5. KAPITEL

Zwei Wochen später.

„Sí, señor, de acuerdo!“ Enrique, der Fahrer der großen Limousine, hatte Isabel vor etwas mehr als einer Stunde von Lorenzos Anwesen abgeholt, auf dem Louis und sie seit nunmehr einer Woche wohnten. Jetzt beendete er sein Telefonat und wandte sich halb zu ihr um.

„Señor Velásquez wird leider noch im Büro aufgehalten. Er hat mich angewiesen, Sie direkt zum Standesamt zu bringen. Er wird dann nachkommen, so schnell es ihm möglich ist.“

Irgendwie schaffte Isabel es, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern. „Vielen Dank, Enrique“, sagte sie, während es tief in ihr brodelte. Doch der arme Mann konnte ja nichts dafür, dass Lorenzo sie wie einen Dienstboten behandelte. Dabei war heute doch ihr großer Tag!

Sie unterdrückte ein hysterisches Kichern. Ja, ein großer Tag war es in der Tat für sie – wenn auch nicht unbedingt aus den Gründen, die normalerweise damit verbunden waren. Weder fieberte sie dem Moment entgegen, in dem sie Lorenzo das Jawort geben musste, noch sehnte sie sich danach, seinen Ring am Finger zu tragen. Sie wollte das alles eigentlich nur hinter sich bringen – und zwar so schnell es nur ging. Diese Eheschließung war kein Anlass zur Freude, sie war eine Farce. Irgendwie hasste sie Lorenzo, weil er sie dazu zwang, zum zweiten Mal in ihrem Leben einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte und der ihr keinen Respekt entgegenbrachte.

Doch im Grunde war es ja nicht einmal seine Schuld. Er hatte ihr lediglich aufgezeigt, dass sie keine andere Wahl hatte, als auf seine Bedingungen einzugehen. Trotzdem wünschte sie ihn dafür zum Teufel.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Die vergangenen vierzehn Tage waren wie ein seltsamer Traum an ihr vorübergezogen. Alles war so irreal, so unwirklich geblieben. Isabel hatte das Gefühl, in einer völlig fremden Welt, in einem anderen Leben gestrandet zu sein. Wäre Louis nicht gewesen, der etwas Normalität in ihren Alltag brachte, sie hätte schon längst die Orientierung verloren.

Seit dem Abend, an dem Lorenzo mit ihr im Angelo’s gewesen war, hatte sie ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Trotzdem übernahm er Tag für Tag ein Stückchen mehr die Kontrolle über ihr Leben, und das bereitete ihr Angst.

Sein Anwalt hatte sich gleich am nächsten Morgen bei ihr gemeldet, um einen Termin für die Unterzeichnung des Ehevertrags zu vereinbaren. Kurze Zeit später war der Anruf eines Architekten bei ihr eingegangen, der einige Details bezüglich der geplanten Umsetzung ihres Cafés mit ihr besprechen wollte.

Die Dinge, einmal in Gang gekommen, entwickelten sich so rasch, dass Isabel sich mitunter regelrecht überrollt fühlte. Noch immer lieferte sie Louis jeden Morgen bei Estefania ab, ging zur Arbeit ins Lokal und holte ihn dann am späten Nachmittag wieder ab. Doch die Normalität täuschte. In Wahrheit war überhaupt nichts mehr wie zuvor. Ja, manchmal kam es ihr vor, als würde sie das Leben einer völlig fremden Person führen.

Jetzt blickte sie zum Fenster hinaus, ohne ihre Umgebung wirklich wahrzunehmen. Gedankenverloren ließ sie die letzten Tage im Geiste Revue passieren, die sie zu einem nicht unerheblichen Teil damit verbracht hatte, sich gemeinsam mit einem Makler einige infrage kommende Grundstücke für die Umsetzung des Cafés anzuschauen. Da ihr niemand eingefallen war, den sie um Hilfe hätte bitten können, hatte sie Melissa die Verantwortung für das Lokal überlassen müssen. Gern hatte sie es allerdings nicht getan, wusste sie doch aus Erfahrung, dass sie sich auf ihre junge Angestellte nur in sehr begrenztem Maße verlassen konnte.

