KAPITEL
25
Ella stand an der Tür, Leonhard bezog dicht hinter ihr Stellung. »Wir haben mindestens einen Mord und einen möglichen Selbstmord und nach wie vor keinen Mörder, sprich, wir benötigen auf jeden Fall eine richterliche Vorladung. Doch zuerst müssen wir herausfinden, wen wir überhaupt vorladen wollen«, sprach er in gedämpftem Ton.
»Das ist mir klar, aber wenn dieser Luis doch etwas damit zu tun hat?«
»Wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Sein Bruder macht auch nicht gerade einen vertrauenswürdigen Eindruck.«
Ein leises Kratzen im Türschloss brachte die beiden Polizisten zum Schweigen.
»Kommen Sie bitte rein«, begrüßte sie Frau Siebert. »Mein Mann duscht gerade, er kam erst spät in der Nacht nach Hause und ist vor Erschöpfung auf dem Sofa eingeschlafen. Und entschuldigen Sie die Unordnung, aber ich komme nicht wirklich rum.«
»Das macht nichts, bei mir zu Hause sieht es noch schlimmer aus, selbst dann, wenn ich aufgeräumt habe«, tat Leonhard sein Bestes.
Ella glaubte, dass er log, so piekfein, wie er stets angezogen war. Mit diesem Gedanken folgte sie der Frau und ihrem
Kollegen, der erneut die Führung übernahm, obwohl sie noch kurz zuvor darüber gesprochen hatten, dass sie das Gespräch leiten sollte.
Steven hockte auf dem Sofa, vertieft in sein Tablet, das Gesicht vom gelben Licht erhellt. Er war mit übergroßen Kopfhörern auch akustisch von der Welt abgeschirmt und nahm um sich herum nichts mehr wahr. Als ihn seine Mutter jedoch sanft an die Schulter tippte, hob er den Kopf. Wie ein aufgescheuchter Vogel, die Augen weit aufgerissen, schnell blinzelnd, starrte er zuerst Leonhard, dann Ella an. Mit einer hastigen Bewegung riss er sich die Kopfhörer vom Kopf und sprang mit ausgestrecktem Arm vom Sofa, die Hand zum Händedruck bereit.
»Zuerst die Dame«, ermahnte ihn seine Mutter in einem sanften, dennoch leicht tadelnden Ton. Der Junge korrigierte im Gehen die Richtung und hielt Ella seine kleine Hand hin. Sie fühlte sich warm und weich an. »Du heißt Steven, nicht wahr? Wir haben uns schon mal gesehen, kannst du dich noch an mich erinnern?« Ella ging leicht in die Knie.
»Ja«, flüsterte der Junge und senkte schüchtern den Blick.
»Wie alt bist du, Steven?«
»Acht.«
»Echt? Ich hätte dich auf zehn geschätzt«, wunderte sich Ella und berührte freundschaftlich seine Schulter.
Ein stolzes Lächeln kroch über Stevens Lippen. Sein blondes Haar war feucht, er roch nach Shampoo und einem Herrenparfüm.
Ella ließ seine Hand los und rieb sich unmerklich die Hand an ihrer Hose trocken. Der Junge schwitzte vor Aufregung.
»Müsstest du nicht in der Schule sein, Steven?«, wollte Leonhard wissen und klatschte den Jungen mit einem High five ab.
»Nö, wir haben heute frei. Lehrerkonferenz.«
»Aha, dann hast du heute also den ganzen Tag lang Zeit zum Ballern?«
Steven hob irritiert die Augenbrauen und suchte bei seiner Mutter nach Unterstützung. Sein Blick war besorgt, als fühlte er sich gerade in die Ecke gedrängt.
Leonhard hüstelte verlegen. Auch die Mutter wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Mein Junge spielt so was nicht. Wir sind ein friedliches Volk«, ertönte eine klare männliche Stimme. Ella und ihr Kollege schauten zur Tür. Herr Siebert kam herein und rubbelte sich mit einem grauen Handtuch, das früher einmal weiß gewesen war, die Haare trocken. Er trug nur eine schwarze Jogginghose. Ella sah verwundert auf den durchtrainierten Oberkörper. Er hatte nicht übermäßig viel Muskelmasse, aber er war einer dieser Typen, die viel stärker waren, als sie den Anschein erweckten.
»Treiben Sie viel Sport?«, rutschte es ihr heraus.
Der Mann warf das Handtuch auf den Couchtisch und rieb sich die Wange, als wollte er prüfen, ob sie auch glatt genug war. »Ich bin von Natur aus so«, sagte er schlicht und legte seinem Sohn schützend die Hand auf die Schulter. »Nun geh in dein Zimmer. Du hast noch zehn Minuten für den Film, danach machst du deine Aufgaben.«
»Aber ich habe doch heute keine Schule«, säuselte der Junge.
