KAPITEL 21
Die fragmentarische Abfolge von Bildern aus seiner Kindheit riss plötzlich ab. Die Türklingel klang ungewöhnlich laut in der erdrückenden Stille. Im Schlafzimmer rief sein Vater mit schlaftrunkener Stimme seinen Namen. »Dennis, Dennis, ich habe Durst!«
Wer mag das bloß sein , wunderte er sich. Ein Blick auf die Küchenuhr verriet ihm, dass es kurz nach achtzehn Uhr war. »Die Pflegerin wollte erst morgen wieder vorbeischauen«, sprach er mit sich selbst und begab sich auf nackten Füßen zur Tür.
Er hatte sich inzwischen wieder angezogen und alles, was ihn verraten könnte, aufgeräumt.
Dennis vernahm Stimmen von mehreren Personen. Waren das etwa welche, die ihre Heftchen verteilten und über Gott und die Welt sprechen wollten? Dafür waren die Frauen aber zu freizügig angezogen. Er spähte weiter durch den Spion. Es waren ein Mann und zwei Frauen. Eine davon kannte er mehr als gut. Ein heißer Stich durchfuhr seine Brust. Sein Penis wurde hart, weil er daran denken musste, was er alles mit der Frau anstellen wollte.
Ja, sie ist es. Mit ihr werde ich noch viel Spaß haben , dachte er und öffnete die Tür. Sein erigiertes Glied verbarg sich hinter einem weiten T-Shirt, das ihm fast bis an die Knie reichte. Oversized ist jetzt schwer in Mode , lächelte Dennis. Bei diesem zweideutigen Gedanken musste er grinsen. Seine Männlichkeit entsprach nämlich auch nicht dem üblichen Standard und brachte so manche Frau um den Verstand, wenn er in sie eindrang.
Er öffnete die Tür. »Guten Abend, womit kann ich Ihnen dienen?«, gab er sich höflich, ohne die Herrschaften hereinzulassen. Er wollte die Situation zuerst abschätzen.
»Kriminalpolizei Berlin, Kommissar Stegmayer«, meldete sich der Mann als Erster zu Wort und hielt Dennis seinen Ausweis vors Gesicht.
»Als ob ich einen gefälschten von einem richtigen unterscheiden könnte«, gab Dennis sich entspannt und fuhr sich mit der Zunge unter die Oberlippe.
»Entweder Sie glauben uns, dass wir richtige Polizisten sind, oder wir kommen morgen mit einem Durchsuchungsbeschluss und einer Vorladung ins Präsidium zurück. Natürlich lassen wir Sie dann von richtigen Polizisten in Uniform und einem Polizeiwagen abholen, damit auch jeder hier in der Ortschaft weiß, dass wir hier waren, um Sie mitzunehmen.« Der grauhaarige Bulle grinste dämlich.
Dennis verzog das Gesicht und wirkte nicht mehr so aufmüpfig. Der Grauhaarbulle sah konsterniert auf ihn herab, als die vom Krebs geschwächte Stimme seines Vaters erneut seinen Namen rief. »Dennis, du verdammter Hurensohn, ich verrecke gleich, wenn du mir nichts zum Trinken bringst.«
»Ist das etwa Ihr Vater?«, fragte die Polizistin mit bestürzter Stimme.
»Ja. Und wer sind Sie, bitte schön?«
»Mein Name ist Ella Greenwood, ich bin Kommissarin der Mordkommission Berlin.«
»Aha, und ich dachte schon, Sie wären seine Mätresse«, gab er sich giftig und beäugte die andere.
Ella ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sie haben einen Zwillingsbruder, stimmt doch, oder?«
Diese Ella roch nach Sünde. Sie trug einen Rock und eine Bluse, bei der der oberste Knopf offen war. Aber die andere, die die ganze Zeit sanftmütig lächelte, fand er auch sehr attraktiv.
»Sie haben doch einen Zwillingsbruder?«, wiederholte die Kommissarin ihre Frage mit etwas mehr Nachdruck. Ihr Lächeln verblasste allmählich, auch die feinen Fältchen um ihre Augen waren verschwunden.