Zum Glück hatte sie inzwischen ein geeignetes Stück Land gefunden, dessen Lage ihr geradezu perfekt erschien. Direkt am anderen Ende der Bucht gelegen, befand es sich dicht genug am vorherigen Standort des Café del Playa, um nach wie vor die Stammkunden anzulocken. Durch die große Nähe zur Ortschaft und dem Hotelkomplex, den Lorenzo plante, würde sich darüber hinaus sicherlich mehr Laufkundschaft als zuvor zu ihnen verirren.

Das bedeutete, die Umsetzungsarbeiten konnten nun bald beginnen. Makler und Architekt hatten versprochen, sich um die notwendigen Formalitäten zu kümmern. Da Lorenzo auch auf Menorca einigen Einfluss besaß, war ihr versichert worden, dass alle Anträge im Nu bewilligt sein würden. Und dann konnte endlich der Startschuss fallen.

Im Grunde gab es für Isabel eigentlich nur Anlass zur Freude – wäre da bloß diese verflixte Hochzeit nicht gewesen. Wie ein dunkler Schatten schwebte der Gedanke, mit Lorenzo eine Vernunftehe eingehen zu müssen, über ihr. Und mit jedem Tag, den der Augenblick der Wahrheit näherrückte, wuchs auch ihre Anspannung.

Immer wieder hatte Isabel sich versucht gefühlt, die ganze Sache doch noch abzublasen. Es kam ihr so einfach vor. Sie musste nur sagen, dass sie es sich anders überlegt habe. Nur, wem wäre damit geholfen? Leider hätte ein solcher Rückzug keines ihrer zahlreichen Probleme auch nur im Ansatz gelöst.

Zum Glück tat sich wenigstens Louis nicht schwer damit, Lorenzo zu akzeptieren. Ihre größte Angst war es gewesen, ihrem Sohn nicht beibringen zu können, dass seine Mutter einen wildfremden Mann zu heiraten gedachte, um das Erbe seines leiblichen Vaters für ihn zu retten. Doch erstaunlicherweise hatte der Fünfjährige ganz normal reagiert.

„Erinnerst du dich noch an Señor Velásquez?“, hatte sie ihn einfach gefragt.

„Der nette Mann, der mir sein Hündchen zeigen wollte?“ Louis’ Augen fingen an zu leuchten, als er nickte. „Pancho?“

„Genau der. Der Name des Mannes ist Lorenzo, und … weißt du, Lorenzo hat zwar seinen Pancho, aber ansonsten ist er sehr einsam. Er hat keine Familie: keine Mommy, keinen Daddy, keine Frau und keine Kinder. Und weil er immer so schrecklich allein ist, hat er mich gefragt, ob wir nicht vielleicht für eine Weile seine Familie sein möchten.“

„Aber das geht doch gar nicht“, hatte Louis stirnrunzelnd erwidert. „Oder?“

„Natürlich nicht. Aber wir könnten ja so tun, als ob es möglich wäre. Wir würden dann in seinem tollen Haus wohnen und …“

„Zusammen mit seinem Hund?“

Nachdem Isabel diese Frage zu Louis’ Zufriedenheit beantwortet hatte, gab es für ihren kleinen Sohn kein Halten mehr. Er lief sofort auf sein Zimmer, um die Sachen zu packen, die er unbedingt mitnehmen wollte. Danach blieb er bis zum Abend, als Lorenzos Fahrer sie schließlich abholte, so aufgekratzt, dass er keine Sekunde still sitzen konnte und schließlich auf dem Rücksitz der silberfarbenen Limousine, mit dem Kopf auf Isabels Schoß, vor Erschöpfung einschlief.

Als Isabel das Haus zum ersten Mal sah, traf es sie wie ein kleiner Schlag. Sie hatte zwar gewusst, dass Lorenzo reich war – aber nicht wie reich. Auf einer Hügelkuppe errichtet, hob sich das dreistöckige Gebäude strahlend weiß wie eine Perle gegen den Himmel ab. Mit seinen strengen, eckigen Formen wirkte es sehr modern. Die großen Fensterfronten waren verspiegelt, sodass sich schillernd das Sonnenlicht in ihnen brach.