»Ohne Fleiß kein Preis. Nur wenn du Einser mitbringst, und nur dann, musst du keine Extra-Aufgaben machen. Danach gehen wir zum, hm, du weißt schon.« Luis zwinkerte seinem Sohn kumpelhaft zu.
Ein freudiges Strahlen erhellte das Gesicht des Kindes. »Okay«, stimmte er schnell zu und lief aus dem Wohnzimmer in den Flur. Kurz darauf klackte eine Tür, die leise ins Schloss fiel.
»Ich habe Ihr Kommen nicht gehört, sonst hätte ich mich noch schnell umgezogen, ich dachte nicht, dass Sie so schnell da sein werden.«
Er wirkte heute ganz anders, fiel Ella auf, doch sie behielt ihren neutralen Gesichtsausdruck bei.
Auch Leonhard blieb regungslos vor einem Fenster stehen und warf einen kurzen Blick nach draußen. Mit zwei Fingern schob er den zerknitterten Vorhang beiseite und sah etwas länger hinaus. Der gelbe Stoff raschelte in der entstandenen Stille, weil niemand etwas äußerte. Nur das leise Rauschen vorbeifahrender Autos war zu hören.
»Wie oft sehen Sie Ihren Bruder?« Leonhard bewegte seinen Kopf langsam nach rechts, dann nach links. »Hat er Sie schon mal besucht?« Erst jetzt drehte er sich um und taxierte den Mann mit einem fragenden Blick. Noch bevor Luis zu einer Antwort ansetzen konnte, schob Ellas Partner eine andere Frage nach: »Wir haben unten geparkt. Der Stellplatz hat dieselbe Nummer wie Ihre Wohnung, ich hab extra darauf geachtet. Haben Sie kein Auto?«
»Doch. Wir vermieten den Parkplatz weiter. Aber bitte schicken Sie mir deswegen keinen auf den Hals. Wir haben das nirgends angemeldet, aber wegen dreißig Euro im Monat kann ich doch nicht belangt werden, oder?«
»Nein, wir sind ja auch nicht vom Ordnungsamt.«
»Für dieses Geld kann ich meinem Sohn Bücher kaufen und etwas, das wir uns nur selten gönnen.«
»Und das wäre?«
»Eine Pizza oder Eis. Wir sind nicht arm, aber es reicht trotzdem nicht immer aus. Erwähnen Sie das aber bitte nicht in Anwesenheit meines Kindes. Ich möchte nicht, dass er wegen so etwas in der Schule aufgezogen wird.«
»Ich habe kleine Adidas-Schuhe vor der Tür stehen sehen.«
»Das ist jetzt in. Wir haben lange dafür gespart. Ich will nicht, dass er zu einem Außenseiter wird.«
»Waren Sie früher einer?«
Luis schwieg und presste fest die Zähne aufeinander, sodass seine Kaumuskeln durch die glatt rasierte Wange hervortraten. Auch seine Oberarme spannten sich an.
»Man steht irgendwo abseits und möchte, dass man einfach ignoriert wird«, fuhr Leonhard fort. Er lachte humorlos auf. Mit diesem Satz zog er die Aufmerksamkeit auf sich.
»Aber Sie tragen eine Rolex, eine Designerhose und ein Hemd, das wahrscheinlich mehr kostet, als ich im Monat mit meinen drei Jobs verdiene. Und Sie wollen behaupten –«
»Es gibt Kinder, die reiche Eltern haben, es gibt aber auch Kinder, die arme Eltern haben. Und manchmal kommt es auch vor, dass Kinder irgendwann mit etwas Glück und Verstand mehr verdienen, wenn sie es satthaben, ständig von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, und etwas aus ihrem Leben machen. Man muss es nur wollen.«
»Aber nicht jeder ist mit einem hellen Verstand gesegnet wie Sie.«
»Danke für die Blumen, aber so helle bin ich nicht. Ich habe mich nur nicht unterkriegen lassen.«
»Ich möchte nicht, dass mein Junge sich prügelt.«
»Das muss er ja auch nicht …«
Der gedämpfte Aufschrei eines Kindes brachte die Eltern dazu, aus dem Wohnzimmer zu stürmen, womit sie Ella einen Schrecken einjagten.
Leonhard blieb jedoch ruhig.
Ella bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. »Sie waren niemals arm, das haben Sie mir selbst erzählt«, zischte sie.