»Ja, ist es etwa ein Verbrechen, einen Bruder zu haben?«
In ihm wuchs die Einsicht, dass es sein Zwillingsbruder war, der sein beschissenes Leben nur dem einen Augenblick zu verdanken hatte, in dem die Münze mit der falschen Seite auf den Boden gefallen war, bevor sie voneinander getrennt wurden. Diese Erkenntnis wurde zu einem Geschwür, das ihn innerlich zerfraß.
»Nein, natürlich nicht. Können wir darüber nicht vor der Tür diskutieren, sondern da, wo uns nicht unbedingt jeder hören und sehen kann?« Der Kommissar deutete mit seinem kantigen Kinn über Dennis’ Schulter ins Innere des Hauses.
»Ich war auf dem Sprung und wollte eigentlich einkaufen gehen«, log Dennis und war dabei, die Tür hinter sich zu schließen. »Ich wohne hier nicht mehr«, fügte er hinzu und spürte den Widerstand, denn der Bulle streckte seinen Arm aus und drückte die Tür wieder auf. Er ist in seiner Eitelkeit gekränkt , dachte Dennis und fühlte sich gut dabei.
»Ich kann Ihnen gern vor Augen führen, was Sie in naher Zukunft erwarten wird, falls Sie gedenken, sich weiter in Lügengeschichten zu verstricken. Es liegt an Ihnen, wie Sie Ihr Leben gestalten möchten. Schwedische Gardinen haben immer dasselbe Muster. Stehen Sie auf Streifen?« Er ließ seine weißen Zähne aufblitzen. Er spielt hier den Macker, und das gelingt ihm ziemlich gut , musste Dennis sich seine Niederlage eingestehen. Er war diesem Mann nicht gewachsen, zudem war das Arschloch auch noch ein Bulle und stark wie ein Bär.
»Okay, das mit dem Einkauf kann warten. Aber ich lüge nicht. In der Küche liegt sogar die Einkaufsliste, die ich beinahe vergessen hätte, weil Sie ohne jegliche Anmeldung hier reingeplatzt sind.«
»Das tut uns aber leid«, zog ihn der Bulle weiter auf und trat ein.
»Ich werde mich zu einem Gespräch bereit erklären, aber nur unter einer Bedingung«, sagte Dennis um Fassung ringend.
»Und die wäre?« Der Polizist fixierte ihn mit unergründlicher Miene, im nächsten Moment ließ er seinen Blick durch den großen Flur schweifen.
»Ich rede nur mit den Frauen, nicht mit Ihnen. Ich bitte Sie, mein Haus zu verlassen, ansonsten sehe ich mich gezwungen, die richtige Polizei zu rufen.«
»Das wage ich zu bezweifeln«, fuhr ihm der Mann ins Wort, überzeugt, dass er hier immer noch den Großen spielen konnte.
»Das hier ist nicht Ihr Revier, also brauchen Sie es auch nicht zu markieren.« Dennis klang entschieden. »Ich weiß, die große Suche nach dem Unbekannten und der Drang, eure Sache zu Ende zu bringen, beherrscht euren Alltag, der Druck ist enorm und die Verantwortung ist nicht in Worte zu fassen … bla, bla, bla«, schwafelte Dennis und verdeutlichte mit seiner Hand, was er von alledem hielt. »Ich spiele aber nicht dabei mit. Ich werde nur das erzählen, was ich weiß, ohne etwas hineinzuinterpretieren. Die Fragen sollen auch gewählt sein, alles über mein Leben werde ich nicht preisgeben.«
»Okay«, knickte der Kommissar ein, hob die Hände und verlangte von der Kommissarin seine Schlüssel.
»Sie haben sich noch gar nicht vorgestellt«, sprach Dennis die zweite Frau an. Den eingeschnappten Bullen ignorierte er ganz. Der Kampf war ausgefochten, er ging als Sieger daraus hervor.
»Mein Name ist Leinenhut.«
Dennis hob die Augenbrauen. »Frau Leinenhut, soso. Sind Sie auch eine Kommissarin von der Mordkommission?«
»Mein Spezialgebiet sind Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht mehr aktiv am Leben teilnehmen und nicht sonderlich vital sind.«
»Sehr interessant. Kommen Sie doch rein. Ich weiß zwar nicht, womit ich Ihnen dienlich sein kann«, jetzt lag sein Augenmerk wieder auf Ella, »aber ich werde mich bemühen.« Dennis fand die Polizistin anziehend und sympathisch, aber auch ihre Kollegin war eine Augenweide. Er war zwiegespalten.