Es war ein eindrucksvoller Anblick. Doch Isabel verspürte prompt ein leises Gefühl von Unbehagen. So komfortabel und luxuriös das Gebäude auch sein mochte, es wirkte inmitten der blühenden Landschaft auf sie wie ein hässlicher Schandfleck, drohend und einschüchternd.

Auf Louis schien es hingegen diesen Eindruck nicht zu machen. Er sprang sofort aus dem Wagen, als Enrique auf der mit Kies gestreuten Einfahrt parkte, und schaute sich mit staunenden Augen um. Isabel selbst zögerte zwar noch einen Moment, stieg dann aber ebenfalls aus.

Wild wachsende Mandel- und Zitronenbäume reichten unmittelbar an das von einem schmiedeeisernen Zaun umgebene Grundstück heran. Es gab blau blühenden Rosmarin und gelben Ginster – doch nur außerhalb der Begrenzung. Der Garten des Anwesens bestand aus einem sorgsam gepflegten sattgrünen Rasen und hellgrauen Steinplatten, die einen nierenförmigen Swimmingpool einfassten, dessen Wasser in einem geheimnisvollen Türkisblau glitzerte.

Der Eindruck kühler Strenge setzte sich auch im Innern des Gebäudes fort. Alles wirkte modern und stylish. Doch Isabel glaubte nicht, dass Lorenzo auch nur ein einziges Möbelstück eigenhändig ausgesucht hatte. All dies trug die Handschrift eines Innenarchitekten, der viel Wert auf ausgefallenes Design in kalten Farben legte.

Während der ersten Nächte in ihrer neuen Umgebung bekam Isabel kaum ein Auge zu. Es war, als würde sie immerzu unter Hochspannung stehen. Und obwohl sie Lorenzo in der ganzen Zeit so gut wie gar nicht zu Gesicht bekam, wuchs ihre Nervosität mit jedem Tag, den ihr gemeinsamer Termin auf dem Standesamt von Mahón näherrückte.

Und jetzt war es schließlich so weit. An diesem Tag würde sie Lorenzo heiraten.

„So, da wären wir, Señora“, sagte Enrique und riss sie damit aus ihren Gedanken. Dann stieg er aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Tür.

Isabel ergriff die helfende Hand, die er ihr hinhielt, zu gern, denn sie hatte so weiche Knie, dass sie froh war, sich überhaupt auf den Beinen halten zu können, und ihre Fingerspitzen fühlten sich eiskalt an. Sie war froh, dass sie Louis bei Estefania gelassen hatte. Es war ihr irgendwie nicht richtig erschienen, ihn zu dieser Farce von einer Hochzeit mitzunehmen. Außerdem sollte er nicht mitbekommen, wie aufgewühlt und durcheinander seine Mutter war. Ihm gegenüber hatte sie lediglich erwähnt, dass sie „Onkel“ Lorenzo einen Gefallen taten, indem sie eine Weile lang seine Familie spielten. Er brauchte ja nicht unbedingt zu erfahren, dass sie ihn dazu heiraten musste.

Weißt du wirklich, was du da tust?

Sie kämpfte gegen den heftigen Drang an, sich einfach umzudrehen und die Flucht zu ergreifen. Stattdessen strich sie den Rock ihres silbergrauen Etuikleids glatt, straffte die Schultern und zauberte ein Lächeln auf die Lippen. Sie würde das hier einigermaßen mit Anstand hinter sich bringen, immerhin hatte sie gar keine andere Wahl.

Es ist nur eine Formalität, rief sie sich in Erinnerung. Nur eine Unterschrift auf einem Blatt Papier. Wenn es vorbei ist, kannst du Louis und Estefania abholen und etwas Schönes mit ihnen unternehmen. Du wirst sehen, es ist ganz einfach!

Warum hatte sie dann aber das Gefühl, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen? Nervös warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach halb elf, und ihr Termin war für elf Uhr angesetzt.

„Señor Velásquez wird sicher jeden Moment kommen“, versuchte Enrique sie zu beruhigen. Er ahnte ja nicht, dass sie inständig hoffte, Lorenzo würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. So eindringlich die Stimme der Vernunft ihr auch klarmachte, dass diese Heirat ihre einzige Chance darstellte, zu retten, was noch zu retten war – ihr Herz sprach eine andere Sprache. Es sagte ihr, dass sie im Begriff stand, ihre Seele zu verkaufen.

