KAPITEL 39
Dennis wartete vor der Schule auf seinen Sohn. Er war seit drei Tagen auf der Flucht, ohne sich recht daran erinnern zu können, warum ihn die Polizei jagte.
Steven lief auf das Tor zu. Er lächelte und winkte zwei Jungs zum Abschied zu. Darauf war Dennis besonders stolz – sein Sohn war kein Außenseiter.
»Papa, ich habe eine Eins in Mathe«, rief ihm Steven zu und wedelte mit einem Blatt, welches er in seiner rechten Hand hielt.
»Das hast du toll gemacht, mein Junge«, lobte Dennis den Jungen und wuschelte ihm durch das blonde Haar.
Sirenen zerschnitten die Luft, die von unzähligen Kinderstimmen erfüllt war. Dennis war hin- und hergerissen.
»Bleiben Sie stehen«, rief eine Männerstimme ihm warnend zu. »Herr Bach, Sie sind verhaftet! Bleiben Sie stehen und nähern Sie sich dem Jungen nicht.« Dennis hörte auf die Warnung, doch sein Sohn rannte ihm direkt in die Arme. Dennis umschlang Steven und hob ihn hoch. Anschließend tat er etwas, das er nicht kontrollieren konnte. Er griff nach hinten, zog eine Pistole aus seinem Hosenbund und hielt den Lauf gegen den Kopf seines Sohnes. Die Waffe hatte er dem Polizisten, dem er ein Stück Fleisch aus dem Hals herausgebissen hatte, aus den Händen gerissen. Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Zum ersten Mal sah er Bilder in seinem Kopf, die er als eine andere Kreatur erlebt hatte.
Er schmeckte Blut, auch die Flucht erlebte er erneut. Renate, diese Frau, nach der die Polizei suchte, hatte er in der Nacht aus der Hütte geholt und sie an einem anderen Ort versteckt.
Sie waren ihm viel zu nahe. Sie wussten ebenfalls, dass er seinen Bruder umgebracht hatte, und dass er nicht Luis Siebert, sondern Dennis Bach hieß. Sie wussten viel zu viel über ihn, weil die blöde Polizistin seine Tagebücher entziffert hatte.
Dennis hielt Steven, den Sohn seines eineiigen Bruders, auf dem Arm und wollte am liebsten in der Erde versinken. Warum blieb ihm dieses Glück, eine Familie zu haben, nicht vergönnt? Warum konnte er keine Kinder in die Welt setzen, warum war er derjenige, der mit diesen Stimmen im Kopf geboren worden war?
»Papa, du tust mir weh«, winselte der Junge, wurde jedoch noch fester umarmt.
Dennis weinte bittere Tränen und schrie: »Haut ab, sonst jage ich dem Jungen eine Kugel in den Kopf, und die ganze Welt darf mir dabei zusehen!« Mehrere Passanten hielten ihre Smartphones auf ihn gerichtet. Einige hatten sogar das Blitzlicht an und blendeten ihn. Dennis lief rückwärts auf seinen Wagen zu und versuchte, alles im Blick zu behalten, was für ihn gefährlich sein konnte.