KAPITEL 34
Luis saß den beiden Polizisten gegenüber und beantwortete ihre Fragen.
»Haben Sie schon mal Baseball gespielt?«, fragte der silberhaarige Polizist unverhofft und warf einen flüchtigen Blick auf den Schläger, der an den Schrank gelehnt in einer Ecke stand.
»Nein, was soll die Fragerei?«, beantwortete er die Frage mit einer Gegenfrage. Der genervte Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Wollen Sie sich jetzt madigmachen, damit wir Sie endlich in Ruhe lassen? Wo ist Ihre Kooperation geblieben?«
Luis schwieg beharrlich und verschränkte die Arme vor der Brust. Er stand mit dem Rücken zur Wand und spürte, wie die Kälte durch seine Knochen fuhr. Die beiden Polizisten hatten sich in der Mitte des kleinen Raumes postiert, ohne dabei bedrohlich oder einschüchternd zu wirken.
»Können Sie etwa hellsehen?«, blieb Luis weiterhin giftig in seiner Art.
»Die Seele ist eine unsichtbare Substanz. Der Einzige von uns, der in einen Menschen hineinschauen kann, ist Herr Bär, unser Kollege aus der Rechtsmedizin. Er benötigt dazu jedoch ein Skalpell.«
Luis lief bei der Vorstellung, tot zu sein und auf einem Seziertisch ausgeschlachtet zu werden, ein kalter Schauer über den Rücken.
»Ist kein sehr schöner Anblick, muss ich Ihnen sagen«, sprach der Polizist gemütsarm.
»Was wollen Sie denn von mir wissen? Warum ich den Totschläger hier stehen habe? Der gehört nicht mir. Hat dem Jürgen gehört. Den hat er zwei Jugendlichen abgenommen.«
»Apropos Jugendliche, seit wann ist es Ihre Aufgabe, sie zur Schule zu kutschieren?«
»Ich hatte Mittagspause und war sowieso auf dem Weg dorthin.«
Der Polizist nickte mehrmals. »Verstehe«, sagte er und rieb sich das Kinn.
»Haben Sie schon von dem großen Feuer gehört?« Jetzt war es die Polizistin, die ihm eine dieser Fragen stellte, die ihn komplett aus dem Konzept brachten.
Luis bedachte sie mit einem lauernden Blick.
»Welches Feuer? Hat es was mit meinem Bruder zu tun?«
»Wie kommen Sie jetzt auf Ihren Bruder?« Der Polizist holte ein kleines Büchlein aus seiner Tasche und reichte es Luis. »Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, die Sie schriftlich beantworten sollen. Es ist nur ein Spiel. Sie haben natürlich das Recht, dem zu widersprechen. Ich versichere Ihnen, dass wir das hier«, er deutete mit dem Finger auf das Notizbuch und reichte Luis einen Kugelschreiber, »nicht in einem Prozess gegen Sie verwenden werden. Machen Sie mit? Es ist kein reines Frage-und-Antwort-Spiel. Sie dürfen kreativ sein. Ich nenne ein Wort und Sie schreiben das erste auf, was Ihnen dazu einfällt. Es muss auch keinen Sinn ergeben, alles geschieht intuitiv.«
Luis spürte, wie ihm die Galle hochstieg, nickte jedoch.
»Himmel ist …«, begann der Kommissar und spielte mit den Augenbrauen. »Na, kommen Sie, so schwierig ist die Frage doch nicht.«
»Wolkig«, schrieb Luis.
»Sehr einfallsreich.«
»Frau.«
»Mutter.« Leonhards Finger wurden feucht.
»Nicht schlecht.«
»Liebe.«
»Ist tödlich.«
Leonhard Stegmayer lachte auf. »Sie gefallen mir immer besser.«
Luis entspannte sich.
»Mutter.«
»Ist tot.«
»Dennis, setz dich auf den Stuhl«, sagte der Polizist, immer noch mit einem vagen Lächeln auf den Lippen und kühlem, berechnendem Blick.
Luis fiel der Kugelschreiber aus der Hand. Er hob ihn aber sofort wieder auf.
»Was haben Sie gesagt?«
»Nichts. Stuhl.«
»Tisch«, schrieb Luis auf. Dabei veränderte sich seine Schrift. »Ich höre lieber auf, ich muss meinen Sohn von der Schule abholen«, stammelte er und zwängte sich zwischen den beiden hindurch.
»Ach, Herr Bach?«
»Ja?« Luis drehte sich um, sagte dann aber schnell: »Eigentlich heiße ich seit meinem zehnten Lebensjahr Siebert. Das habe ich Ihrer Partnerin schon erzählt.«
»Stimmt.« Der Polizist fasste sich mit einer Hand an den Kopf. »Kann ich mein Notizbuch zurückhaben?«
»Ja, natürlich«, lächelte Luis und streckte seine Hand aus.
»Dürfte ich Sie bitten, mir Ihre Handynummer aufzuschreiben?«
Luis zögerte, schrieb sie aber doch auf. »Bitte schön.«
»Noch etwas.«
»Ja?«
»Wie nah standen Sie und Ihr …«
»Ich und mein Bruder hatten keinen Kontakt mehr. Er kann mir getrost gestohlen bleiben, und ja, Sie hatten recht, ich habe schon mitbekommen, dass das Haus, in dem mein Bruder gelebt hat, abgebrannt ist, kam schließlich oft genug im Radio.«
»Und das berührt Sie nicht?«
»Nein. Sein Ziehvater war ein krankes Arschloch. Ich weiß, wovon ich rede. Mein Bruder tut mir sogar irgendwie leid.«
»Warum?«
»Weil er unter den Fittichen dieses kranken Mannes aufwachsen musste.«
»Wir haben nur Überreste bergen können. Wären Sie bereit, eine Speichelprobe abzugeben, damit wir die Leiche identifizieren können? Den Anblick würden wir Ihnen gern ersparen. Sie sind leider der einzige uns bekannte Verwandte.«
»Das sind Sie Ihrem Bruder schuldig, er soll ja wie ein Mensch bestattet werden.« Die Polizistin berührte Luis sacht an der Schulter.
»Jetzt?«, wollte Luis wissen und bekam von der Polizistin prompt ein durchsichtiges Gefäß in die Hand gedrückt. »Wenn’s sein muss«, erwiderte er resigniert und öffnete den Mund.
Die Polizistin rieb ihm mit dem Stäbchen über die Innenseite der linken Wange und das Zahnfleisch, dann verstaute sie den Träger im Röhrchen.
»Bevor Sie gehen, würde ich gern die Feuerstelle anschauen«, wandte sich der Kommissar erneut an Luis. »Wer weiß, was die Bengel dort noch alles verbrannt haben. Und Sie, liebe Kollegin, fahren zu Pjotr Schukov, vergessen Sie den Datenträger nicht. Hier im Notizbuch steht die E-Mail-Adresse, die er überprüfen soll«, fügte er hinzu. Luis spürte eine ungute Vorahnung in sich aufsteigen.
Der Polizist schlug das Büchlein noch einmal auf und machte Notizen. »Er soll mich auf dem Handy anrufen«, fügte er in demselben beiläufigen Ton hinzu und sah zu Luis. »Kommen Sie, Herr Siebert, zeigen Sie mir den Ort.«