KAPITEL 32
Renate befand sich in einem Dämmerzustand und nahm alles um sich herum wie durch einen giftigen Nebel wahr. Jedes Mal, wenn sie ausatmete, hauchte sie ein Stück mehr von ihrer Lebensenergie aus, aber das war ihr egal. Sie wollte einfach nur sterben. Das Martyrium, dem sie ausgesetzt war, konnte sie nicht mehr ertragen. Sie spürte ihre Beine nicht und glaubte schon, dass sie von der Hüfte abwärts gelähmt war, weil ihr der Verrückte das Rückgrat gebrochen hatte. In einem tranceartigen Zustand versuchte sie, die Beine anzuziehen, weil sie fror und zum Sterben bereit war. Ein glühender Stich in der linken Ferse trieb ihr wieder Tränen in die Augen. Wie viel kann ein Mensch eigentlich weinen, bis er keine Tränen mehr hat , fragte sie sich. Ist der Mörder noch hier? Wird er mich erneut vergewaltigen? Der schreckliche Gedanke nistete sich wie ein Haufen Würmer in ihrem Kopf ein und wuselte darin herum. Die Vorstellung, hier für eine Ewigkeit eingesperrt zu sein, fraß ihren Verstand auf.
Was passiert mit meinem Körper, werde auch ich aufgehängt, nackt an einem Baum? Sie schluckte mit schmerzerfüllter Miene, doch ihre Zunge war zu dick und klebte am Gaumen. Ein breiter Lederriemen lag um ihren Hals – oder war es ein Seil? O Gott, er will mich erwürgen. Bildfetzen rauschten durch ihren Kopf und trieben ihr kalten Schweiß auf die Stirn. Sie zerrte an ihren Fesseln und riss die verschorften Wunden erneut auf. Der Schmerz ließ alles um sie herum zu einem Aquarellbild aus grauen Farben werden, ihre Sinne entschwanden.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie eine Frau, die in der Luft zu schweben schien. Die Tote hatte ähnliche Gesichtszüge und die gleiche Haarfarbe wie sie. Hat er mich deswegen ausgesucht? Diese Überlegung schlich sich immer öfter in ihre Gedanken und warf neue Fragen auf. Wer war dieser Typ?
Sie bilanzierte ihr bisheriges Leben, das nun von dem Serienmörder vollends versaut wurde. Dieser Gedanke trieb ihr ein schwaches Lächeln auf die Lippen. Der Kontrollverlust war unaufhaltsam. Ich drehe durch, ich verliere den Verstand. Wie tief kann ein Mensch sinken? Ich liege in meiner eigenen Pisse, habe mich vollgekotzt, wurde mehrmals vergewaltigt und weiß nicht einmal, wo ich bin, wollte sie hinausschreien, doch ihre Kehle war trocken und rau. Warum ich , fragte sie sich wieder und merkte, wie sie erneut wegdämmerte. Ein Kribbeln stieg ihre Beine empor. Die kühle Luft legte sich wie ein nasser, schmutziger Lappen über ihren Körper. Die Kälte kroch unter ihre Haut und saugte die restliche Wärme aus ihr heraus.
»Dennis ist eigentlich ein netter Junge«, vernahm Renate eine angenehme Frauenstimme. Ihre Lider flatterten wie die Flügel eines Falters auf einer nassen Fensterscheibe. Durch den Tränenschleier zeichnete sich die verschwommene Kontur eines Mannes ab.
Ich halluziniere. Mein malträtiertes Gehirn spielt mir etwas vor.
»Er wollte das alles nicht«, sprach die Stimme weiter. Es war die Stimme einer fürsorglichen Mutter, die sich für die Taten ihres Kindes schämt.
»Wer bist du?«, hauchte Renate. Sie blinzelte. Ihr Blick klärte sich. Eisige Kälte durchzog ihre Adern. Das Gesicht des Mannes war das ihres Peinigers, aber seine Lippen und seine Augen waren geschminkt. Renates unsteter Blick wanderte weiter nach unten. Er trug ein geblümtes Kleid.
Erneut berührte etwas Weiches ihr Gesicht. Es fühlte sich warm und unnatürlich sanft an.