»Na und, ich baue nur etwas auf, womit ich arbeiten kann«, zischelte er zurück.
»Aber das ist der falsche Weg, so baut man kein Vertrauen auf.«
»Ich will ihn ja auch nicht heiraten.«
»Er ist bereits verheiratet.«
»Eben. Und jetzt beruhigen Sie sich lieber. Sparen Sie Ihre Kräfte für etwas anderes auf. Anstatt mir die Leviten zu lesen, sollten Sie sich lieber überlegen, wie Sie den Mann auf Ihre Seite ziehen können. Ich knöpfe mir die Frau vor. Sie ist ihm hörig und ist es von Grund auf nicht gewohnt, sich einer männlichen Person zu widersetzen. Eine autoritäre Erziehung alter Schule, da hatte noch der Vater die Hosen an. Wir haben viel Arbeit vor uns, darum bleiben Sie konzentriert. Sie und ich spielen in einem Team.«
Leonhard hatte recht. Die Arbeit zermürbte sie nach und nach und machte sie aggressiv. Ella warf einen hastigen Blick über die Schulter, noch waren sie allein. »Was ist eigentlich mit diesem Nachbarn, diesem Herrn Krakowitz? Gehört er nicht mehr zum Kreis der Verdächtigen?«
»Er ist zwar der Vater des ungeborenen Babys, aber nicht der Mörder.« Leonhard trat ganz nah an Ella heran, sodass sein herbes Parfüm ihr in die Nase stieg. »Ich habe einen Ergotherapeuten engagiert, der mit ihm einige Koordinationsübungen durchführen sollte, Knotenbinden inbegriffen. Wir haben den epileptischen Anfall wie einen Mini-Herzinfarkt aussehen lassen und vorsorglich diese Untersuchungen durchgeführt, um Schlimmeres auszuschließen.« Leonhard malte Gänsefüßchen in die Luft. »Er kann diesen Knoten nicht binden. Er ist vielleicht gut im Bett, aber er ist ein Bewegungslegastheniker. Alle seine Schuhe haben Klettverschlüsse. Er behauptet, kein Gefühl in den Fingerspitzen zu haben, und Schlaufenbinden fällt ihm schwer.«
»Und warum erfahre ich das erst jetzt?«
»Weil Sie mich erst jetzt danach gefragt haben.«
Ella vernahm Schritte.
»Er hatte sich nur den Finger eingeklemmt, nichts Schlimmes.« Mit diesen Worten betrat Larissa Siebert das Wohnzimmer.
»So sind die Kinder eben«, entgegnete Leonhard.
»Wo ist Ihr Mann?«, wollte Ella wissen.
»Er ist bei Steven geblieben. Wenn Luis zu Hause ist, rutsche ich auf den zweiten Platz.«
»War das schon immer so?« Ella folgte einer Intuition, weil sie aus dem, was Larissa sagte, etwas herauszuhören glaubte, das sie stutzig machte.
»Ich weiß nicht so recht, wie ich darauf antworten soll.« Larissa war um einen neutralen Ton bemüht. Hinter der scheinbar echten Lässigkeit verbarg sich eine unsichere Frau, die sich ohne ihren Mann verloren vorkam. Sie schaute sich um und senkte den Blick. Eigentümlicherweise hatte sie genau mit dieser Unsicherheit Ella verraten, dass sie genau an dieser Stelle tiefer graben sollte.
Wir müssen das Fernbleiben ihres Mannes ausnutzen,
versuchte sie, ihrem Partner mit den Augen zu vermitteln.
»Frau Greenwood, setzen Sie doch die Unterhaltung mit Herrn Siebert fort. Ich bleibe mit Frau Siebert hier.« Er warf der Frau einen fragenden Blick zu.
»Meine Jungs sind im Kinderzimmer, gleich links und dann den Flur entlang. Ich zeige Ihnen lieber, wo es ist. Mein Mann mag es nicht, wenn ich –«
»Mit anderen Männern ein Gespräch führe? Mein Beruf macht mich zu einer geschlechtslosen Person. Wie gesagt, wir unterhalten uns nur. Es ist ja keine Befragung, ansonsten würden wir Sie beide ins Präsidium mitnehmen oder zu einer richtigen Befragung vorladen. Das wollen wir aber Ihnen und insbesondere Ihrem Sohn ersparen. Er hat sicher auch so genug in der Schule zu kämpfen, das wäre nur ein gefundenes Fressen
für die Tyrannen, die ihn piesacken. Schließlich haben Sie uns zu diesem vertraulichen Gespräch eingeladen.«
Die Frau wirkte ganz anders als beim ersten Treffen mit Ella. Eingeschüchtert und überhaupt nicht selbstbewusst. Sie nickte zustimmend. »Wir gehen am besten in die Küche und ich mache uns einen Kaffee. Wissen Sie, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war das ein dummer Einfall von mir. Aber jetzt sind Sie da und ich möchte Sie ungern wieder wegschicken. Bei einer Tasse heißem Kaffee werde ich vielleicht wieder anders darüber denken.«
»Das würde auch mir wirklich guttun, so eine Tasse Kaffee.« Leonhard lächelte.
