KAPITEL
42
Das Bild, welches sich Leonhard darbot, war erschreckend. Der Geiselnehmer schrie die Menge an und hielt dem zu Tode erschrockenen Kind die Pistole gegen die rechte Schläfe. Leonhard verspürte an derselben Stelle ein dumpfes Pochen – dort, wo ein rostiger Nagel seinen Schädelknochen durchstoßen hatte. Die Wirkung der Medikamente ließ allmählich nach, der Schmerz schärfte seine Sinne.
Die Gaffer hielten ihre Handys auf das in die Enge getriebene Paar gerichtet und verließen selbst dann nicht ihre Positionen, als sie mehrmals von den Polizisten verwarnt worden waren.
Wir verkommen zu Tieren und verlieren alles, was uns zu Menschen macht
, dachte Leonhard und schüttelte enttäuscht den Kopf.
Empathie und Sympathie bedeuten den meisten nichts. Es sind nur irgendwelche Begriffe im Duden, die erst nachgeschlagen werden müssen, um ihre Bedeutung erklärt zu bekommen.
»Machen Sie verdammt noch mal Platz«, fauchte er und schob einen dicken Mann grob beiseite, ohne sich darum zu kümmern, dass er von dem Fremden wild beschimpft wurde.
»Dennis, ich bin es!«, rief er. »Bitte, tun Sie Ihrem Sohn nichts.« Er wählte jedes Wort mit Bedacht, doch die Emotionen
gingen mit ihm durch. Tränen bahnten sich an, weil ihm das Kind leidtat und die Kopfschmerzen unerträglich wurden.
»Bleiben Sie weg von mir, sonst schieße ich. Ich tue es, ich werde schießen!«, brüllte der Mann. Spucke flog aus seinem Mund. In seinen Augen spiegelte sich blanker Wahnsinn.
Zwei Polizisten wollten Leonhard zurückhalten, doch als sie in ihm den Kommissar von der Mordkommission erkannten, wichen sie zurück.
»Wir machen einen Tausch, Dennis. Ihr Sohn hat es nicht verdient. Er ist ein guter Junge. Sie wollten ihn ja nur beschützen. Jetzt lassen Sie ihn bitte gehen und nehmen mich statt seiner in Ihre Gewalt. Das ist nur fair. Sehen Sie mich an. Ich trage keine Waffe, bin wehrlos und schwer verletzt. Ich stelle keine Gefahr für Sie dar!«
Dennis zögerte. Der Junge hing nicht mehr in seinem Arm. Er stand mit beiden Füßen auf dem Boden und klammerte sich fest an seinen Vater. Beide weinten. Trotz der Waffe, deren Lauf weiterhin auf den Kopf des Jungen gerichtet war, wich der Sohn keinen Schritt von seinem Vater.
Leonhard kratzte an den Heftpflastern an seinem Verband und bekam sie endlich ab. Er wickelte den weißen Streifen von seinem Kopf ab und ließ ihn auf den Boden fallen.
»Greenwood, legen Sie mir Handschellen an!«, rief er.
Seine Kollegin zögerte, doch dann leistete sie seiner Aufforderung Folge. Die Handschellen schnappten ein.
»Sie behalten alles im Auge. Was jetzt zählt, ist, den Jungen unbeschadet hier rauszubekommen«, flüsterte er ihr zu und hob die Arme hoch. »Sehen Sie! Ich bin gefesselt und werde Sie nicht angreifen. Lassen Sie den Jungen gehen. Ich werde mich Ihnen langsam nähern, dann steigen wir beide in Ihren Wagen.« Leonhard spähte zu dem Golf, der unweit auf dem Bürgersteig stand.
»Bleib stehen«, knurrte Dennis und machte einen Schwinger mit der Pistole.
Leonhard verharrte. »Nur nicht die Nerven verlieren, Dennis. Sind Sie es, Dennis? Oder soll ich Luis zu Ihnen sagen?«
Verwirrung machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit. Tränen kullerten aus seinen Augen und hinterließen zwei gezackte Rinnsale.
Leonhard tat einen tiefen Atemzug und machte einen kleinen Schritt nach vorn, die Arme hielt er immer noch gen Himmel gestreckt. Die Wunde an seinem Kopf begann zu bluten. Die Schulter schrie vor Schmerz.
»Keinen Schritt näher«, ermahnte ihn Dennis, doch in seiner Stimme schwang keine Entschlossenheit mit.
»Papa, nein«, winselte der Sohn und drückte sich fest an seinen Vater.
Noch ein Schritt. Warten.