»Er hat Besserung versprochen«, gurrte der Mann weiter und strich Renate feuchte Strähnen aus dem Gesicht. Die Berührung war zärtlich und liebevoll. Sein Antlitz nahm reumütige Züge an.
»Wer bist du?«
»Ich heiße Ruth, Ruth Löwenzahn. Ich bin seine Mama.« Der Mann lächelte verträumt, seine Augen wanderten nach oben. Er bedeckte seinen Mund mit dem Handrücken, in dem er den Schwamm hielt. »Er mag dich, Sally.«
Sally? Renate zitterte am ganzen Leib.
»Du bist seine Freundin. Habe ich recht? Er mag dich, Sally, und ich mag dich auch.«
Renate roch ihren eigenen Atem, der nach Fäulnis stank.
»Soll ich dir vielleicht von ihm erzählen?« Der Mann tauchte den Schwamm in einen weißen Plastikeimer und wrang ihn aus. Das simple Plätschern des Wassers passte nicht hierher. Renate befand sich nach wie vor in einem dunklen Raum. Ihr Rücken war taub, sie spürte die kleinen Steinchen nicht mehr, die sich in ihre Haut gefressen hatten. Die Fesseln hielten sie fest und gruben sich ständig durch die aufgeschürfte Haut hindurch, tiefer ins blutende Fleisch. Und dann dieses Plätschern – es machte sie wahnsinnig.
»Können Sie mich vielleicht losmachen? So könnte ich Ihnen besser dabei zuhören, wie Sie mir die Geschichte Ihres Sohnes erzählen. Im Liegen würde ich sonst einschlafen«, quälte Renate sich ab und strengte sich an, die Pseudo-Frau nicht anzuschreien.
Trotz ihrer aussichtslosen Lage suchte Renate nach Schwachpunkten, denn nur so hatte sie eine winzige Chance, hier lebend herauszukommen. Ihr Peiniger wusch mit größter Sorgfalt und Vorsicht ihren geschundenen Körper sauber. Der Mann schwieg gedankenverloren. Dieses penible Entfernen der sichtbaren Gewalteinwirkung ist symptomatisch für das Verhalten eines Täters, der sich von dem Verbrechen distanzieren will , sprach die Polizistin in Renate. Es hielt ihren Geist davon ab durchzudrehen. Sie versuchte, sich jedes Detail einzuprägen. Das Blut verschwindet und löst sich auf, somit auch das Verbrechen, welches verübt wurde. Die Vergewaltigung hat dann gleichsam nicht stattgefunden.
»Er war immer ein lebensfrohes Kind«, nahm der Mann das Gespräch wieder auf. Seine Stimme klang traurig und verträumt. Das schwache Licht der nackten Glühbirne warf dunkle Schatten auf sein Gesicht und machte es zu einer Fratze, wenn er seinen Kopf senkte.
Es handelt sich hier um einen Wiedergutmachungsversuch , dachte Renate weiter. Das Geschehene soll ungeschehen gemacht werden. Oder er verändert schlicht den Tatort.
»Sein Vater war an allem schuld«, fuhr der Mann fort und sein Ton bekam einen dunkleren Klang. »Er hat aus meinem Jungen ein Monster erschaffen.«
Der Schwamm berührte Renate zwischen den Beinen. Der Druck wurde fester. Tränen raubten ihr die Sicht. Das Brennen war kaum auszuhalten.
»Bitte«, keuchte sie. Speichelblasen bildeten sich auf ihren Lippen und platzten lautlos. »Bitte, hören Sie auf damit«, winselte Renate. »Sie sind nicht seine Mutter. DU BIST EIN MÖRDER, EIN PERVERSES SCHWEIN!«, schrie sie, so laut sie konnte. Endlich ließ der Verrückte von ihr ab.
Seine Augen starrten sie angsterfüllt an.
»Sei still, sonst kann er uns hören«, stammelte er und fuhr sich mit dem Schwamm übers hagere Gesicht, hellrote Schlieren hinterlassend.
»Du bist du! Versuch dich nicht zu verstecken. Du bist erbärmlich. Du trägst ein Kleid wie ein Mädchen. Du bist aber kein Mädchen, du bist ein Mann.«
»Hör auf, mich anzubrüllen, Papa«, winselte er und kroch rückwärts von ihr weg.
Das letzte Wort irritierte Renate und machte sie nachdenklich.
