KAPITEL
33
Ella stand vor dem Bildschirm und schaute sich erneut die eingescannten Bilder an. Einige Seiten waren vom Feuer und dem vielen Wasser zu sehr beschädigt, als dass man daraus sachdienliche Informationen herausfiltern konnte, die dem Ermittlungsteam weiterhelfen würden. Viele Blätter waren aneinandergeklebt und ließen sich nicht mehr voneinander trennen. Einige schimmerten durch, doch es gab einige wenige, die Ellas Interesse auf sich zogen.
Der Verfasser verfügte über die Fähigkeit, in mindestens vier grundverschiedenen Schriftarten Texte zu formulieren, die sich auch inhaltlich sehr voneinander unterschieden – so als hätten sich hier mehrere Persönlichkeiten verewigt, die nicht nur geistig unterschiedlich entwickelt waren, sondern auch physisch.
Zwei Handschriften fielen Ella besonders ins Auge. Eine glich einem Vorschüler, die andere hätte von einer Lehrerin stammen können, die eben diesem Kind das Schönschreiben beibringen wollte.
Sie scrollte über den Bildschirm und kam sich dabei wie eine Archäologin vor, die Seiten aus einem Buch studiert, welches aus einer anderen Epoche stammt.
Die angekohlten zackigen Ränder und Brandlöcher verliehen den Blättern etwas Archaisches.
Auch die Skizzen glichen einem Zauberbuch. Es waren ausnahmslos Schraffuren von Frauengesichtern oder nackten Körpern, die an einen Stuhl gefesselt waren, oder sie hingen an einem unsichtbaren Strick an einem dicken Ast.
Die Texte waren zusammenhanglos aneinandergereiht, wie etwas, das aus dem Kontext gerissen worden war – etwas, das nur für den Autor dieser Textfetzen Sinn ergab.
Ellas Finger drehten langsam am Rädchen der Maus, die sie fest mit ihrer Hand umschlossen hielt, weil sie in eine Textpassage vertieft war, die dafür sorgte, dass die Bilder in ihrem Kopf Gestalt annahmen. Der Text war mit einer kindlichen Handschrift geschrieben. Die unsicher geführten Linien waren zu krakeligen Lettern geformt. Was ihr dabei besonders auffiel, war die Tatsache, dass das Kind keine Rechtschreibfehler machte und Worte wie »Penetration« oder »Ejakulation« verwendete. Und obwohl das Papier weder kariert und noch liniert war, verliefen die Zeilen parallel und in gleichmäßigem Abstand. Richie und sie hatten die Abstände sogar mit einem Messschieber ausgemessen und miteinander verglichen. Sie alle hatten denselben Abstand von genau elf Millimetern.
Ellas Lippen bewegten sich. Sie stand vor ihrem Arbeitsplatz. Das Büro war leer. Über den Tisch gebeugt las sie den Text leise vor.
»Er drang in meine Mutter ein. Er penetrierte sie von hinten mit seinem Schwanz, dann drehte er sie auf den Bauch und drang erneut in sie ein.«
Ella fuhr sich über den Mund. Sie flüsterte leise vor sich hin und verstummte, weil ein Stück des Textes sich bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst hatte und nur noch verwaschene blaue Flecken übrig waren. Sie scrollte weiter.
»Ich saß im Schrank und konnte beobachten, wie mein Vater auf den Bauch meiner toten Mutter ejakulierte. Er grunzte wie ein wildes Tier und legte den Kopf tief in den Nacken. Er
brüllte wie ein Löwe, nein, wie ein Werwolf. Sein nackter Körper glänzte. Ich habe mir, während ich in der Enge eingesperrt war, in die Hose gepinkelt. Nachdem ich eingenässt hatte, habe ich eine Regung in meiner Hose verspürt. Doch damals konnte ich nicht begreifen, dass ich bei dem abscheulichen Szenario eine Erektion bekommen hatte. Ich hielt meinen Schwanz in der Hand und tat dieselbe Bewegung wie mein Vater, bis ich zusammenzuckend einen gedämpften Schrei von mir gab und meinen Vater damit erzürnte. Ich wurde …«
Hier endete der Text in einem schwarzen Rand.