Ella klopfte leise gegen den Türrahmen und spähte in das kleine Zimmer, das vollgestellt wirkte und wie der Rest der Wohnung einen renovierungsbedürftigen Eindruck machte. Alles war lieblos zusammengewürfelt. Steven kauerte auf einem billigen Teppich, auf dem ein Straßennetz mit Ampeln, Alleen und Häusern nachempfunden war. Darauf standen mehrere kleine Menschenfiguren. Der Vater saß halb liegend neben seinem Sohn und machte Motorengeräusche nach. In der linken Hand hielt er eines der Spielzeugautos, die in einer durchsichtigen Box aufbewahrt wurden, und fuhr durch die Straßen über den Teppich.
Ohne auf Ellas Klopfen zu reagieren, fuhr Luis immer schneller. Das erneute Klopfen ignorierte er geflissentlich. Er ahmte ein Reifenquietschen nach und ließ das Auto sich mehrmals überschlagen.
»Schnell, ruf den Notdienst, der Wagen steht in Flammen«, rief er mit panischer Stimme.
Der Junge sprang auf, rannte zu einem der drei Regale und holte einen kleinen, roten Koffer. Hastig ließ Steven den Deckel aufschnappen und fischte einen kleinen Feuerlöscher heraus.
In der gespielten Hektik erkannte Ella eine gewisse Routine. Das veranlasste sie zu der Frage: »Spielen Sie diese Szene oft nach? Für Ihren Sohn ist es nur ein Spiel, aber für Sie muss dieses Ereignis eine besondere –«
»Nein«, unterbrach Luis sie barsch und fuhr seinem Sohn sanft über die Wange, weil der Junge zusammengezuckt war.
»Mein Opa ist bei einem Autounfall gestorben, weil ein Idiot mit über hundert Stunden pro Kilometer durch die Stadt gerast ist.«
»Kilometer pro Stunde, Steven«, verbesserte ihn sein Vater und schenkte ihm ein trauriges Lächeln. Erst jetzt erkannte Ella, dass eines der kleinen Männchen unter dem Wagen begraben war. Die kleine Figur trug ein rotes Hemd und eine blaue Hose, wobei die anderen Miniaturen viel blasser wirkten.
Steven hob mit seinen kleinen Fingern das Auto an und holte den Avatar seines verstorbenen Opas unter dem Auto hervor. »Das ist mein Opa. Mein Papa hat ihn sogar angemalt, mit Ölfarbe.« Steven verzog den Mund zu einer traurigen Schnute und stülpte die untere Lippe hervor. »Ich muss aufs Klo«, säuselte er und sprang auf die Füße.
»Zuerst musst du deinen Opa in den Sarg legen, wo er seine Ruhe hat«, ordnete Luis mit fester Stimme an. In diesem Augenblick schien er nicht zu Scherzen aufgelegt.
Ein kalter Schauer der Empörung kroch Ellas Rücken hinauf bis in den Nacken.
Tatsächlich hielt Steven kurz darauf eine kleine Schachtel in den Händen und legte die Puppe hinein. »Ruhe in Frieden, Opa, möge der Mann, der dir das Leben genommen hat, in der Hölle schmoren«, sprach er den Satz wie ein Gebet, klappte den
Deckel zu, stellte den kleinen Sarg ins Regal und huschte an Ella vorbei in den Flur.
Ein säuerlicher Geruch stieg Ella mit dem flüchtigen Luftzug in die Nase. Das Zimmer müsste ausgemistet und durchgelüftet werden, doch das war nicht ihre Sorge. »Wollen Sie darüber reden?« Ella stand einfach nur da und musterte den Mann, der weiter auf dem Boden kauerte, den Oberkörper mit der rechten Hand abstützend.
Er holte geräuschvoll Luft und rappelte sich hoch. »Eigentlich nicht. Hat ja auch nichts damit zu tun.«
»Womit?«
»Mit den ganzen Morden, die mich zu verfolgen scheinen«, sagte er mit müder Stimme. Ella wusste nicht, ob die Information, die er preisgab, lediglich eine Feststellung oder ein weiterer versteckter Hinweis war, mit dem sie im Moment nichts anfangen konnte.