War das Café ein solches Opfer wirklich wert? Würde sie ihr Gesicht je wieder im Spiegel ertragen können, wenn sie dafür all ihre Prinzipien einfach über Bord warf? Und dann dachte sie an Louis und daran, dass er seinen leiblichen Vater niemals kennenlernen würde. Würde er ihr jemals verzeihen, wenn er eines Tages erfuhr, dass sie seinen Vater auf dem Gewissen hatte? Dass sie zumindest eine kleine, nicht wegzuleugnende Teilschuld trug?

Isabel fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie hörte sich mit Jorge streiten, so heftig wie noch nie zuvor. Sah seinen wütenden Blick, der in Entsetzen umschlug, als sie die Worte sagte, die sie niemals wieder zurücknehmen konnte …

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Señora?“

Enriques Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie war froh darüber, denn manchmal bekamen die Dämonen ihrer Vergangenheit eine solche Macht über sie, dass es ihr schwerfiel, wieder in die Realität zurückzukehren.

Sie spürte, wie ihr Lächeln flatterte, als sie sich Lorenzos Fahrer zuwandte. „Ich … Sie brauchen wirklich nicht hier mit mir zu warten, Enrique. Machen Sie ruhig eine Pause. Hier in der Gegend gibt es ein recht ordentliches Lokal, in dem man frühstücken kann – mit Ausnahme des Café del Playa bekommen Sie dort die besten Churros auf ganz Menorca.“

Enrique erwiderte ihr Lächeln strahlend. „Muchas gracias, aber Sie und der Patrón werden heute heiraten. An einem solchen Tag darf man nicht allein sein, Señora. Sie sollten von lieben Menschen umgeben sein, mit denen Sie Ihr Glück teilen und die sich für Sie freuen.“

Isabel seufzte bedrückt. Sicher meinte Enrique es nur gut. Doch seine Worte machten ihr einmal mehr klar, wie grundverkehrt das war, was sie zu tun im Begriff stand. Sie wandte den Blick ab, damit Enrique die Tränen nicht sehen konnte, die in ihren Augen schimmerten. Im selben Moment wurden die breiten Schwingtüren des Standesamtes aufgestoßen, und eine Menschentraube verließ das Gebäude. Dem jungen Paar, das vorweg ging, war sein Glück förmlich anzusehen. Die Braut hatte bereits das weiße Hochzeitskleid an, das sie später in der Kirche tragen würde. Der Bräutigam im taubengrauen Anzug konnte kaum den Blick von seiner jungen Frau wenden. Hand in Hand stiegen sie die niedrigen Stufen zur Straße hinunter, wo schon eine weiße Limousine für sie bereitstand. Um sie her überall lachende, fröhliche Menschen, die mit der Sonne um die Wette zu strahlen schienen.

Genau davon hatte Enrique gerade eben gesprochen. Und es zerriss Isabel schier das Herz, dass sie selbst wohl niemals etwas Derartiges erleben würde. Bei ihrer Hochzeit mit Jorge war sie bereits im fünften Monat schwanger gewesen. Es war trotz zahlreicher Gäste eine nüchterne und trostlose Zeremonie geworden. Jorges Eltern hatte ihn dazu gedrängt, Isabel, die ein Kind von ihm erwartete, zu heiraten. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie diese auch als Familienmitglied akzeptierten. Bis zuletzt war die Beziehung zwischen ihr und ihren Schwiegereltern unterkühlt geblieben. Und seit Jorges Unfall hörte Isabel eigentlich nur noch von den beiden, wenn sie ihren Enkel sehen wollten. Selbst bei diesen seltenen Gelegenheiten ließen die beiden sie spüren, dass sie ihr die Schuld am Tod ihres Sohnes gaben.

Nun, zumindest das brauchte sie bei Lorenzo nicht zu befürchten. Schließlich ging es hier, soweit es ihn betraf, nur um ein geschäftliches Arrangement. Eine Zusammenarbeit auf Zeit, mehr ein Anstellungsverhältnis als eine echte Ehe.