Einundzwanzig, versenkt, zweiundzwanzig, versenkt
, zählte Leonhard die Sekunden in seinem Kopf.
Und noch ein Schritt.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er keine Schuhe trug.
Wie ein Irrer, der aus einer Anstalt geflohen ist
, dachte er und machte noch einen Schritt in Richtung der Gefahr.
»Dennis, warum lassen Sie Ihren Sohn nicht gehen? Ich bin hier, keiner wird Sie angreifen, solange Sie nichts Blödes anstellen. Lassen Sie uns doch bitte in Ruhe über alles reden. Nur Sie und ich, in Ihrem Wagen.«
»Worüber wollen Sie sich denn mit mir unterhalten?«, nuschelte Dennis mit tränenerstickter Stimme.
»Über all das, was Ihr Vater Ihnen angetan hat.« Leonhard fokussierte seine komplette Aufmerksamkeit auf den toten Vater. Er war der Böse. Leonhard versuchte, Dennis zu signalisieren, dass er sein Vorgehen verstehen konnte. »Ich möchte seine kriminelle Entwicklung nachvollziehen können, möchte
wissen, warum er Ihnen so viel Leid zugefügt hat. Kinder sind das Spiegelbild ihrer Eltern. Sie wollen doch ein guter Vater sein, nicht wahr?«
War das ein Nicken
, fragte sich Leonhard und setzte sofort nach. »Steven soll ein guter Mensch werden. Er soll Kinder haben dürfen und Sie später besuchen können. Wollen Sie miterleben, wie Ihre Enkel groß werden?«
Wieder ein Nicken.
»Wie hat Ihre Mutter Sie früher genannt?«, wagte Leonhard einen weiteren psychologischen Schritt, um den Widerstand zu brechen.
»Denny«, winselte der Mann. Die Hand mit der Pistole zitterte. Der Griff, mit dem er den Jungen an sich gepresst hielt, ließ etwas nach.
Leonhards Arme wurden mit jedem Atemzug schwerer. Das Taubheitsgefühl, das anfänglich bloß in den Fingerspitzen zu spüren gewesen war, kroch langsam nach oben und hatte schon die Ellenbogen erreicht. Noch mehr Blut rann aus der Wunde an seinem Kopf und färbte sein Krankenhausgewand stellenweise dunkelrot.
»Sie haben das Haus nur deswegen angezündet, weil Ihnen die Situation zu viel abverlangte. Das zweigleisige Leben wuchs Ihnen über den Kopf.«
»Er wollte es hinter sich bringen«, sprach Dennis mit einer kindlichen Stimme über sich selbst in der dritten Person und machte dazu ein verwirrtes Gesicht. Seine Augen huschten hin und her.
»War Luis böse?«, forschte Leonhard und beschränkte sich auf kurze, prägnante Sätze.
Dennis schien über die Frage nachzugrübeln. »Er hat Stevie geschlagen. Vor Dennis’ Augen. Ins Gesicht, wie das Vater immer getan hat.«
»Denny, hörst du mich? Schau mich an.« Tränen füllten seine traurigen Augen.
Stevens Rücken zuckte krampfhaft, das Kind fürchtete sich. Und Leonhard konnte nichts tun. Wie damals bei seiner ungeborenen Tochter. Aber hier durfte er nicht versagen. Dieser Gedanke trieb ihn weiter an.
»Denny, warum musstest du auf diesen Stuhl?«
»Immer, wenn ich nicht brav war …«, er schluckte schwer, »… immer dann, wenn ich etwas angestellt hatte … oder auch nur mal so, für … für prophylaktische Zwecke, band mich mein Vater daran fest.« Dennis strich Steven über den Rücken und begann, rückwärts zu laufen.
»Denny, warte …« Leonhard senkte langsam die Arme und streckte sie aus, als wollte er Dennis dazu bewegen, stehen zu bleiben. Eine bittende Geste, die ihre Wirkung tat. Tatsächlich blieb der Mann wie angewurzelt stehen. Alles schien stehen geblieben zu sein. Leonhard nahm nichts um sich herum wahr als den Mann und den Jungen. »Jetzt bist du aber brav«, versicherte der Kommissar mit sanfter Stimme. »Dennis hat den Stuhl kaputt gemacht, es gibt keinen Stuhl mehr. Auch dein Vater ist tot. Die Tyrannei hat ein Ende, Denny. Hör auf dein Herz und nicht auf die Stimmen in deinem Kopf. Lass deinen Sohn gehen. Er hat Angst. Er will zurück nach Hause, dein Zuhause, Dennis. Larissa wartet auf euch beide. Lass die Waffe fallen und dir passiert nichts.«
Dennis sprach abwechselnd mit zwei Stimmen. Die Intonation und die Klangfarbe unterschieden sich in allen Facetten. Hinzu gesellte sich die dritte unbeteiligte Stimme eines Kindes. Der Junge in ihm sprach in der dritten Person und nannte ihn beim Vornamen. »Nicht so laut, nicht so laut«, zischte Dennis
mit geweiteten Augen, da er dem Polizisten nicht alle seine Geheimnisse anvertrauen wollte.
