KAPITEL
20
»Wäre Ihnen dieser Tisch genehm?«, fragte der junge Kellner. Sein kanariengelbes Haar passte zu dem grellgelben Tunnelschmuck, der in seinen Ohren die dünne Haut der Ohrläppchen beinahe sprengte. Auf den flachen Plättchen stand von links nach rechts in schwarzen Buchstaben geschrieben: Hier rein, da raus.
Die Pfeile verdeutlichten die Richtung.
»Nein, wäre mir nicht, da sitzen schon zwei Leute«, knurrte Leonhard.
»Wenn Sie mit Ihrer Lady ungestört …«
»Sie ist nicht meine Lady, und nehmen Sie die Hand da weg«, blaffte Leonhard in gedämpftem und dennoch sehr einschüchterndem Ton.
Der junge Kellner zog seine manikürte Hand von Leonhards Oberarm weg und schürzte die Lippen zu einer Schnute. »Wie Sie wünschen, aber wir haben sonst keine Plätze …«
»Hey, ihr zwei!«, dröhnte eine Männerstimme durch das Getöse unzähliger Kehlen, die lauthals miteinander diskutierten, ob die Gelbe Karte eine richtige Entscheidung des Schiedsrichters gewesen war oder nicht. Es war Tom. Er wedelte wild mit den Armen und schlug sogar aus Versehen einem der angeheiterten Männer ins Gesicht. Doch der Mann war so betrunken, dass er dies gar nicht wahrnahm. Er plumpste
einfach zurück auf seinen Stuhl und schrie: »Wo bleibt mein Bier, verdammte Hacke?«
Der Kellner wandte sich zu Ella um. »Sie scheinen den Herrn zu kennen?«
Ella nickte.
»Dann da lang«, sagte er und zeigte mit knapper Geste zu Tom, der lachend dastand und sie zu sich herwinkte. »Wir haben noch zwei Plätze frei«, schrie er weiter und stieß einen älteren Herrn vom Hocker. Dieser wollte auffahren, doch dann entschied er sich anders und torkelte Richtung Toilette.
Der Kellner lächelte erleichtert auf. »Ich bin gleich bei Ihnen«, murmelte er und machte, dass er hinter der Theke verschwand.
»Musste es unbedingt eine Sportsbar sein?«, rief Ella ihrem Kollegen zu, der vor ihr eine Schneise durch die Menschen schnitt. Wie ein Eisbrecher rammte er alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Wäre Tom nicht gewesen, hätte sie das Lokal sofort verlassen, wusste Leonhard. Aber er hatte vorhin mit ihm telefoniert, und Tom hatte ihn darum gebeten, dieses Treffen zu arrangieren. So etwas wie Eifersucht flammte in seiner Brust auf, doch er ignorierte dieses Kribbeln und griff sofort nach Toms Bierglas, sobald sie den kleinen Tisch erreicht hatten. Er hob es an die Lippen und trank gierig.
»Das ist schön, dass wir uns endlich mal außerhalb des Dezernats treffen«, freute sich Tom und küsste Ella auf beide Wangen.
»Hi, wir haben schon auf euch gewartet.« Auch Renate umarmte Ella herzlich und küsste sie wie Tom zuvor auf beide Wangen.
»Gewartet?«, echote Ella und sah vorwurfsvoll zu Leonhard. Dieser trank noch und starrte auf den Schaum, der immer weniger wurde.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?« Das freundliche Lächeln auf Renates Mund erstarrte, die Mundwinkel zuckten und rutschten nach unten.
»Ich wollte unbedingt das Spiel zu Ende schauen.« Leonhard stellte das leere Glas auf den Tisch. »Ich habe mich mit Tom hier verabredet, und weil meine Partnerin nichts trinkt, dachte ich, ich könnte mir ein Taxi sparen.« Das war nicht unbedingt die Wahrheit, aber er konnte ja schlecht seinen guten Kollegen jetzt in die Pfanne hauen, nur weil Renate ihren Mund nicht halten konnte.
Im Augenwinkel registrierte er, wie der Rechtsmediziner erleichtert ausatmete. »Das Bier geht auf mich«, sagte er und winkte einen der Kellner zu sich.