Der Typ robbte weiter, seine nackten Füße schabten über den Boden. »Bitte, schrei mich nicht an«, flüsterte er und zog die Beine an.
Renate hob ein wenig den Kopf, doch der Riemen um ihren Hals zwang sie zurück. Der Raum war leer, bis auf einen Stuhl, der in der Ecke stand. Und sie lag in einer Grube. Auf der rechten Seite befanden sich aufeinandergestapelte Bretter. Wo bin ich, verdammt noch mal? Will er mich lebendig begraben?
»Wer bist du?«, fragte Renate mit letzter Kraft, der Verzweiflung nahe, den Blick zur Decke gerichtet. »Bist du Ruth Löwenzahn?« Die Antwort klang wie eine Frage und wurde von Tränen erstickt. Hat der Typ versucht, die Spuren zu verwischen, ist es eine emotionale Wiedergutmachung oder glaubt er tatsächlich in diesem Augenblick daran, dass er eine Frau ist? »Ruth, erzähl mir mehr von deinem Sohn, ich will alles von ihm wissen und von den Stimmen in deinem Kopf. Du hast doch Stimmen in deinem Kopf, die zu dir sprechen?«
»Nein, ich habe keine Stimmen, manchmal sehne ich mich danach, wieder mein Kind in den Armen halten zu können. Aber mein Ex-Mann hat mir den Sohn weggenommen.«
»Welchen Sohn?«
»Er hat mir meinen Dennis weggenommen. Luis und Dennis dachten, ich könnte sie nicht voneinander unterscheiden, aber ich habe es natürlich gewusst und habe bei diesem Spiel mitgemacht. Als mein Ex-Mann eine andere Frau geheiratet hat, war Luis bei mir. Sie hatten wieder die Rollen getauscht.«
Renate schluckte und suchte nach einer Frage in ihrem Kopf, um ihn am Reden zu halten. »Sie hatten Zwillinge?«
»Ja. Zwei Jungs, die sich wirklich sehr ähnlich waren, was das Aussehen betraf, doch im Charakter unterschieden sie sich stark voneinander.« Der Mann verfiel in einen träumerischen Singsang und erwähnte jedes Detail, das für Mütter typisch ist, wenn sie von der Vergangenheit ihrer Kinder erzählen.
Renate jedoch konzentrierte sich auf ihre rechte Hand. Die Schlaufe, die ihr Handgelenk am Boden festhielt, schien sich langsam zu lösen. Das Seil war an einer Stelle durchgescheuert. Sie konnte einzelne Fäden zwischen ihren Fingern spüren. Sie bewegte ihren Unterarm hin und her und achtete sorgsam darauf, dass sie von dem Mann, der zur Decke starrte, nicht dabei beobachtet wurde. Sie ließ ihn einfach reden und hielt seinen Redefluss mit Zwischenfragen am Laufen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war der Mann mit der Frauenstimme mit seiner Erzählung fertig und stand auf. Die Fessel blieb jedoch immer noch an Renates Handgelenk.
Der Mann zupfte sein Kleid zurecht und ging auf Renate zu. Er bedachte sie mit einem zerstreuten Blick und beugte sich zu ihr nach unten. Er fummelte in seinem ausgestopften Dekolleté, dann hielt er etwas zwischen seinen schmalen Fingern.
Das Rauschen des Blutes in Renates Kopf war ohrenbetäubend, trotzdem vernahm sie ein leises Knacken und schon spürte sie eine schartige Tablette, die grob zwischen ihre Lippen geschoben wurde. »Das lindert deine Schmerzen«, vernahm sie die besänftigende Stimme dicht neben ihrem Ohr. Die Tablette blieb ihr am Gaumen kleben. Die andere Hälfte wurde nicht minder grob in ihren Mund gesteckt. »Hier, trink etwas«, flüsterte der Mann und hielt ihr die Flasche an die Lippen. Renate gehorchte und trank in kleinen Schlucken. Die Flüssigkeit brannte in ihrer Kehle und sie verschluckte sich mehrmals. Dennoch trank sie gierig weiter, so lange, bis ihr die Flasche weggenommen wurde.
Die Tabletten zeigten nicht sofort Wirkung, doch bevor sich die Frau auf den Stuhl setzte, senkten sich Renates bleiern schwere Lider.