Dennis hielt seinen Sohn fest an die Brust gepresst, weil er ihn vor all diesen Menschen beschützen wollte. Er sah dem Geschehen ehrfürchtig zu. Die Sonne knallte unbarmherzig auf seinen Kopf und überhitzte sein aufgebrachtes Gemüt.
»Unter der Aufbietung all meines Geschicks als Kriminologe«, rief ihm der Polizist im Krankenhaushemd zu, »lassen Sie mich Ihnen Folgendes sagen: Das Leben ist etwas, das der Hund aus dem Sand ausgegraben hat, was die Katze kurz davor darin verbuddelt hat.«
Dennis’ Mundwinkel zuckten kurz.
Hatte der Bulle gerade eben gesagt, dass auch sein Leben nichts als ein Stück Scheiße war?
, überlegte er.
»Lassen Sie Ihren Sohn gehen«, bat der Mann dann und hob die Hände an den Mund wie zu einem Gebet. Die Handschellen glänzten in der Mittagssonne. Dennis’ Handgriff wurde lockerer, weil die Pistole zu schwer in seiner Hand wog.
»Dennis«, sprach ihn der Polizist in ernstem Ton wieder an und kam noch näher. Er stand ihm gefährlich nahe.
Dieser Mann hat Courage wie keiner
, dachte Dennis und bewunderte den Mann insgeheim. Er war bereit, sein Leben für das seines Kindes zu opfern. Konnte er ihm tatsächlich trauen?
»Dennis, hör mir zu. Ich werde jetzt deinen Sohn … nein, du lässt deinen Sohn los, er darf zurück zu seiner Mutter. Larissa steht hinter dem Absperrband.«
Dennis sah sich um.
Tatsächlich hatten die Polizisten die Gaffer weggedrängt und den Platz um ihn herum weitläufig abgesperrt. Das Band hing schlaff nach unten.
Dennis stand da wie auf einer Bühne.
Der Polizist tat einen weiteren Schritt.
Dennis löste seinen Griff etwas und flüsterte Steven zu: »Lauf, mein Kind, Papa kommt später nach.« Steven hob seinen Kopf, ihre Blicke trafen sich.
»Gehen wir heute noch Fußball spielen?«, wollte der Junge mit zittriger Stimme wissen und fuhr sich mit dem Handrücken über die verweinten Augen.
Dennis wollte ihn nicht anlügen. Ein dicker Kloß drückte ihm die Luft ab. »Vielleicht morgen.« Dennis rang sich ein Lächeln ab, die Stimmen in seinem Kopf waren wieder weg. Er küsste seinen Sohn auf die feuchte Stirn. Er roch nach Sommer und Sonnencreme, weil er ja so eine helle Haut hatte.
»Steven, ich bin hier«, rief eine Frauenstimme. Tatsächlich, es war Larissa, die von zwei Polizisten festgehalten wurde. Sie winkte ihnen zu. »Dennis, tu ihm nicht weh, lass ihn bitte los.«
Dieser eine Satz brach endgültig den Widerstand in ihm. Er ließ seinen Sohn los. »Steven, lauf zu Mama!« Dennis schob den Jungen von sich. Doch Steven weigerte sich. Die kleinen Hände gruben sich tief in das T-Shirt an Dennis’ Rücken.
»Aber dann werden sie dir wehtun«, jammerte er mit weinerlicher Stimme.
»Nein, werden sie nicht. Hast du nicht gehört, was der Mann versprochen hat?« In dem Moment fiel ihm die Pistole aus der Hand. Dennis ging in die Knie, drückte seinen Sohn ein letztes Mal an sich und schob ihn mit etwas Nachdruck von sich weg.
Steven lief los, blickte sich aber ständig um.
Da löste sich doch noch ein Schuss aus dem Nirgendwo.
Dennis suchte mit den Augen die Gegend ab und ließ seinen Blick über die Gesichter der Polizisten schweifen. Der verrückte Bulle mit den Handschellen war nicht bewaffnet. Er duckte sich und kroch auf Dennis zu.
