KAPITEL 38
»Guten Morgen«, sagte Ella leise und lächelte ihren Partner an, der in einem weißen Bett lag. Ihr Körper fühlte sich nach der schlaflosen Nacht taub und ausgezehrt an. Jede Muskelfaser schmerzte, selbst das flüchtige Lächeln kostete sie viel Überwindung.
»Was ist passiert?«, murmelte Leonhard und machte Anstalten, sich im Bett aufzurichten, doch sofort begann eines der Geräte zu piepsen.
»Sie sind dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen«, flüsterte Ella mit müder Stimme und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die sich heiß anfühlte.
»Habt ihr ihn gefasst?«
Ella schüttelte enttäuscht den Kopf.
»Und Renate?«
»Nein«, war alles, was Ella erwiderte.
»Haben Sie die Hütte durchsucht?« Trotz des lauten Warngeräusches richtete sich Leonhard im Bett auf und zupfte alle Schläuche von sich weg. Eine Kakofonie an Warntönen erfüllte den Raum. Eine Krankenschwester stürzte herein und wurde von ihm mit »Schalten Sie den Scheiß endlich ab« begrüßt.
»Das dürfen Sie nicht«, stotterte sie, den Zorn unterdrückend, und wollte Leonhard mit sanfter Bestimmtheit zurück aufs Bett drängen.
Er jedoch wischte ihre behandschuhten Hände beiseite und packte Ella am Handgelenk. »Helfen Sie mir auf die Beine, Greenwood, und bringen Sie mir meine Klamotten«, knurrte er.
Die Krankenschwester lächelte zaghaft. »Ihre Sachen sind nicht da. Ihre Kollegin hat sie mitgenommen, da sie blutdurchtränkt waren.« Die Bestürzung in ihren Augen war kaum zu übersehen. Verzweifelt streckte sie die Hand nach dem verletzten Polizisten aus, dessen Kopf mit einer weißen Mullbinde umwickelt war, während er Anstalten machte, das Krankenhauszimmer zu verlassen.
»Was ist passiert, Greenwood? Ich will alle Details, und zwar unverzüglich. Während Sie berichten, fahren Sie mich nach Hause, damit ich mich umziehen kann. Diese Kluft steht mir nicht.« Er zupfte an dem weißen Hemd mit dem dezenten Muster darauf, das im Rücken offen war.
»Sie sind zu schwach«, rief die mit der Situation überforderte Krankenschwester ihnen beinahe flehentlich nach und wählte die Nummer des Sicherheitsdienstes.
Leonhard lief auf nackten Füßen zu den Aufzügen. Ohne Ella eines Blickes zu würdigen, knallte er mit der flachen Hand auf den Rufknopf.
»Luis ist flüchtig. Sein Haus wird permanent überwacht. Sie können doch in so einem desolaten Zustand nicht das Krankenhaus verlassen«, versuchte sie, ihren Kollegen zur Vernunft zu bringen, obwohl sie wusste, dass das nichts nützen würde.
»Was haben Sie noch? Nun lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen«, spornte er sie an, zum Wesentlichen zu kommen. Für Small Talk und gutes Zureden hatte er jetzt keine Zeit. »Greenwood, was haben Sie während meiner geistigen Abwesenheit getrieben?« Er sprach, als wäre sein Kehlkopf entzündet.
»Ich habe seinen Lebenslauf studiert, ich meine den von Luis Siebert. Er war eigentlich eine arme Seele. Tom hat die DNA verglichen. Die beiden Toten sind definitiv der Vater und der Sohn.«
»Was noch?«
»Wir haben mit dem Einverständnis der Mutter eine Probe des kleinen Steven ins Labor geschickt. Die Übereinstimmung zeigt deutlich, dass Luis sein Vater sein könnte. Aber genauso gut auch Dennis. Die DNA von eineiigen Zwillingen ist identisch. Nur wurde der arme Junge in den letzten Jahren von seinem Onkel hinters Licht geführt.«
»Und die Ehefrau? Hat sie etwa nichts gemerkt?«
Der Aufzug kam, sie stiegen ein.
»Doch, aber all die Veränderungen, die in ihr Leben geplatzt sind, haben sie glücklich gemacht. Sie wollte ihren früheren Mann nicht mehr zurückhaben. Sie war glücklich. Ihr Sohn hatte endlich einen Vater, der sich auch um ihn kümmerte. Dennis ging mit ihm sogar auf den Fußballplatz, was der leibliche Vater niemals getan hätte.«
»Wie hat sich diese Larissa die Metamorphose, die ihr Mann durchgemacht hat, erklärt?«
»Gar nicht, sie hat es einfach hingenommen.«
Leonhard spürte eine Ruhe in sich, die zu dieser Situation überhaupt nicht passte. Offensichtlich zeigten die Medikamente immer noch Wirkung.
Sie liefen nach draußen. Ellas Porsche stand direkt vor dem Eingang.
Leonhard setzte sich auf den Beifahrersitz und ließ sich von Ella anschnallen.
»Und ihr habt keinen Hinweis auf Renate gefunden?«
»Doch, sie muss in der Hütte versteckt gewesen sein, während wir sie das erste Mal durchsucht haben. Wir waren gründlich, haben an einigen Stellen auch die Bretter vom Boden hochgenommen, aber das Versteck verbarg sich in der hintersten Ecke des doppelten Bodens – wo wir leider nicht nachgeschaut haben. Auch die beiden Spürhunde konnten sie nicht aufspüren, weil Dennis den Boden mit seinem Urin und Mageninhalt so verunreinigt hatte, dass sie nichts wittern konnten. ›Zu viel Ammoniak‹, hat der Hundeführer gemeint. Wir haben versagt. Wir hätten nicht gedacht, dass er dort jemanden verstecken könnte.«
»Sie sagen, sie war in der Hütte versteckt? Wie ist es Dennis dann gelungen, Renate unbemerkt aus dem Versteck zu holen?« Sein Blick blieb an der Frontscheibe kleben.
»Er kam in der Nacht. Unweit seines Verstecks hatte er ein Feuer gelegt. Er hat zudem einen Obdachlosen mit einem Zehneuroschein bestochen, damit der zu den beiden Polizisten ging und sie mit seiner Geschichte in die Irre führen sollte, was ihm auch gelungen ist. Er ist gerissen. Der Obdachlose hat behauptet, dass vor dem Haus ein Überfall stattgefunden habe, auch hätte jemand versucht, ihn anzuzünden. Bei dem ganzen Tumult konnte Dennis Renate herausholen und sie mitnehmen. So einfach war das.«
»Wir müssen uns jetzt auf Steven konzentrieren. Das Observationsteam soll den Jungen im Auge behalten.«
»Wie bitte?«
»Wen lieben Eltern mehr als sich selbst?«
»Ihre Kinder!«, beantwortete Ella die Frage, ohne zu überlegen. »Aber Dennis ist nicht der leibliche Vater.«
»Ein Kind zu machen ist keine Kunst, dazu braucht man nur ein Spermium und eine Eizelle. Um es zu erziehen, benötigt man auch etwas Hirnmasse und so etwas wie Liebe. Und Dennis liebt seinen Jungen, nur deswegen hat er seinen Bruder getötet. Er sah in dem Jungen das Spiegelbild seines Selbst. Verstehen Sie, er wollte den Jungen beschützen, um ihm sein Schicksal zu ersparen.«