, sagte Dennis schnell und ließ das Seil los, das sich wie eine verletzte Schlange auf dem Boden zu winden begann und nach einem kurzen Augenblick erschlaffte.
»Nein, du wirst deinen Vater ablenken müssen, er darf davon nichts mitbekommen. Abgemacht?«
Dennis rieb die Zähne aneinander. Er befürchtete, dass seine Mutter nicht ganz die Wahrheit sprach. »In der Schule sagen die Kinder, dass Papa uns hasst. Und dass du ein Kuckuckskind hast. Stimmt das, Mama?«
»Du darfst auf so ein blödes Geschwätz nichts geben. Das, was die anderen über dich in die Welt setzen, kann dir egal sein. Dein richtiger Papa und ich haben uns nicht mehr lieb. Dein Stiefpapa war früher auch ganz anders. Wir werden bald ganz ohne die beiden leben. Hör nicht auf die Kinder. Das sind einfach nur böse Zungen. Dein Papa hasst uns nicht, er weiß nur nicht, wie er seine Liebe äußern soll. Er will, dass aus dir später ein guter Junge wird. Aber du bist ohne ihn besser dran. Du bist ein sehr liebes Kind. Aus dir wird ein guter Junge werden, ganz ohne die Einwirkung eines Vaters.«
»Aber ich bin jetzt schon ein guter Junge«, widersprach Dennis mit kindlichem Trotz und stülpte seine Unterlippe nach außen.
»Ich weiß«, beschwichtigte ihn seine Mutter und richtete sich mit schmerzverzerrter Miene auf. Sie zerrte ihren geschwächten Körper bis ans Fenster und drückte ihren Rücken gegen den grauen Hintergrund. Das Mauerwerk war nach wie vor feucht, doch der Regen hatte aufgehört, sodass das kleine Rinnsal versickert war.
»Komm, lass uns die Sache schnell hinter uns bringen.«
Dennis schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust.
Seine Mama quittierte dies mit einem flüchtigen Lächeln. »Wenn du weiterhin so bockig bist, werden wir hier noch bis morgen sitzen. Ich habe Hunger …«
»Wenn Papa uns liebt, warum willst du dann die Polizei rufen?«, fragte er. Zum ersten Mal redete er mit seiner Mutter in diesem barschen Ton.
»Damit sie ihm alle seine Flaschen wegnehmen können. Er ist ja nicht von Grund auf böse.«
Dennis fühlte sich klein und verloren, auch widerstrebte es ihm, den Aufforderungen Folge zu leisten, weil das, was Mama sagte, nicht wirklich einen Sinn ergab. Aber er gab nach, weil er es gewohnt war, auf sie zu hören.
»Aber wenn die Polizei ihm die Flaschen wegnimmt, soll sie auch den Gürtel mitnehmen. Ich möchte nicht mehr damit geschlagen werden. Und auch das Kabel sollen sie ihm wegnehmen. Wir werden umziehen, wir beide werden zusammenleben, Papa bleibt hier allein, wir beide, nur du und ich. Versprochen?«
»Versprochen«, bestätigte seine Mutter. Ihre Stimme klang zunehmend leiser, als wäre sie sehr krank und hätte hohes Fieber – wie damals, als Papa sie im Winter drei Nächte lang in der Scheune hatte schlafen lassen. Das Haus hatte er von seinem Vater geerbt. Opa war Bauer gewesen. Gleich nachdem Opa gestorben war, kam die Oma in ein Altersheim und die Kühe zum Schlachter. Das hatte ihm seine Mama erzählt, noch in derselben Nacht, in der er die Oma zuletzt lebend gesehen hatte.
»Beeil dich, mein Junge«, holte ihn seine Mutter in die Gegenwart zurück und berührte ihn mit den Fingern an der Wange. Dennis entging nicht, wie seine Mutter am ganzen Körper erschauerte.
Dennis griff nach dem Seil und machte zuerst einen Knoten, anschließend zog er das Seil hindurch, bis er eine Schlaufe hatte, und band einen weiteren Knoten. Auf wackeligen Beinen ging er zum Fenster und merkte, dass er zu klein war. Er kehrte um und schnappte nach dem Topf. Auf Zehenspitzen stand er auf dem glatten, metallischen Boden und band das Seil am Griff fest.
»Etwas höher, die Schlaufe muss etwas höher sein«, hörte er die Stimme seiner Mutter.
Er tat, wie ihm geheißen.
»Jetzt hilf mir auf die Beine und gib mir den Strick in die Hand.«
Seine Mama war schwer. Obwohl sie so dünn war, musste Dennis all seine Kraft aufbringen, um nicht loszulassen. Ihre kalten Finger drückten schmerzhaft seine Hände aneinander, doch statt aufzuschreien, biss er die Zähne zusammen. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinab.
