EPILOG
Ella betrat das Büro und sah ihren Kollegen, wie er mit dem Oberkörper tief über den Tisch gebeugt dastand und mit konzentrierter Miene einen noch zugeklebten Briefumschlag betrachtete. Mit ausgestreckten Armen an die Kante gestützt stand er einfach nur da.
»Ich habe Ihr Kommen bemerkt, Greenwood, kommen Sie rein«, grummelte er ohne jegliche Begrüßung und stieß sich vom Tisch ab. Dann schaute er kurz auf seine Rolex. Bis auf den Verband an seinem Kopf war er wieder der Alte, ein kaum erträglicher Mann mit den Allüren eines launischen Perfektionisten. Er trug heute ein teures blaues Hemd aus feiner Baumwolle und eine helle Hose, dazu auf Hochglanz polierte Lackschuhe. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass sein anmaßender Blick keinerlei Wirkung auf sie ausübte, bewegte er seinen Kopf zuerst nach rechts, schließlich nach links, wobei seine Halswirbel wie trockene Zweige knackten. »Ich muss mir ein neues Kissen kaufen«, murmelte er, richtete einen Stapel Blätter Kante auf Kante und verstaute sie in einem Schnellhefter.
»Sind Sie so weit?«, fragte er in suggestivem Ton. »Heute hätten Sie aber auch etwas Eleganteres anziehen können. Einen Rock und eine Bluse zum Beispiel«, mokierte er sich und tippte
sich an das kantige Kinn, weil er sich nicht sicher war, ob er alles für die bevorstehende Versammlung dabeihatte.
Ella starrte ihn an. »Wollen Sie den Briefumschlag nicht aufmachen?«
Seine Miene veränderte sich. Aus einem von sich überzeugten Besserwisser wurde ein trauriger Mann.
»Werfen Sie ihn einfach in den Papierkorb.«
»Warum? Was ist das überhaupt?«
»Ein Vaterschaftstest«, entgegnete er matt.
»Haben Sie etwa die Frau eines Kollegen geschwängert?«
»Quatsch«, warf er kurz angebunden hin und machte sich daran, das Büro zu verlassen. Ella streifte seinen Arm, woraufhin er dicht vor ihr zum Stehen kam.
»Ihr ungeborenes Kind, das …« Sie ließ den Satz unvollendet. »Und, sind Sie es … ich meine, sind Sie der Vater?« Es kostete sie viel Mühe, diese Frage laut genug auszusprechen.
»Ja«, antwortete er schlicht.
»Aber Sie haben den Briefumschlag gar nicht geöffnet.«
Er zuckte lediglich mit den Schultern. »Es ist nicht wichtig, ein Testergebnis ändert nichts. Ich trage sie schon seit vielen Jahren hier drin.« Er klopfte sich gegen die Brust.
»Was wollten Sie dann mit diesem Test bezwecken?«
»Ich dachte, ich könnte danach endlich abschließen, müsste nicht mehr daran denken, wenn ich Gewissheit hätte, dass ich nicht der Vater bin. Aber das würde nicht funktionieren. Sie ist das Einzige, was ich habe. Ich denke oft daran, was wäre, wenn sie lebte. Wissen Sie – immer, wenn ich allein bin, stelle ich mir vor, wie sie und ich etwas zusammen unternehmen. Danach fühle ich mich jedes Mal besser, weil ich zu solchen Gedanken fähig bin. Es klingt wie aus dem Tagebuch eines Psychopathen, ich weiß, aber haben wir nicht alle einen an der Klatsche?« Er warf ihr ein Lächeln zu, seine Augen begannen zu glänzen.
»Ich nicht«, konterte Ella und lachte kurz und freudig auf.
»Darum drehen Sie ständig an Ihrem Ringfinger, obwohl Sie keinen Ring tragen – immer dann, wenn Sie aufgeregt sind, so wie jetzt«, erwischte er sie eiskalt dabei, wie sie mit Daumen und Mittelfinger ihrer rechten Hand den Ringfinger ihrer Linken berührte.
Schweigen legte sich über den kleinen Raum.
»Haben Sie Zeit? Heute Abend? Wir beide sollten einiges reflektieren, wenn wir weiter miteinander arbeiten wollen.«
»Können wir uns dabei duzen wie ganz normale Partner?«
»Das wird eher schwierig. Wir sind immer noch Kollegen und keine Partner, Greenwood.«
»Sie sind einfach unmöglich, Herr Stegmayer.«
»Das bin ich manchmal gern. Nun lassen Sie uns gehen. Danach fahren wir kurz ins Krankenhaus. Ich habe für Renate einen Blumenstrauß gekauft und möchte, dass Sie ihn ihr überreichen – von uns beiden.«
»Warum denn das?«
»Weil ich nicht will, dass Tom glaubt, ich mache mich an sie ran – jetzt, wo er endlich seine Gefühle für Renate entdeckt hat.«
»Okay. Und … ich denke, ich habe heute Abend Zeit«, sagte Ella.
»Sehr schön, Greenwood, dann an die Arbeit«, beschied sie Leonhard mit monotoner Stimme, warf den Umschlag in den Mülleimer und verließ das Büro, ohne sich umzudrehen.
ENDE