KAPITEL 43
Renate hörte Stimmen. Sie redeten durcheinander.
Sie nahm auch ein Keifen wahr. War das ein Hund oder ein Wolf? Nein, Wölfe können nicht keifen, oder doch? Ein Wirrwarr an unterschiedlichsten Gedanken schlängelte sich durch ihren Kopf. Sie konnte die Realität nicht von der ausgedachten Welt unterscheiden, in die sie sich seit Stunden verkroch, weil es ihr zu viel Angst machte, hier draußen unter der Erde vergraben zu sein. Sie flüchtete in das weiße Licht und fühlte sich dort schwerelos. Doch ständig holte ihr Verstand sie zurück, so wie jetzt.
Ich halluziniere , überlegte Renate, nachdem das Laubwerk sich über ihr gelichtet hatte und sie einen Mann in einem Kleid vor sich stehen sah. Er sah aus wie Leonhard.
»Es handelt sich nur um eine schlichte Feststellung von Tatsachen«, sagte er an jemanden gewandt, der sich außerhalb von Renates Sichtfeld befand.
Da sah Renate eine zweite Gestalt auftauchen. Es war Ella, ihr Haar glänzte in den gelben Strahlen der Sonne.
»Renate! Schön, dich wiederzusehen. Es wird alles wieder gut werden«, versprach die junge Polizistin und kniete nieder. »Hilfe ist schon unterwegs«, beruhigte Ella sie und lächelte sanft mit leiser Traurigkeit.
Renate warf den beiden einen langen, apathischen Blick zu, weil sie das Flimmern in der Luft nicht zuordnen konnte. »Habt ihr ihn gefasst?«, krächzte sie mit heiserer Stimme. Noch bevor einer der beiden etwas erwidern konnte, leckte sie sich über die rauen Lippen, die an unzähligen Stellen aufgeplatzt waren, und zog in stummem Vorwurf die Augenbrauen ein Stück nach oben. Die linke begann wieder zu bluten. Zwei Schmeißfliegen setzten sich auf die sickernde Wunde, wurden aber sofort von Ella verscheucht.
»Warum hat es so lange gedauert?« Renate starrte Leonhard wütend an.
»Es tut uns wirklich leid, Renate.« Seine Entschuldigung klang ehrlich.
Dann wurden die beiden Polizisten von zwei Sanitätern zur Seite geschoben. Etwas wurde auf ihren Mund und ihre Nase gedrückt. Ihre Lunge füllte sich mit kühlem Sauerstoff. Das kurze Stechen in der linken Ellenbeuge spürte sie kaum, im nächsten Augenblick entglitt ihr die Umgebung und wurde kurz zu einem Aquarellbild, schließlich verschwand sie hinter einem Vorhang aus Nichts.