Erpressung aus der Vergangenheit

Francescas flapsige Art war verflogen, als sie vor dem Palazzo standen. Bei Tag war er richtig eindrucksvoll: Die Mauern waren rosafarben verputzt, die Fenster und Türen und der Dachfirst mit hellen Platten und kunstvoll gehauenen Ornamenten aus Stein eingefasst.

Dominik fielen die Fenster im untersten Geschoss auf. Sie waren mit Gittern aus fingerdicken Eisenstangen gesichert. Hinter den Gitterstäben verhinderten Fensterbilder aus gefärbten Glasstücken den Blick ins Innere des Palazzo.

Die weiß gestrichene Eingangstür wurde von zwei Säulen flankiert, die ein steinernes Vordach trugen. Ohne dass Francesca klingeln musste, schwang die Tür auf.

Eine schlanke Frau mit schulterlangem grauem Haar kam aus dem Palazzo und blieb einen Meter vor Francesca stehen. Sie musterte sie von Kopf bis Fuß, verschränkte die Hände vor der Brust und atmete tief und erleichtert durch. Keiner von beiden sprach ein Wort.

Die Frau legte Francesca eine Hand auf die Schulter. An jedem Finger trug sie einen Ring. Sie waren aus Silber und mit großen Edelsteinen besetzt.

„Das sind meine neuen Freunde, Donatella!“, erklärte Francesca. Sie entwand sich dem Griff der Großmutter und deutete auf die vier Knickerbocker. „Bei ihnen durfte ich übernachten.“

Donatella nickte der Bande kurz zu, ohne dabei zu lächeln. Damit war die Begegnung für sie beendet und sie wollte mit Francesca hinter der Tür verschwinden.

Schnell sagte Lilo: „Du hast unser Zimmer gesehen, jetzt wollen wir auch deins sehen. Das hast du versprochen.“ Sie hoffte, endlich mehr über den rätselhaften Brief aus der Vergangenheit zu erfahren.

„Stimmt, das habe ich versprochen!“, bestätigte Francesca.

„Das ist gerade wirklich ungünstig“, sagte ihre Großmutter.

„Aber du bestehst doch immer darauf, dass wir unsere Versprechen auch halten!“ Francesca redete absichtlich auf Deutsch, damit die Bande alles verstand und ihre Großmutter nicht so einfach Ausflüchte finden konnte.

„Na gut. Aber nur zehn Minuten“, gab sich Donatella geschlagen.

Axel sagte hastig: „Dominik und ich bleiben draußen.“ Seine Freunde warfen ihm erstaunte Blicke zu. „Wir sehen uns den Kanal an“, raunte er.

Lilo streckte den Daumen in die Höhe und nickte kurz.

Im Palazzo war es eisig kalt. Sie befanden sich in einem weitläufigen Gewölbe mit spitzen Rippenbögen. Das Licht der Vormittagssonne, das durch die Buntglasfenster fiel, warf farbige Muster auf die alten Steinfliesen.

Durch eine offene Tür drang die scharfe Stimme des Conte. Donatella scheuchte die drei Mädchen schnell eine steile Treppe nach oben. Francesca, Poppi und Lilo stiegen ein paar Stufen hinauf, blieben dann aber stehen. Lilo und Poppi konnten die italienischen Worte nicht verstehen, aber Francesca verfolgte das Gespräch mit einigem Erstaunen.

„Worüber reden sie?“, erkundigte sich Lilo leise.

Francesca bedeutete Lilo mit einer energischen Geste, still zu sein. Poppi hatte den Eindruck, dass sie immer wütender wurde. Schließlich huschte sie den beiden Knickerbockern voran in den zweiten Stock. Francesca hatte ein großes Zimmer und die Möbel waren aus weiß gebeiztem Holz mit vergoldeten Schnitzereien. Die Einrichtung hätte viel besser zu einer Prinzessin als zur wilden Francesca gepasst.