Die wenigen Male, die sie Lorenzo seit ihrem Einzug in seine Villa gesehen hatte, war er nicht müde geworden, genau das zu betonen. Und er hat ja recht, sagte sie sich, du solltest wirklich aufhören, die ganze Sache so schwerzunehmen. Einige Monate mit Louis in Luxus und Überfluss zu leben kann doch nicht so schrecklich sein – oder?

Doch für Isabel war das nicht so einfach. Nach der Katastrophe mit Jorge hatte sie sich geschworen, dass es, wenn sie noch einmal heiratete, nur aus Liebe geschehen würde. Und nun?

Endlich traf Lorenzo ein. Begleitet wurde er von seinem Rechtsanwalt, Ricardo del Reyes, den Isabel bei der Unterzeichnung des Vorvertrags bereits kennengelernt hatte.

„Wir haben uns leider verspätet“, sagte er. „Ich nehme an, du bist so weit?“

Isabel konnte über seine aufgesetzte Fröhlichkeit nur den Kopf schütteln. Oder war sie etwa echt? Wieder fragte sie sich, was für einen Nutzen er aus dieser Hochzeit ziehen würde. Was steckte hinter all dem?

„Ich will es einfach nur hinter mich bringen“, erklärte sie müde. „Je schneller diese Farce vorüber ist, desto besser.“

Er bedachte sie mit einem ungnädigen Blick. „Es ist deine Entscheidung, Isabel. Noch steht es dir frei, umzukehren. Doch sofern du dich zu diesem Schritt entschließt, erwarte ich von dir, dass du endlich aufhörst, dich selbst zu bemitleiden. Nicht jeder bekommt vom Schicksal eine solche Chance auf dem Silbertablett serviert.“

Seine Worte machten Isabel sprachlos. Was sollte sie darauf auch erwidern? Sie beschloss, lieber zu schweigen. Im Grunde genommen hatte er ja sogar recht: Sie hatte sich entschieden, auf Lorenzos Angebot einzugehen – jetzt musste sie auch mit den Konsequenzen zurechtkommen.

Sie hakte sich bei ihm unter, und als er sich anschließend in Bewegung setzte und sie ins Standesamt führte, kam sie sich vor wie eine Schlafwandlerin. Das Geräusch ihrer Schritte auf dem polierten Marmorboden hallte in ihren Ohren wider, während ihr Herz immer heftiger klopfte. Verzweifelt kämpfte sie gegen den Drang an, sich loszureißen und davonzulaufen. Stattdessen klammerte sie sich an Lorenzos Arm wie an einen rettenden Fels in der Brandung.

Der Standesbeamte erwartete sie bereits. Mit einem freundlichen Lächeln bat er sie, Platz zu nehmen, worüber Isabel froh war, denn sie wusste nicht, wie lange ihre Beine sie noch tragen würden.

Von der Zeremonie selbst bekam sie kaum etwas mit. Die Worte des Standesbeamten rauschten einfach an ihr vorbei, ohne dass sie deren Bedeutung wirklich begriff. Und so verpasste sie um ein Haar ihren Einsatz, als die entscheidende Frage gestellt wurde.

Isabel blinzelte heftig, als Lorenzo sie unauffällig mit dem Knie anstieß.

„Die Aufregung, nicht wahr?“ Der Standesbeamte lächelte milde. „Ich schlage vor, ich fange einfach noch einmal an: Wollen Sie, Isabel Culbraith, mit Lorenzo Velásquez den Bund der Ehe schließen, so antworten Sie mit Ja.“

Isabels Kehle war wie zugeschnürt. Sie zögerte. Dies war ihre letzte Chance. Wenn sie jetzt umkehrte, würde sie zwar alles verlieren, was sie sich im Verlauf der vergangenen Jahre aufgebaut hatte, aber sie wäre frei.

Doch was sollte sie mit dieser Freiheit anfangen? Wie sollte sie Louis großziehen? Wie ihn ernähren? Nein, es blieb kein anderer Weg. Sie musste es tun.