»Geschafft«, war alles, was seine Mutter hervorbrachte, während sie sich an der Schlaufe festhielt und wankte. »Jetzt gehst du an die Tür und klopfst so laut, dass dein Papa dich hören kann. Dann gehst du mit ihm hoch. Du musst ihn um Verzeihung bitten und gleichzeitig darauf achten, dass er mich nicht sehen kann. Hast du alles verstanden?« Ihre Lippen berührten ihn an der Wange. Hastig strich sie ihm zärtlich über das Haar. »Nun geh, mein Sohn«, waren ihre letzten Worte.
Dennis tat alles so, wie es ihm seine Mama aufgetragen hatte.
Am nächsten Tag verprügelte ihn sein Vater zuerst mit dem Gürtel, danach mit dem Kabel. Danach packte er Dennis völlig erschöpft und außer Atem an den Beinen und schleifte ihn in den Keller. Bei jeder Stufe schlug sein Kopf hart gegen den Stein der steilen Treppe, die nach unten führte. Sein Vater zog ihn dorthin, wo seine Mutter sitzend ins Leere starrte. Ihr Mund
war zu einem stummen Schrei aufgerissen. Die Zunge hing schlaff heraus wie ein Stück Fleisch, blau und aufgedunsen.
Dennis hatte sich bei ihrem Anblick in die Hose gemacht und sich mehrmals übergeben. In seinem Kopf summte alles. »Sieh, was du angerichtet hast!«, schrie ihn sein Vater an und schleifte ihn näher an seine tote Mutter heran. Doch Dennis verstand nur Fetzen und merkte nicht, wie ihm sein Vater ein Büschel Haare herausriss.
Später, nachdem die Sonne wieder verschwunden war, musste Dennis seinem Vater dabei helfen, den toten Körper, der steif wie eine Schaufensterpuppe geworden war, in den Kofferraum zu legen. Sie fuhren in den Wald und hängten sie dort an einem Baum auf. An dem Strick, der immer noch lose um ihren Hals hing.
»Du hast deine Mutter umgebracht, Bengel. Aber die Polizei sollte glauben, dass das mein Werk war. Denn das war der perfide Plan deiner Mutter. Sie wollte sich für dein Glück opfern und mich für meine Vergehen büßen lassen. Aber nicht mit mir, Junge. Die Polizei wird nun von einem Selbstmord ausgehen«, knurrte sein Vater und wickelte den blutdurchtränkten Stofffetzen von ihrem nackten Fuß ab. »Ich habe an alles gedacht«, grummelte sein Vater und lief zurück zum Wagen. »Erkennst du diesen Schädel?«, wollte er von Dennis wissen, nachdem er zurückgekommen war. Sein Gesicht wurde zu einer Fratze, die von zwei gelben Lichtkegeln erleuchtet wurde. Der alte Fiat stand mit laufendem Motor da und tauchte den Schauplatz in ein zuckendes Gelb.
»Ich habe dem Köter, der hier dauernd herumgestreunt ist, das Fell abgezogen und seinen Schädel an die Wand gehängt, als Erinnerung an die schöne Zeit.«
Dennis bepinkelte sich erneut. »Papa, lass uns bitte gehen«, stammelte er mit weinerlicher Stimme.
Sein Vater feixte boshaft und stapfte auf seine tote Mutter zu. Er kniete nieder und hielt den verletzten Fuß ins Maul des Tierschädels, der mit mehreren Drähten fixiert war und sich bewegen ließ. »Es scheint ihm zu schmecken«, höhnte sein Vater und ließ die scharfen Zähne aufeinanderschlagen. »Dein Streuner kann sich nicht satt fressen.« Abgehacktes Gelächter hallte durch die Dunkelheit und scheuchte Tiere auf. Hier und da vernahm Dennis das Schlagen von Flügeln. Er sah auch, wie sein Vater die Zähne des toten Hundes in die Wade seiner Mutter trieb.
Doch aus den vier kleinen Löchern in der weißen Haut rann kein Blut mehr.
»Das müsste genügen«, murmelte sein Vater. Hastig packte er zusammen und ließ seine Mutter am Baum hängen.
»Komm, ich werde dir etwas erzählen, das du dir gut merken musst. Die Polizei wird dir viele Fragen stellen, auf die du so antworten wirst, wie ich dir das beibringe. Deine Mutter war psychisch labil, kannst du dir das merken?«
Dennis rührte sich nicht vom Fleck und hörte seinem Vater nicht zu. Er war erzürnt und hasste seine Mutter dafür, dass sie ihn angelogen und ihn mit seinem Vater allein gelassen hatte.