Ellas Telefon klingelte. Sie zuckte kurz zusammen und klickte aus Versehen die Seite weg. Ihre Augen waren vor Anstrengung gerötet. Sie blinzelte und nahm den Hörer ab.
»Greenwood, hier ist Stegmayer, sind Sie noch im Präsidium?«
Ella sah auf die Wanduhr, die über der Tür hing, und fluchte innerlich, weil sie die Zeit vergessen hatte.
»Bin schon auf dem Weg nach unten«, sagte sie schnell und schalt sich eine Idiotin, weil sie immer noch den Hörer ihres Festnetztelefons in der Hand hielt.
»Siebert ist unauffindbar. Seine Frau weiß auch nicht, wo ihr Mann sein könnte. Wir haben die angeblichen Arbeitsplätze überprüft. Bis auf den Job als Hausmeister hat er nichts mehr, es sei denn, er arbeitet tatsächlich schwarz.«
»Hat er das nicht erwähnt? Ich glaube schon. Er hat es gar nicht geleugnet, fällt mir ein«, überlegte sie laut und hörte, wie ihr Partner genervt aufatmete.
»Kommen Sie einfach nach unten. Wir warten hier auf Sie. In zehn Minuten beginnt eine Lagebesprechung. Bringen Sie mir einen Kaffee mit und ein Snickers.«
»Mit Milch?«, fragte Ella mechanisch. Für eine Auseinandersetzung zum Thema Gleichberechtigung fehlte ihr einfach die Kraft.
»Greenwood, ich sagte ›Snickers‹, nicht ›Milky Way‹, und jetzt sehen Sie zu, dass Sie mir nicht ohne die Tagebücher hier aufkreuzen. Haben Sie etwas retten können?«
»Ja, Richie ist ein …«
»Sehr schön«, unterbrach er sie und legte auf.
Leonhard saß ganz hinten und kaute auf einem Hautfetzen herum, den er sich vom linken Daumen abgebissen hatte. Er brauchte dringend Koffein, am besten intravenös oder direkt durchs Auge ins Hirn gespritzt.
»Wir haben die Nachbarn nach eventuellen Beobachtungen befragt, aber niemand hat etwas Außergewöhnliches bemerkt«, rapportierte eine grauhaarige Polizistin und setzte sich wieder hin. Sie und einen Herrn, der unwesentlich jünger war als die Dame, hatte Leonhard zum Klinkenputzen verdonnert, aber diese Sisyphusarbeit war ohne Erfolg geblieben. Luis Siebert, der eigentlich in dem Haus, in dem er als Hausmeister fungierte, seiner Arbeit nachgehen sollte, war nicht da, obwohl er am Morgen von einer Frau gesehen worden war, wie er sich lautstark mit drei Jugendlichen unterhalten hatte.
Die Polizei war unterbesetzt und überall fehlte es an Geld. Darum konnten nur abgesicherte Hinweise fallanalytisch überprüft werden. Dieser Fall verschlang jetzt schon zu viel von dem Etat, der ihnen zur Verfügung stand.
Da erhob sich Tom und trat vor. Er hielt mehrere Blätter in den Händen, die er zu einem Rohr gedreht hatte, das er sich wie einen Stock in die leere linke Hand schlug. Sein Teint war von einem ungesunden Grau.
Ein Beamter der Kriminaltechnik mittleren Alters erhob sich ebenfalls und sprach mit fester Stimme in den Raum. Er hatte einen mächtigen Schnauzbart. Sein mürrisches Aussehen
passte gut zu seiner rauchigen Stimme, die jeden im Raum verstummen ließ.
»Bei der Untersuchung jedes Tatortes müssen wir im Hinterkopf behalten, dass eventuelle serologische Spuren wie körperliche Ausscheidungen, aber auch Fingerabdrücke oder andere Spuren wie Reifenabdrücke von Familienangehörigen oder beispielsweise von einem Postboten stammen könnten, die nichts mit dem Gesuchten zu tun haben. Das alles muss selektiert und verglichen werden. Jedenfalls haben wir hier«, er nickte knapp einem Mann zu, der neben dem Lichtprojektor stand, »keine Spuren von Brandbeschleunigern oder Ähnlichem finden können.«
Ein mechanisches Surren ertönte, woraufhin die Jalousien sich langsam nach unten in Bewegung setzten und den Raum verdunkelten. Ein Quadrat aus hellem Licht wurde auf die weiße Wand projiziert. Tom nickte wieder. Ein schwarz-weißes Foto tauchte auf.