Dennis’ Beine gaben nach, er fiel seitlich auf den warmen Boden, der sich rot färbte, weil er aus dem Bauch zu bluten
begann. Wie durch einen Nebelschleier sah Dennis einen Mann, der immer noch die Waffe auf ihn gerichtet hielt.
»Das ist für meine Frau und mein ungeborenes Kind, du Schwein!«, brüllte er. Bevor er noch einen weiteren Schuss abgeben konnte, wurde der Typ von mehreren Polizisten überwältigt und zu Boden gerissen. Es war Markus Krakowitz.
Ella war so geschockt von der Situation, dass sie zu keiner Regung fähig war.
Steven lief, nachdem der Knall die Stille zerrissen hatte, zurück zu seinem schwer verletzten Vater anstatt zu seiner Mama. »Papi!«, kreischte Steven und warf sich auf Dennis.
Leonhard war sofort zur Stelle und presste seine Hände gegen das klaffende Loch, aus dem das Blut quoll und das graue T-Shirt des Mannes in ein dunkles Rot tauchte.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit bewegte sich Ella auf den Jungen zu und versuchte, ihn aus der Gefahrenzone zu bringen.
Doch Steven war stärker, als sie angenommen hatte. Er hielt sich mit aller Kraft eines verzweifelten Kindes an seinem Vater fest und wiederholte unentwegt den Satz: »Ich liebe dich, Papa, ich liebe dich, Papa, ich liebe dich.«
Der sterbende Mann verzog seinen Mund zu einem traurigen Lächeln. Die Zähne waren rot vom Blut, in seinen Augen schwammen Tränen. Obwohl er schon so viel Blut verloren hatte, hatte er noch die Kraft, seinen Kopf anzuheben und seinem Sohn einen Kuss auf die Wange zu drücken. Ein rotes Blutmal blieb auf der hellen Haut des Kindes. »Ich liebe dich auch, Stevie …« Er zog den Namen liebevoll in die Länge.
»Kommst du bald nach Hause?«, winselte der Junge.
»Ich glaube nicht, mein Sohn.« Dennis atmete schnell und flach. Blut rann aus seinen Mundwinkeln. Er schluckte und zuckte zusammen.
»Wo bleiben die Sanitäter?«, brüllte Leonhard und presste noch fester gegen das klaffende Loch. Doch Ella wusste, dass alle Maßnahmen vergebens sein würden, darum strich sie dem Kind sanft über den Rücken.
»Steven«, flüsterte sie. Tatsächlich sah der Junge zu ihr. Er suchte nach Bestätigung, dass alles wieder gut werden würde.
»Können Sie meinen Papa wieder heil machen?«
»Nein, mein Schatz«, sagte Dennis und hob seinen rechten Arm, um dem verzweifelten Kind über die Wange zu fahren. »Weißt du noch, als ich dir von der heilen Welt erzählt habe, vom Reich der glücklichen Menschen?«
Steven nickte eifrig und blinzelte schnell.
»Ich werde dorthin gehen und so lange auf dich warten, bis du alt und grau bist. Dann kannst du zu mir kommen.«
»Aber ich will nicht alt und grau werden, ich will bei dir sein.«
»Ich weiß, mein Schatz. Du musst mir versprechen, dass du auf deine Mama hörst und gut in der Schule aufpasst. Später wirst du dich daran erinnern, was ich gesagt habe. Ich werde immer stolz auf dich sein und von oben auf dich aufpassen. Jetzt möchte ich, dass du zu deiner Mama gehst. Sie macht sich bestimmt Sorgen. Sag ihr, dass ich sie über alles in der Welt liebe.«
Ella spürte eine schwache Berührung. Zuckende Finger berührten ihre Hand.
»Bitte bringen Sie meinen Sohn zu seiner Mama«, flüsterte Dennis und verzog seinen Mund zu einem Lächeln. »Bis zum Mond und wieder zurück«, nuschelte er und blinzelte zweimal.
Der Junge tat es ihm nach und stand endlich auf.
Ella ergriff seine kleine Hand und hielt schnellen Schrittes auf die Frau zu, die mit mehreren Polizisten lautstark diskutierte, nein, sie anschrie.
Leonhard beobachtete, wie das Leben aus dem Mann wich. »Dennis, wo haben Sie Renate versteckt? Sie muss nicht sterben. Bitte, verraten Sie mir den Ort. Sie sind kein schlechter Mensch. Es waren die anderen, die Sie zu dem gemacht haben, was Sie sind. Wo ist Renate?«
Das Blut quoll wie heißes Wachs zwischen seinen Fingern hindurch.