„Ja“, stieß sie heiser hervor. „Ja, ich will.“

Der Standesbeamte stellte dieselbe Frage nun auch Lorenzo, der sie, ohne auch mit der Wimper zu zucken, mit Ja beantwortete.

„So erkläre ich euch hiermit mittels der mir vom spanischen Staat verliehenen Autorität zu Mann und Frau.“ Er wandte sich lächelnd an Lorenzo. „Sie dürfen die Braut jetzt küssen, Señor Velásquez.“

Isabel rauschte das Blut in den Ohren, und ihre Augen schwammen in Tränen. Dies war der absolute Tiefpunkt ihres Lebens. Nach außen hin wirkte sie vermutlich wie eine von Glück und Liebe entrückte Braut – doch innerlich fühlte sie sich wie ausgebrannt. Und als Lorenzo sie an sich zog, um sie zu küssen, war sie sicher, dass sie dabei nichts anderes empfinden würde als Trauer und Kälte.

Umso größer war die Überraschung, als seine Lippen schließlich ihre berührten. Die Intensität der Gefühle ließ sich mit Worten nicht beschreiben. Es war, als würde sie eine Hülle aus Eis abschütteln und hinein in gleißendes Sonnenlicht tauchen. Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen, und das Rauschen in ihren Ohren verstärkte sich. Sie bekam ganz weiche Knie – doch dieses Mal nicht vor Entsetzen. Unwillkürlich legte sie ihm die Arme um den Nacken und schmiegte sich an ihn.

Bis sie sich plötzlich daran erinnerte, wo sie war und was sie gerade machte. Hastig machte sie sich wieder von Lorenzo los. Ihr brannten die Wangen vor Beschämung, und sie wich dem Blick ihres frisch angetrauten Ehemannes aus, wollte dessen selbstzufriedenes Grinsen nicht sehen.

Sekunden später erstarrte sie, als er ihr von hinten das Haar aus dem Gesicht strich und dabei federleicht ihre Haut mit den Fingerspitzen streifte. „Wir sollten das unbedingt später fortsetzen“, raunte er ihr so leise zu, dass nur sie es hören konnte, ehe er sie freigab.

Nein, mein Lieber, nicht mit mir.

Entschlossen straffte sie die Schultern und näherte sich dem Tisch des Standesbeamten, um die Heiratsurkunde zu unterzeichnen. Sie ertrug seine freundlich gemeinten Glückwünsche ebenso mit einem Lächeln wie die Gratulation von Ricardo del Reyes und Enrique. Dabei konnte sie immer nur an eines denken.

Lorenzo hatte ihre Verwirrung ebenso ausgenutzt wie ihre Verzweiflung aufgrund der katastrophalen finanziellen Situation ihres Cafés. Dieser Mann kannte offenbar keinerlei Skrupel. Er nahm sich einfach, was er wollte. Doch damit, das schwor sie sich in diesem Moment, musste nun Schluss sein. Sie hatte ihren Teil der Vereinbarung erfüllt, und genau das würde sie auch weiterhin tun – nicht weniger, aber gewiss auch nicht mehr. Ganz gleich, wie sehr sie sich körperlich auch zu Lorenzo hingezogen fühlen mochte. Es musste reichen, dass er ihr den Stolz und die Selbstachtung genommen hatte. Ihr Herz würde er nicht bekommen.

„Was willst du jetzt unternehmen?“, fragte Lorenzo, als sie etwas später zusammen in der Limousine saßen.

Überrascht schaute Isabel ihn an. „Unternehmen? Ich dachte … Hast du denn nicht zu arbeiten?“

Er lachte auf. „Ich werde mir am Tag meiner Hochzeit doch wohl ein paar Stunden für meine Braut Zeit nehmen dürfen! Also? Hast du irgendwelche speziellen Wünsche, oder willst du dich lieber von mir überraschen lassen?“

Isabel zögerte. Sie hatte nicht erwartet, dass ihm daran gelegen sein würde, ihre Eheschließung zu feiern. Warum auch? Schließlich handelte es sich doch – er war nicht müde geworden, das zu betonen – um ein rein geschäftliches Arrangement. Wenn sie jedoch ehrlich war, dann freute sie sich schon ein wenig darüber, dass ihr Hochzeitstag nun doch nicht ganz so nüchtern und trostlos ablief wie vermutet.