»Dieses Bild verdeutlicht uns, dass der Brand alles Brauchbare ausgemerzt hat. Wir haben nichts, womit wir arbeiten können, bis auf die drei Leichen und einige Notizbücher, die dank eines glücklichen Umstands teilweise noch auswertbar sind.«
Weitere Bilder wechselten sich im Fünf-Sekunden-Takt ab. Auch sie waren schwarz-weiß, weil das Feuer nicht nur die Beweise, sondern auch jegliche Farbe weggefressen hatte.
»Bisher konnten wir die Leichen nicht identifizieren«, übernahm Tom das Wort.
Leonhard sah, dass bei allen verkrümmten Körpern die Ober- und Unterkiefer abgesägt worden waren, damit kein Zahnabgleich gemacht werden könnte.
»Was wir jedoch haben, ist Folgendes: Dieser Mann starb nicht an den Folgen der unerträglichen Hitze, auch nicht an Kohlendioxidvergiftung. Er wurde erschlagen, und zwar schon vor längerer Zeit.« Ein Raunen ging durch den Raum und
brachte die angespannte Atmosphäre zum Vibrieren. »Das ist aber nur ein vorläufiges Indiz!« Tom bemühte sich, die Kollegen zu beruhigen. »Wir sind dem Mörder dicht auf der Spur.«
»Versucht der Kerl, uns vorzuführen?«, meldete sich lautstark jemand, den Leonhard nicht richtig erkennen konnte.
Wo bleibt mein Kaffee?
, dachte der Kommissar und beobachtete, wie just in diesem Moment die Tür aufging.
Zuerst tauchte Ellas Kopf auf. Sie blickte sich um, um sich zu vergewissern, dass sie den richtigen Raum erwischt hatte. Mit leicht geknickter Miene bahnte sie sich den Weg zu Leonhard, weil der Raum mit Tischen, Stühlen und müden Kollegen vollgestopft war.
»Ich sagte ›Snickers‹«, empörte er sich leise, nachdem Ella ihm einen Becher mit heißem Kakao und einen Marsriegel vor die Nase geknallt hatte.
»Der Kaffee war alle, und das hier habe ich einem Kind weggenommen«, murmelte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Tom.
»Das können Sie wieder zurückhaben«, knurrte Leonhard und spuckte den Hautfetzen unter den Tisch.
»Danke schön, sehr aufmerksam von Ihnen«, schnappte Ella zurück und trank einen Schluck von ihrem Kakao.
Während Tom mit seinem Bericht fortfuhr, spürte Leonhard ein mehrmaliges Vibrieren in der Hosentasche. Leise eine Verwünschung brummelnd fummelte der Kommissar das Smartphone hervor und erhob sich von seinem Platz. Sein Stuhl kratzte laut über den Parkettboden, wofür sich der Kommissar einen genervten Blick von Tom einfing. Diesen tat Leonhard mit einem flüchtigen Mundwinkelzucken ab.
»Um die vorhandenen Spuren, die wir bisher gesichert haben, abgrenzen zu können, sind die Zeiten besonders wichtig«, fuhr Tom sachlich fort und ließ weitere Bilder an die Wand projizieren.
Leonhard hörte nicht mehr richtig hin, denn er hielt sich mit angestrengter Miene sein Handy ans Ohr.
»Wir sprechen hier von Vor-, Haupt- und Nachtat. Um all das in Einklang mit dem Verbrechen zu bringen, müssen wir ein Zeitgitter erstellen, was ich auch getan habe. Folgendes ist dabei herausgekommen: Die männliche Leiche, der der Schädel eingeschlagen wurde –«
»Stegmayer«, meldete sich Leonhard zum wiederholten Mal und wollte schon auflegen, weil das metallische Klappern am anderen Ende der Leitung alles war, was er zu hören bekam.