»Mir auch eins«, rief Ella Tom zu. Ihre Miene verriet, dass sie angefressen war. »Ich nehme gleich einen halben Liter«, fügte sie hinzu.
Tom schenkte ihr ein Lächeln und bestellte für jeden das Gewünschte.
»Greenwood, Sie sehen unglücklich aus. Wollen Sie gehen?«
Ella blinzelte nur.
»Okay, Greenwood, dann fahren wir eben heute schon zu dem Kerl, dem Sie morgen einen Besuch abstatten wollten«, brummte Leonhard und traute seinen Ohren nicht.
Tom sah ihn vorwurfsvoll an. »Seid ihr euch da ganz sicher?«
Nein, Leonhard war sich nicht sicher, warum er das gesagt hatte, auch dieses Ziehen nah am Herzen war ihm fremd. Hatte er sich tatsächlich in Ella verguckt?
Blödsinn, pubertierender Kinderkram
, antwortete er sich selbst,
hab mir bestimmt nur was gezerrt.
»Ich fahre mit euch, muss morgen früh los«, schrie Renate in die Stille hinein und erntete dafür ungläubige Blicke. »Ich bin übrigens Renate. Da wir hier nicht auf der Arbeit sind,
können wir uns vielleicht duzen?« Sie lächelte und streckte Ella die Hand hin.
Ella nahm das Angebot dankend an.
»Tatsächlich, es gibt einen Elfmeter«, ertönte die Stimme des Kommentators, die sofort von Pfeif- und Brülltönen der Gäste überlagert wurde.
»Also los, lasst uns fahren!« Leonhard stand auf und bahnte sich einen Weg Richtung Tür, ohne sich umzuschauen.
»Dann geht doch!«, schrie Tom ihm nach.
Leonhard drehte sich nicht um. Während er durch die Tür trat, brach die Menge in Jubelgeschrei aus.
»TOR! TOR! TOR!«, grölte der Kommentator.
Leonhard achtete nicht darauf, auch hielt er den beiden Frauen nicht die Tür auf. Er marschierte einfach zu seinem Wagen.
»Bei wem soll ich mitfahren?« Renate guckte Ella und Leonhard abwechselnd an.
Ella überließ diese Entscheidung ihrem Partner, der ungewöhnlich ruhig war.
»BMW oder Porsche?«, murmelte Leonhard und sah Renate abwartend an. Sein Blick war nicht mehr so lauernd wie sonst.
»Hmm«, machte Renate.
»Wenn du willst, kannst du meinen Wagen fahren, ich setze mich im BMW ans Steuer. Mein Kollege hat heute etwas zu viel getrunken. Ich kann die anderen Verkehrsteilnehmer nicht der unnötigen Gefahr aussetzen, von einem angetrunkenen Kommissar in einen Unfall verwickelt zu werden, um danach von ihm angeschrien und verhaftet zu werden.«
»Weiteren Unsinn dieser Art werde ich nicht dulden, sonst werde ich dafür Sorge tragen, dass man Sie versetzt«, grummelte Leonhard, händigte jedoch bereitwillig seine Schlüssel aus.
»Ich fahre euch beiden hinterher.« Renate fing den Schlüssel in der Luft auf, den Ella ihr zugeworfen hatte, und lief mit kleinen, tippelnden Schritten zum Sportwagen. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen und einen teuren Hosenanzug, der ihre beinahe perfekte Figur an den richtigen Stellen hervorragend betonte, wie Ella mit einem Deut von Neid feststellte.
Ein kurzes Hupen riss sie aus den Gedanken. Ella betätigte die Lichthupe und spielte mit dem Gaspedal. Der fünfhundert PS starke Motor grölte auf. Ella legte den ersten Gang ein und fuhr aus der Parklücke. Leonhard schien bereits eingeschlafen zu sein. Ella war es recht. Da sie den Weg kannte, brauchte sie kein Navi, auch hatte sie keine Lust auf Musik. Alles, was sie benötigte, war Ruhe. Sie warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Renate folgte ihr dichtauf.
»Also, dann mal los«, flüsterte Ella und lenkte den Wagen auf die Straße.