Beide versanken in ein befangenes Schweigen. Jeder dachte einen kurzen Augenblick nach. »Warum wollten Sie eine Aussage gegen Ihren eigenen Zwillingsbruder machen?«, ergriff schließlich Ella als Erste das Wort.
»Meine Frau hat da etwas verwechselt. Ich wollte nicht gegen ihn aussagen, sondern Ihnen etwas aus unserer Kindheit erzählen, damit Sie mich besser verstehen können. Vielleicht akzeptieren Sie mich dann so, wie ich bin. Wie allgemein bekannt ist, nimmt die Zukunft ihre Anfänge in der Vergangenheit.«
»Wie lange waren Sie von Ihrem Bruder getrennt?«, fragte Ella.
Luis’ Augen wanderten nach rechts oben. Er überlegte. »Das kann ich nicht mit Sicherheit beantworten.«
»Was hat Sie dazu gebracht, den Kontakt zu Ihrem Bruder abzubrechen, nachdem Sie ihn endlich wiedergefunden hatten?«
Die Augen wanderten nun nach links.
Der Befragte greift auf den visuellen Kortex zurück, wenn er sich gezwungen fühlt, etwas
neu zu ersinnen oder Szenen in das Tatgeschehen hineinzuinterpretieren, die so nicht stattgefunden haben,
erinnerte sich Ella an einen Satz aus ihrem Buch, das sie oft vor dem Schlafengehen mit ins Bett genommen hatte.
»Was hat er angestellt?«
Luis warf den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Eigentlich nichts, und doch hatte dieses Ereignis schlimme Folgen.« Er senkte wieder den Kopf und schaute Ella mit rot unterlaufenen Augen an. Tränen schimmerten darin und ließen sie glasig erscheinen.
»Wir beide wurden voneinander getrennt, sahen uns aber fast jeden zweiten Tag, manchmal auch öfter. Wir gingen in denselben Kindergarten, dann in dieselbe Schule, aber nie in dieselbe Gruppe und saßen auch nie an derselben Schulbank zusammen.« Er legte eine Pause ein, weil seine Stimme jeden Moment zu versagen drohte. Die aufgewühlten Emotionen schnürten ihm die Luft ab.
Ella entging nicht, wie sich die Mimik in Luis’ Gesicht veränderte. Es handelte sich dabei nur um eine Minigestik, dennoch verwandelte diese unscheinbare Veränderung sein ganzes Wesen. Er wirkte auf einmal kühl und abgestumpft. Luis zögerte, ehe er seinen Blick kontrolliert nach rechts oben hob.
»Dann hatte Dennis eine Idee. Er schlug vor, die Plätze zu tauschen. Selbst unsere Mutter hatte Mühe, uns voneinander zu unterscheiden, darum kämmte sie mein Haar stets nach links und Dennis’ nach rechts.« Er verzog seinen Mund zu einem müden Lächeln, machte zwei Schritte auf Ella zu und ließ seine linke Hand nach vorn schnellen.
Ella blieb keine Zeit, seiner Bewegung auszuweichen. Sie spürte den vagen Lufthauch an ihrem rechten Ohr und schmeckte Blut. Sie hatte sich vor Schreck auf die Zunge gebissen.
Luis stand so dicht vor ihr, dass sie seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht spürte. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen damit Angst eingejagt habe, aber ich wollte Ihnen lediglich dieses Foto zeigen.«
Ella bewegte ihren Kopf nach rechts und trat in einer Drehbewegung einen Schritt nach hinten und zur Seite.
Luis nahm das eingerahmte Foto von der Wand. »Sehen Sie«, raunte er und reichte ihr das Bild, dabei berührte er ihre Finger mit den seinen und fuhr sich mit der Zunge kurz über die Lippen. »Sie riechen gut und sehen gut aus«, hauchte er. Es klang beinahe wie eine Liebeserklärung.
Ella hatte Mühe zu schlucken. Der Mann war unberechenbar. Oder spielte er ihr bloß etwas vor, damit sie ihn endlich in Ruhe ließ? Sie senkte die Augen und betrachtete das Abbild. Zwei Jungen standen nebeneinander, die Arme jeweils um die Schultern des anderen gelegt, und grinsten um die Wette in die Kamera.
»Und was geschah danach?«, fragte Ella.
»Wir gingen nach dem Fußballtraining in die Dusche und frisierten unsere Haare um. Am Anfang war es spannend und aufregend.«
»Das bedeutet, dass Sie zuerst bei Ihrer Mutter gelebt haben?«
Seine Augen huschten hin und her. Er blinzelte schnell. »Natürlich«, erklang die Antwort übereilt.
