KAPITEL 37
Leonhard fluchte, riss Kommissar Harald Mittnacht vom Kriminaldauerdienst am Arm und stieß dessen Kollegen Georg Bolzen von der Tür weg.
Der verzweifelte, lang anhaltende Schrei eines zu Tode verängstigten Kindes drang durch die Ritzen der verzogenen Tür.
»Bleib ja von der Tür weg. Es ist ganz anders, als es auf den ersten Blick scheint, dort ist kein Kind«, brüllte Leonhard die Männer an.
»Lasst mich hier raus«, kreischte der Gefangene erneut und warf etwas Schweres gegen die Tür.
»Bleib von der Tür weg, Harald, sonst wird es Konsequenzen nach sich ziehen«, drohte er dem Mann, doch dieser ignorierte alles, was Leonhard von sich gab, und quittierte die Androhungen mit einem ausgestreckten Mittelfinger, den er in die Luft hob, ohne sich umzudrehen.
Der bullige Mann langte nach dem Schieber und warf das Schloss auf die Erde.
»Harald, NEIN!« Leonhards unheilvoll dröhnende Stimme schreckte zwei Tauben auf, die mit den Flügeln schlagend davonflogen.
Ein mächtigerer Schlag brachte die Bretter der Hütte zum Ächzen und ließ Harald auffahren und zurücktaumeln.
»Verpisst euch einfach von hier.«
»Geht nicht.« Harald drehte sich um und fixierte Leonhard finster. »Eine Frau hat uns angerufen und um Hilfe –« Noch bevor Harald den Satz beenden konnte, flog die Tür beinahe aus den Angeln und fegte Harald von den Beinen.
Leonhard stand einem Mann gegenüber, der mit Luis nichts mehr gemein hatte. Er glich einem Wahnsinnigen. Die blutunterlaufenen Augen huschten hin und her. Alles geschah wie in Zeitlupe, und dennoch konnte Leonhard nicht auf den Angriff reagieren. Luis hielt etwas Rundes in der Hand – eine Art Besenstiel, der an einem Ende zerborsten war. Erst als ihn der Gegenstand am Kopf traf, begriff Leonhard, dass es sich um ein Bein des Stuhls handelte, dessen Einzelteile auf dem Boden verstreut lagen.
Ein Schuss zerriss die Luft und peitschte an seinem linken Ohr vorbei. Noch im Fallen sah Leonhard, wie Luis auf Georg sprang und ihn einem Raubtier gleich in den Hals biss. Blut spritzte aus der aufgerissenen Wunde und besprenkelte die Erde. Leonhard hörte einen Schrei, der ihm bis ins Mark ging, dann verschwand die Welt hinter weißem Dunst. Auch die Geräusche verloschen, als hätte jemand an der Lautstärke gedreht. Er sank zu Boden, ohne den Aufprall zu spüren, und kugelte sich die rechte Schulter aus, doch das bekam er nicht mehr mit. Auch bemerkte er nicht, dass ein Nagel, der in dem gedrechselten Stuhlbein steckte, seinen Schädelknochen durchdrungen und ein kleines rundes Loch in der rechten Schläfe hinterlassen hatte, aus der schwarzes Blut herausfloss und sein Gesicht rot färbte.