»Hier ist Larissa Siebert, ich rufe Sie wegen meinem Mann an, weil Sie ihn suchen.«
Wellige Unmutsfalten gruben sich in Leonhards Stirn. »Ja?«, gab er gedehnt zurück.
»Er hat es wieder zu gut gemeint und drei junge Männer in die Schule gefahren, damit sie nicht noch mehr Blödsinn anstellen können.«
»Was haben die Kerle denn angestellt?«
»Zeitungen angezündet, anstatt sie auszutragen.«
»Und wo ist Ihr Mann jetzt?«
»Wieder bei seiner Arbeit. Er muss ein Rohr reparieren.«
»Warum rufen Sie uns an und nicht er?«
»Er hat die Visitenkarte hier zu Hause vergessen.«
»Danke«, murmelte Leonhard. »Richten Sie Ihrem Mann bitte aus, dass er an Ort und Stelle bleiben soll. Wir kommen im Laufe des Tages vorbei, weil wir ihm einige Fragen bezüglich seines Bruders stellen müssen.«
»Okay«, war alles, was Larissa von sich gab.
»Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, ich muss jetzt weiterkochen. Sie können auch gern zum Abendessen kommen und …«
»Nein, vielen Dank«, verabschiedete sich Leonhard und nahm wieder Platz.
Die Blicke aller Anwesenden waren auf ihn gerichtet. »Herr Siebert ist wiederaufgetaucht«, setzte er die Kollegen in Kenntnis.
Stimmengemurmel erhob sich.
»Tom, fahren Sie bitte fort«, sagte Leonhard mit erhobener Stimme, um die unangenehme Aufmerksamkeit von sich abzulenken.
»Die Leiche mit dem eingeschlagenen Schädel war lange Zeit unter der Erde vergraben und vor der Polizei verborgen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass sie in der Erde vergraben war?«, rief eine raue Stimme dazwischen.
»Wir haben an den Knochen Spuren von Nagetieren und Insekten gefunden, die darauf hindeuten, dass dem so war. Der rechte Schienbeinknochen, Tibia genannt, ist gesplittert. Auch mehrere Rippen weisen dasselbe Muster auf. Wir gehen davon aus, dass der Tote von einem schweren Gegenstand wie einem Rohr oder Baseballschläger lebensgefährlich verletzt wurde.«
»Es hat also ein Kampf stattgefunden?«, rief dieselbe Stimme.
»Eher eine Hinrichtung«, entgegnete Tom lapidar.
Ella hielt den Becher, in dem der Kakao erkaltet war, weil er ihr nach den unschönen Bildern nicht mehr schmeckte, nur fest, um ihre Hände zu beschäftigen, und drehte ihn im Uhrzeigersinn ununterbrochen zwischen ihren Fingern.
»Wollen Sie dem Ganzen noch etwas hinzufügen?« Stettel stand mit gerecktem Kinn bei Tom und linste zu Leonhard, der im Begriff war, den Raum zu verlassen.
»Nun«, hüstelte Leonhard und richtete seinen Gürtel. »Unser Täter ist von seiner Einzigartigkeit und Komplexität entweder überzeugt oder überfordert.«
Ella hörte angespannt zu, das Kakaopulver lag pelzig auf ihrer Zunge und den Zähnen und störte sie beim Denken.
»Tom, was meinen Sie, können Sie dieser Leiche eine brauchbare DNA-Probe entnehmen?« Er wies mit seinem kantigen Kinn auf den verkohlten Schädel an der Wand. Der gezackte Durchbruch des Knochens an der linken Schläfe oberhalb der Hutkrempenlinie war deutlich zu sehen. Er erinnerte Ella an eine zersprungene Windschutzscheibe nach einem Steinschlag.
Der Kollege aus der rechtsmedizinischen Abteilung fuhr sich mit der Zunge über die Innenseite seiner Wange und nickte unentschlossen.
»Sehr gut. Hiermit möchte ich mich von euch verabschieden. Frau Greenwood und ich wollten gerade gehen, weil wir noch etwas zu erledigen haben.« Leonhard verließ den Raum, ohne auf Ella zu warten. Von den spöttischen Blicken der Kollegen begleitet, folgte sie mit vor Scham gerötetem Gesicht ihrem Partner, dem sie am liebsten an den Hals gesprungen wäre.