Auch wenn es ihr möglicherweise schwerfallen würde, Abstand zu wahren.

„Ich weiß etwas“, sagte Lorenzo, beugte sich vor und raunte Enrique etwas zu, der sofort nickte.

„Was hast du vor?“, wollte Isabel wissen, als der Chauffeur den Wagen wendete. „Wo fahren wir hin?“

„Warte es ab – es ist nicht sehr weit.“

„Und? Was sagst du?“

„Das ist … einfach atemberaubend!“, antwortete Isabel wahrheitsgemäß, während sie staunend die gewaltigen Megalithbauten betrachtete. Es erschien ihr nur schwer vorstellbar, wie Menschen in vorchristlicher Zeit es vollbracht hatten, diese tonnenschweren Steine so aufeinanderzuschichten, dass sie bis zum heutigen Tag fest und sicher an Ort und Stelle standen. „Da bin ich nun schon fast mein ganzes Leben auf Menorca und habe diese erstaunlichen Bauwerke noch niemals gesehen. Gut, dass Orte wie dieser hier vor skrupellosen Menschen geschützt werden, die nur darauf aus sind, das schnelle Geld zu machen.“

Er schnitt ein Gesicht. „Wenn du damit auf mich und mein Hotelprojekt anspielst …“

„Ich weiß wirklich nicht, wie du darauf kommst“, behauptete sie unschuldig, dabei hatte sie natürlich genau das gemeint.

Die Vorstellung, dass in ihrer Bucht schon bald ein riesiger Gebäudekomplex entstehen sollte, bereitete ihr noch immer Bauchschmerzen. Sie liebte die unverfälschte, ursprüngliche Natur dort. Wenn Lorenzo seine Pläne allerdings realisierte, würde davon in einigen Monaten nicht mehr viel übrig sein.

Sie hatte für sich beschlossen, alles zu versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass er im Begriff stand, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen. Wenn ihr das gelang, dann hatte ihre Vernunftehe mit Lorenzo zumindest etwas Gutes bewirkt. Doch für den Augenblick wollte sie nicht weiter nachsetzen. „Wir müssen unbedingt einmal zusammen mit Louis herkommen“, sagte sie, ohne weiter auf seine Bemerkung einzugehen. „Er ist ganz vernarrt in solche Dinge. Ich … huch!“

Isabels Blick war so gefesselt von den gewaltigen Megalithen, dass sie ganz vergessen hatte, auf den Boden zu ihren Füßen zu achten. Und so wurde ihr eine verlassene Kaninchenhöhle zum Verhängnis, in der ihr rechter Fuß plötzlich wegsackte.

Sie begann mit den Armen zu rudern, verlor dann mit einem leisen Aufschrei das Gleichgewicht – und fand sich den Bruchteil einer Sekunde darauf in Lorenzos Armen wieder. Ihr stockte der Atem.

Lorenzo mit einem Mal derartig nah zu sein war einfach zu viel für sie. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass sie glaubte, man müsse es auf der ganzen Insel hören. Sein unglaublich würziger Duft hüllte sie ein, raubte ihr die Sinne.

Und schon konnte sie an nichts mehr denken als daran, wie wunderbar es sich anfühlte, sich an seine breite Brust zu schmiegen, seine Wärme zu spüren, seinen Geruch einzuatmen. Es dauerte einige Sekunden – Minuten? Stunden? –, ehe sie es schaffte, den Bann zu brechen.

„Ich …“ Sie räusperte sich vernehmlich und schob ihn von sich fort. „Vielen Dank, das war Rettung in letzter Sekunde.“

Er sah sie an. Der Blick seiner graublauen Augen schien sie zu durchdringen. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr bis auf den Grund ihrer Seele schauen konnte. Es war ein seltsames, unheimliches, aber auch sehr erregendes Gefühl. Ob ihm wohl bewusst war, was er mit ihr anstellte? Ging es allen Frauen in seiner Gegenwart so, oder passierte es nur ihr?