»Dennis lebte zuerst bei Ihrem leiblichen Vater, danach bei seiner Mutter. Wann haben Sie wieder getauscht? Aber müssen Sie nicht mehrmals getauscht haben? Mindestens zweimal?«
»Wie gesagt, ich war endlich bei meinem Vater, den ich sehr vermisst hatte. Aber dann hat er eine Frau gefunden, die ihn dazu gebracht hat, den Kontakt zu seiner Ex-Frau zu unterbinden. Wir zogen in ein anderes Stadtviertel um. Danach sah ich meinen Bruder nie wieder.«
»Und das haben Sie Ihrem Bruder nie verzeihen können, obwohl er an Ihrem Schicksal keine direkte Schuld hatte?«
Luis nickte.
»Und dennoch haben Sie später nach ihm gesucht?«
Wieder ein Nicken. »Blut ist dicker als Wasser. Familie geht vor, das hat meine Mama immer gesagt.«
»Doch die Gefühle haben die alten Erinnerungen so hochgeschaukelt, dass Sie heftig miteinander gestritten und dann den Kontakt erneut unterbrochen haben?«
Ella wartete. Dieser Luis hatte etwas an sich, das gleichermaßen abstoßend wie anziehend wirkte. Sie betrachtete seine Hände. Konnten diese Finger einen Knoten binden? Ella war von jeher neugierig gewesen, so wusste sie zum Beispiel, dass drei Viertel aller multiplen Sexualmörder schon nach ihrer zweiten Tat ein modifiziertes Tatmuster erkennen ließen, wenn auch nur partiell. Der Mann, nach dem sie fahndeten, wurde ebenfalls von der Lust zum Töten motiviert. Vielleicht waren es situative Bedingungen oder soziale Einflüsse, die den Mörder dazu gebracht hatten, diese Frauen zu töten? Sie wusste auch, dass endogene wie auch exogene Faktoren einen Täter an seiner Perseveranz festhalten ließen. Der Täter wurde von innen wie auch von außen gesteuert, darum waren die Abfolgen seiner Taten an die jeweilige Situation angepasst. Die situativen Bedingungen waren entscheidend.
»Hatten Sie oft Streit mit Ihrem Bruder? War er anders als Sie?« Sie wartete auf eine Reaktion ihres Gegenübers.
»Sie glauben, dass entweder mein Bruder oder ich diese Taten begangen haben?« Er lachte herablassend auf.
»Taten?«
»Zuerst die Frau, dann der Hausmeister«, entgegnete er lapidar und hängte das Foto zurück an die Wand. »Falls hinter diesen Morden ein und derselbe Mann steckt, so deuten die Taten auf ein rationales wie auch taktisches Vorgehen hin. Ich
jedoch bin ein Chaot und mein Bruder ein Idiot. Somit passen wir beide nun wirklich nicht in dieses Schema.«
»Sie drücken sich erstaunlich gewählt aus«, tat Ella überrascht. Sie war von der Wortgewandtheit des Mannes sichtlich beeindruckt.
»Ich habe früher viel über die menschliche Psyche gelesen, weil ich verstehen wollte, wie zwei erwachsene Menschen ihre Kinder wie ein Auto oder andere alltägliche Gegenstände behandeln können. Ich und mein Bruder wurden gerecht aufgeteilt.«
»Sie nennen sich gern zuerst.«
»Weil mein Bruder es nicht wert ist, als Erster genannt zu werden. Er hat mein Leben ruiniert.«
»Und das beschäftigt Sie immer noch.« Das war eine Feststellung und keine Frage. Ella wartete nicht, sondern provozierte ihn bewusst: »Wollten Sie sich jemals dafür an Ihren Eltern rächen? Oder vielleicht an Ihrem Bruder, weil er Sie auf diese Art hintergangen hat?«
Luis mahlte mit den Zähnen. »Ich wollte meinem Bruder nur sagen, wie sehr ich meine Mutter all die Jahre vermisst habe.« Der Zorn, der seine Stimme zum Schwingen brachte, widerte ihn an, denn es klang so, als würde er gleich losheulen. »Ich wollte ihm all das erzählen – wie es ist, ohne Mutter aufzuwachsen. Das war ungerecht.«
»Und was hat er darauf erwidert?«
Luis ließ sich Zeit. Dann, nachdem er sich sicher war, dass seine Stimme fest genug war, setzte er zu einer Antwort an. »Er sagte, diese Art von Gerechtigkeit existiere nicht, vielleicht in unseren Träumen, aber nicht in der Realität. Das Böse siege über das Gute.«
Die ruhige Art der Frau verlieh der ganzen angespannten Situation einen schlichteren Touch. Luis konnte sich langsam entspannen.