Der Sterbende schloss die Augen und schien über die Frage angestrengt nachzudenken.
»Alles endet mit dem Anfang, sonst kann sich der Kreis nicht schließen«, nuschelte Dennis, ohne die Augen zu öffnen.
Leonhard riss sich zusammen, doch sein Hirn fühlte sich so an, als hätte er es durch ständiges Nachdenken wundgescheuert. Das Pochen an der Schläfe tat erbärmlich weh. »Welcher Anfang?!«, röchelte er beinahe und griff mit beiden Händen nach dem Mann und hob seinen Oberkörper an.
Dennis öffnete die Augen und stierte durch Leonhard hindurch. »Um den Anfang zu finden, musst du zurücklaufen«, sagte er noch und hob die Mundwinkel an.
Der Stoff unter Leonhards Fingern gab nach, der Kragen des T-Shirts bekam einen Riss. Erst jetzt bemerkte Leonhard, dass kein Leben mehr im Körper des Mannes war, der mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen in den Himmel starrte.
»Greenwood, Greenwood! Machen Sie mir diese verdammten Handschellen ab«, brüllte Leonhard sie mit weit aufgerissenen Augen an und streckte ihr seine vom Blut roten Hände einem Zombie gleich entgegen. Seine Fingerspitzen waren blutverkrustet, das silberne Haar glänzte an der rechten Schläfe dunkelrot.
Mit zittrigen Fingern fischte Ella den Schlüssel heraus und stocherte in dem kleinen Schlüsselloch herum.
»Machen Sie schon!«, keifte der Kommissar.
»Was hat er zu Ihnen gesagt?«
»Wir sollen an den Anfang gehen, um das Ende zu finden.«
»Kehre zurück, um den Anfang zu finden? Meinen Sie das?«
Mit leichtem Erschrecken sah er ihr in die Augen und rieb sich die Handgelenke.
»Dieser Satz stand beinahe auf jeder Seite seiner Schriften.«
»Was mag er wohl bedeuten?«
»Als Symbol war immer eine Schlange abgebildet, die sich in den Schwanz beißt«, erinnerte sich Ella.
»An welchem Ort hat sich seine Mutter erhängt?«, fragte Leonhard in gedämpftem Ton. »Sollte Renate sein letztes Opfer sein? Sie sieht seiner Mutter am ähnlichsten. Hat er das gemeint?«
»Ich habe alle Seiten auf dem Stick und auf dem Server abgespeichert. Warten Sie …« Sie kramte in der engen Jeans nach ihrem Smartphone.
»Jetzt wird mir so einiges klar«, überlegte Leonhard laut. »Er hatte schon eine Weile den Plan, das Haus seines Vaters abzufackeln. Damit dachte er, all seine Taten dem Bruder, der angeblich im Feuer ums Leben kam, in die Schuhe schieben zu können. Aber er brauchte einen neuen Rückzugsort, wo er den Stimmen weiterhin gehorchen konnte.«
»Sie meinen diese Hütte? Dort, wo er Renate versteckt hielt?«, ergriff Ella das Wort und spann den Gedanken weiter.
»Aber sein Plan wäre beinahe gescheitert.«
»Weil Gisela dafür sorgen wollte, dass den beiden gekündigt wurde.«
»Genau, daher hat er sie aus dem Weg geräumt.«
»Und der Hausmeister?«
»Für uns sollte es so aussehen, als hätte er sich das Leben genommen, weil er dachte, er hätte Gisela umgebracht. Im Suff. Deswegen auch der Knoten, der anders war als bei den toten Frauen. Dennis hat tatsächlich an alles gedacht.«
Ella war wieder in ihr Handy vertieft. Ihr Zeigefinger huschte über das Display.
»Ich glaube dennoch daran, dass Dennis weiter getötet hätte, wenn wir ihn nicht gefasst hätten. Seine Seele war zu kaputt«, sinnierte Leonhard.
»Ich glaube, ich habe da etwas.« Sie hielt das flache Gerät vor Leonhards Augen.
»Was bedeuten diese Zahlen?« Er sah sie fragend an.
»Das sind die Koordinaten des Baumes, an dem seine Mutter gefunden wurde.«
»Sehr gut, Greenwood, lassen Sie uns fahren. Und gaffen Sie mich nicht so an. Natürlich würde ich lieber in einem Anzug anstatt in einem Kleid wie ein Irrer durch die Stadt rasen, aber für modische Überlegungen bleibt uns keine Zeit«, entschied er und hastete leicht taumelnd und barfüßig auf ihr Auto zu.