Lorenzo stand direkt vor ihr. Wenn sie die Hand ausstreckte, konnte sie ihn berühren. Doch sie war wie gelähmt und zuckte auch nicht zurück, als er langsam die Hand hob und wie in Zeitlupe mit den Fingerspitzen die Konturen ihres Gesichts nachzeichnete. Aufseufzend schloss sie die Augen. Nie hätte sie geglaubt, dass eine so hauchzarte, federleichte Berührung eine solche Wirkung auf sie ausüben könnte. Es war, als würden ihre Nervenbahnen in Flammen stehen. Flüssiges Feuer schien im Rhythmus ihres Herzens durch ihre Adern zu pulsieren. Ihr war heiß und kalt zugleich, und ihre Knie waren so weich, dass sie nicht wusste, wie lange sie sich noch auf den Beinen zu halten vermochte.

Als sie die Lider wieder hob, war sein Gesicht ganz dicht vor ihrem. Sie meinte seine Lippen beinahe schon auf ihren zu spüren und fühlte die Wärme seines Atems. All ihre Bedenken waren wie weggewischt. Pures, unverfälschtes Verlangen hatte sich ihrer bemächtigt. Und plötzlich wollte sie mehr. Sie wollte, dass er sie küsste. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so sehr herbeigesehnt. Und das ausgerechnet von einem Mann, der sie weder achtete noch respektierte. Aber hatte sie nicht immer schon ein gutes Händchen darin gehabt, sich den Falschen auszusuchen?

Das Herz schlug ihr jetzt bis zum Hals. Sie konnte nicht anders, als ihn wie gebannt anzusehen. Der Blick seiner blaugrauen Augen hielt sie gefangen. Es kam ihr vor, als wäre sie in einen tiefen, klaren See eingetaucht, dessen kühles Blau sie durchdrang. Es gab ihr das Gefühl von Leichtigkeit, ja sogar Schwerelosigkeit. Sie spürte, dass das, was sie tat, gefährlich war. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie die glitzernden Sonnenflecken an seiner wirbelnden Oberfläche hinter sich lassen und sich in seinen unergründlichen Tiefen verlieren.

Und dann – endlich – küsste er sie.

Es war nicht das erste Mal. Genau genommen hatte er sie schon einmal geküsst und sie damit bis in die Grundfesten ihres Selbst erschüttert. Und doch war es zuvor nicht so gewesen wie jetzt.

Der Boden unter ihren Füßen fing an zu wanken, als sich Lorenzos Lippen auf ihren Mund senkten. Es begann mit einem leichten, kaum spürbaren Vibrieren, das von ihrem Körper aufgenommen wurde, der es bis in die entferntesten Nervenbahnen transportierte. Oder war es genau umgekehrt? Sie konnte es nicht sagen. Nur eines wusste sie mit absoluter Sicherheit: Selbst wenn die Welt um sie her versunken wäre, sie hätte es kaum bemerkt.

Unwillkürlich schob sie die Hände in sein dichtes, glänzendes Haar, das sich wie Seide unter ihren Fingerspitzen anfühlte.

„Lorenzo!“, stöhnte sie heiser, als er ihren Mund freigab und die Lippen über ihren Hals gleiten ließ. Ihre Knie gaben nach, doch Lorenzo hielt sie und bettete sie behutsam auf das von der Sonne warme Gras.

Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Ihr war schwindelig, als hätte sie zu viel Wein getrunken oder sich zu schnell im Kreis gedreht.

Was tust du hier? Hast du den Verstand verloren, dich auf dieses Spiel einzulassen, bei dem du am Ende nur verlieren kannst?

Doch auch dieses letzte Aufbäumen der Vernunft verpuffte wirkungslos, als Lorenzo sich neben sie legte. Sie sah den strahlend blauen Himmel über sich, an dem träge Wolken, die wie Berge aus Zuckerwatte aussahen, entlangzogen, und plötzlich verspürte sie einen ungekannten Drang nach Freiheit. Sie wollte jetzt einfach nicht vernünftig sein. Ein einziges Mal in ihrem Leben wollte sie nicht an mögliche Konsequenzen denken müssen, sondern sich einfach nur fallen lassen und …

Ein lautes, misstönendes Schrillen ließ die Seifenblase, in der sie beide sich befunden hatte, zerplatzen und schleuderte sie brutal in die Realität zurück.