Die Polizistin lächelte, doch ihr durchdringender Blick strafte ihre Gutmütigkeit Lügen.
Sie ist wie ein Jäger auf der Pirsch
, dachte Luis und strengte sich an, der Frau nicht zu viel von sich zu verraten. Er wollte nicht, dass sie ihm aus seinen Geschichten einen Strick drehen könnte. Das wäre fatal und ungerecht.
»Bestünde eine Möglichkeit, Sie und Ihren Bruder zu einem gemeinsamen Gespräch zu bewegen, sodass Sie und er sich aussprechen können? Ich könnte Ihnen als Vermittler zur Seite stehen.«
»Dennis will mich nicht mehr sehen, genauso wie auch ich ihn nicht mehr sehen möchte.«
»Warum haben Sie uns dann eingeladen?«
»Damit Sie sich überzeugen können, dass ich kein Spinner bin. Ich habe keine abnormen Fantasien …«
»Aber Ihr Sexualleben hat einen rituellen Ablauf. Alles geschieht nach einem bestimmten Schema«, mischte sich Leonhard ein. Er tauchte hinter Ella auf und sah dem Mann direkt in die Augen. Seine Kollegin fuhr erschrocken herum und warf ihm einen zornigen Blick zu. Er schaute an ihr vorbei und sagte: »Sie mögen es sehr oft und sehr hart.«
»Na und? Macht mich das zu einem Mörder? Warum hat sie Ihnen das überhaupt erzählt?« Er klang dabei mehr peinlich berührt als wütend.
»Es soll ja kein Vorwurf sein, ich beneide Sie sogar ein wenig.«
Luis furchte die Stirn, weil er nicht wirklich begriff, was Leonhard damit sagen wollte.
»Sie sind verheiratet und haben einen Sohn, trotzdem treiben Sie es, als hätten Sie nur eine flüchtige Affäre.« Leonhard stülpte die Unterlippe nach außen und hob eine Augenbraue.
Luis wusste nicht, ob er von Leonhard gelobt oder ausgelacht wurde, dennoch entspannten sich seine Züge. Genau das
hatte Leonhard beabsichtigt. »Wir lieben uns und haben nicht wirklich viel Zeit füreinander«, entgegnete Luis mit stolzgeschwellter Brust.
»Das freut mich für Sie. Ich für meinen Teil bin hier fertig. Und Sie, Frau Greenwood?«
Sie nickte knapp.
»Dann wollen wir Sie nicht weiter stören. Danke, dass Sie uns eingeladen haben«, bedankte sich der Polizist und wartete, bis Ella sich vom Herrn des Hauses verabschiedet hatte. Danach verließen sie schweigend die Wohnung und marschierten zum Wagen, ohne ein Wort zu verlieren.
»Warum haben Sie sich eingemischt?«, wollte sie dann doch wissen, während sie die Beifahrertür öffnete.
»Unser Chef will uns sprechen.«
Ella schüttelte den Kopf und setzte sich in den warmen Sitz, weil die Sonne genau durch die Windschutzscheibe schien und sie die ganze Zeit blendete.
Der dickliche Mann tigerte vor und zurück, die Hände hinter dem Rücken verhakt. »Mir ist wohlbekannt, dass die Tatelemente grundlegend von den pathologischen Persönlichkeitsneigungen eines Mörders gelenkt werden, seine Fantasien unterscheiden sich von unseren ganz enorm. Aber auf eigene Faust so ein Ding zu bringen, grenzt an Verantwortungslosigkeit.« Der Chef des Kommissariats war fast außer sich, seine gerötete Haut bekam an den Wangen dunkle Punkte. »Ich warne dich, voreilige Schlüsse zu ziehen, Leonhard.«
»Aber das hatte ich doch gar nicht vor«, fuhr Leonhard auf und musste sich zusammenreißen.
»Warum hast du dann Herrn Krakowitz ohne die Einwilligung des behandelnden Arztes einem Test unterzogen?«
»Das war doch bloß ein Test«, verteidigte sich Leonhard kleinlaut.
»Und was ist mit der falschen Diagnose? Mit der hättest du beinahe einen richtigen Herzinfarkt ausgelöst.« Reinhold Stettel hob den Zeigefinger und rang nach Luft. Auf seiner Glatze glänzten winzige Schweißtropfen, die immer größer wurden. Trotz der Hitze trug er immer noch den hässlichen Pullunder. Ella stand an der Tür und wagte nicht, sich zu rühren.