Du bist nicht allein, Dennis,
tauchte eine tiefe Stimme in seinem Kopf auf.
Ich bin bei dir.
Schweißgebadet legte Dennis das Diktiergerät neben die Blätter und lief schnellen Schrittes zur Spüle. In seinem Hals stieg die Kotze hoch. Nach einem erstickten Gurgeln schoss ein glibberiger brauner Schwall aus seinem Mund heraus und verätzte ihm die Speiseröhre.
Er ließ das Wasser laufen und kotzte so lange, bis nichts als gelbe Galle an seinen Lippen hing. Danach hielt er seinen Kopf unter den kühlen Strahl und weinte stumm.
Die Reste seines Mageninhaltes sammelte er mit einem löchrigen Waschlappen ein und schleuderte alles in den Mülleimer. Aus einem für ihn unerklärlichen Grund wollte er den Schein wahren, dass er die Situation immer noch im Griff hatte. Er wollte seinen Rückzugsort nicht verwahrlosen lassen.
Bevor ich schlafen gehe, werde ich noch schnell staubsaugen
, sagte er zu sich selbst und lief hoch in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Beim Vorbeilaufen warf er einen kurzen Blick ins Badezimmer. Auch hier herrschte eine akzeptable Ordnung. Nur der Spiegel hatte noch milchige Schlieren, aber das störte ihn nicht wirklich.
Ein Schnarchen brachte die Luft zum Vibrieren. Sein Vater schlief in einem sauberen Bett. Im Keller vernahm er das tiefe Brummen der Waschmaschine, die in den Schleudergang geschaltet hatte.
Das Video!
, schrie er beinahe, stürzte nach unten und griff nach dem Telefon.
Es dauert immer eine Ewigkeit, bis das blöde Ding hochgefahren ist
, schimpfte Dennis in sich hinein und tippte schnell die PIN ein. Nach einer weiteren Ewigkeit konnte er endlich die Wiedergabe starten. Zuerst sah er, wie er sich entfernte, dann kam nichts mehr. Das Bild zeigte das leere Zimmer mit Blick in den Flur. Nach ungefähr zehn Minuten tauchte er wieder auf, doch nun trug er ein Kleid und war geschminkt. Auch sprach er mit der affektierten Stimme einer Frau. Dennis runzelte die Stirn und verzog den Mund, als hätte er etwas Abscheuliches erblickt.
»Wie sieht es denn hier aus?«, hörte er die hohe Stimme seines anderen Ichs, die von dem kleinen Lautsprecher verzerrt wurde und einen mechanischen Beiklang bekam. Sein als Frau verkleidetes Ich bewegte sich wie diese Schauspieler aus den
billigen amerikanischen Serien. Auch ihre aufgebrachte Stimme klang gekünstelt.
»
Was ist das?
«
, flüsterte Dennis erschrocken und hob das Handy an die Augen. Nun kam die vermeintliche Frau näher. Gedankenverloren betastete er seinen Kopf, als wollte er sich vergewissern, dass sein Haar nicht so gelockt war wie das der Frau.
Das ist das Gegenteil von Metamorphose
, scherzte er im Stillen und verzog angewidert den Mund.
Ich habe mir Locken gedreht?
, war sein erster Gedanke.
Du trägst ja auch ein Kleid,
verhöhnte er sich selbst und starrte auf das Kleid, das jetzt auf dem Boden lag.
Ich bin es tatsächlich
, überlegte er weiter. Eine unangenehme Gänsehaut, die über seine Arme bis in den Nacken hinaufkroch, ließ ihn erschauern.
Ich bin verrückt, mein Vater hatte recht
.
Ich bin das Böse. Ich habe meine Mama umgebracht.
Erneut sehnte er sich nach ihrer Nähe. Er wollte wieder bei ihr sein. Wie damals im Keller wollte er sich an ihren warmen Körper schmiegen. Dabei musste er unentwegt an die Polizistin denken, die er kürzlich in einer Zeitung gesehen hatte. Sie und zwei weitere Typen waren heimlich fotografiert worden. Der eine war grauhaarig, der andere hatte schwarzes Haar. Aber die Kerle waren nicht von Belang, nur diese Frau, die wollte er unbedingt haben. Sie war sein nächstes Ziel, sie würde er ausfindig machen, studieren, verfolgen und dann im Keller einsperren, damit er nicht komplett durchdrehte. Sein Handy klingelte und ließ sein steifes Glied wieder erschlaffen. Er wischte das Video weg und ging dran.