»Ich kann euch wegen dieser dämlichen Aktion suspendieren. Alle beide.« Der kleine Mann schnappte geräuschvoll nach Luft.
Leonhard stand einfach nur da. Er machte keinen geknickten Eindruck, im Gegenteil: Mit stoischer Haltung stellte er sich zwischen seinen Chef und Ella, als wollte er sie vor dem Groll des kleinen Mannes beschützen.
»Sie wusste davon nichts, der Scheiß geht ganz allein auf meine Kappe. Ich habe ihr diese Informationen vorenthalten. Du kannst dir die Floskeln sparen, Reinhold, sie gehört zum Team.«
Hat er mich deswegen nicht eingeweiht
, fragte sich Ella und spürte, wie ein angenehmes Kribbeln durch ihre Glieder kroch.
»Der Mörder fügte seinen Opfern keine vitalen, aber auch keine postmortalen Verletzungen zu, die auf eine Vergewaltigung oder Verstümmelung hindeuten würden. Tom meint, alle Hämatome seien auf einen Kampf zurückzuführen, wobei ich jetzt lediglich von Gisela Jung und dem Hausmeister spreche. Die anderen gehängten Frauen wurden missbraucht und entstellt.«
»Die letzte Leiche, die wir in Sternwarts Wohnung gefunden haben, war stark sediert.«
»Sie war auch bisher die einzige, der der Täter den Arm gebrochen hat«, vervollständigte Leonhard den Satz und sah
Reinhold Stettel mit einem vagen Lächeln an. »Du sollst es lassen, Reinhold.«
»Was?«, empörte sich der Polizeihauptkommissar.
»Dein Hinken ist psychosomatisch.«
»Erzähl du mir nichts von Psychologie. Finde lieber diesen hochfunktionalen Psychopathen, der allem Anschein nach seine Vorgehensweise zu ändern beginnt, bevor weitere Frauen von ihm verschleppt und getötet werden.«
Leonhard zog abwägend die Mundwinkel nach oben. »Also wird mein Experiment unter den Teppich gekehrt?«
»Ja, gottverdammt. Tut mir leid, aber wenn der Kerl da ist, gehen die Pferde mit mir durch«, ergänzte der Polizeihauptkommissar mit hochroter Miene an Ella gewandt. »Ihr könnt wieder gehen, morgen findet eine Pressekonferenz statt, da will ich mehr in der Hand haben als nur verwaschene Vermutungen, die auf jeden zehnten Mann passen könnten. Sie haben sich mit Herrn Siebert unterhalten, Frau Greenwood? Haben Sie dabei etwas herausgefunden, was unserem Herrn Kommissar nicht aufgefallen ist?«
Ella schüttelte den Kopf und versuchte gleichzeitig, sich ihre Enttäuschung nicht sonderlich anmerken zu lassen. Plötzlich kam ihr eine Idee, die sie jedoch vorerst für sich behielt. Statt zu antworten, hob sie nur die Schultern und presste bedauernd die Lippen aufeinander. Sie würde Herrn Siebert ein Treffen außerhalb seiner Wohnung vorschlagen. »Ich habe noch einen Termin, der sich nicht verschieben lässt«, murmelte sie.
Jeder Mann hat einen Schwachpunkt, der sich eine Handbreit unter der Gürtellinie befindet.
Mit diesen unsittlichen Gedanken machte sie sich daran, das Büro zu verlassen, ohne sich richtig von den beiden Herren verabschiedet zu haben.
»Und du, Leonhard«, hörte Ella im Rausgehen, »darfst dir keinen Fehltritt mehr erlauben.« Reinhold Stettel ließ die Drohung einige Sekunden lang wirken, bevor er in einem
versöhnlicheren Tonfall hinzufügte: »Und jetzt sieh zu, dass auch du Land gewinnst.«
Ella trat in den Flur und beschleunigte ihren Gang, dabei hörte sie das Klackern von Absätzen hinter sich. Die Schritte wurden schneller und lauter.
»Einen schönen Tag noch, Kollegin«, sagte Leonhard im Vorbeigehen und bog nach links ab. »Den heutigen Papierkram übernehme ich natürlich gern für Sie«, brummte er und stieß die Tür zu ihrem gemeinsamen Büro mit der Schulter auf.
Ella konnte sich ein höhnisches Grinsen nicht verkneifen. Sie drehte den Blick weg und sah im Augenwinkel, wie Leonhard alles vom Tisch fegte. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem knappen Lächeln.