„Dieser alte Nussknacker!“, machte das Mädchen seinem Ärger Luft. „Er will mich in ein Internat stecken. Am besten weit weg von hier – in der Schweiz oder so. Er sagt, er müsse schon genug Unheil von der Familie abwehren und er habe keine Lust mitanzusehen, wie ich unseren Familiennamen beschmutze.“

„Unheil abwehren?“, wiederholte Lilo nachdenklich. „Weißt du, was er damit meint?“

„Ach, ist mir egal. Der alte Spinner faselt den ganzen Tag nur hochgestochenen Quatsch.“

„Könnte es mit dem Brief zu tun haben?“, hakte Lilo nach.

„Ist doch unwichtig.“

Lilo trat an eines der Fenster. Sie sah hinunter in den Garten. Entlang der Mauer wuchsen Bäume und überall standen Holzeimer mit bunten Blumen.

Von diesem Zimmer aus hatte man einen guten Blick auf beide Brücken. Schräg gegenüber befand sich das Fenster, von dem aus das erste Maskenphantom beobachtet worden war.

Lilo konnte Axel sehen, der auf einem Mauervorsprung über dem Wasser stand und mit einer langen Stange im Kanal stocherte. Er suchte nach der Treppe, doch seine Bewegungen waren fahrig und ungeduldig. Er sah nicht aus, als hätte er schon etwas gefunden.

„Kennst du die Dame von gegenüber näher?“, wollte Lilo wissen.

„Manchmal winkt sie mir zu oder schickt Kusshändchen. Total dämlich.“

Donatella steckte den Kopf ins Zimmer und bedeutete Francesca, auf den Flur zu kommen. Lilo und Poppi hörten, wie die Großmutter leise, aber sehr aufgebracht auf Francesca einredete. Als das Mädchen zurückkehrte, grinste sie gut gelaunt.

„Der Conte wird erpresst. Deshalb ist er so aufgebracht. Dieser uralte Brief ist ein Erpresserbrief!“

Das verstand Lilo nicht. „Womit kann der Conte nach mehr als zweihundert Jahren noch erpresst werden? Das hat doch alles längst nichts mehr mit ihm zu tun. Was auch immer damals geschehen ist, muss schon lange vergessen und verjährt sein.“

Francesca zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Er ist völlig von der Rolle. Sogar der Arzt musste kommen, weil sein Blutdruck wegen der Aufregung viel zu hoch war. Und beim Zusammenstoß mit Axel hat er sich wohl ein paar blaue Flecke geholt, die nicht ganz ohne sind.“

„Erpressung“, wiederholte Lilo halblaut. Was konnte das bedeuten? Wer auch immer den Brief hinterlegt hatte, musste etwas wissen, womit er den alten Grafen unter Druck setzen konnte. Natürlich war der Verfasser des Briefs schon lange tot, aber er schien seine Macht vererbt zu haben. Doch an wen? Und womit konnte er der Familie des Conte nach über zweihundert Jahren noch immer drohen?

Lilo fielen die Maskenwesen ein. Masken gehörten zu einem uralten Brauch in Venedig, das hatte Herr Fuchs erzählt. Zur Karnevalszeit wären sie nicht weiter aufgefallen, jetzt im Mai aber schon.

Vom Treppenhaus ertönte plötzlich die Stimme des Conte. Francesca erstarrte.

„Der Conte, er kommt! Wenn der euch sieht, kriegt ihr großen Ärger!“

Lilos Blick schweifte durch den Raum. „Poppi, unter das Bett!“

Poppi reagierte sofort, warf sich flach auf den Boden und verschwand. Francesca war erstaunt. Lilo selbst schob sich zwischen die Kleidungsstücke im Schrank und zog die knarrende Tür von innen zu. Einen winzigen Spalt ließ sie offen.

Der Conte stieß die Zimmertür so heftig auf, dass sie gegen die Wand krachte. Aus ihrem Versteck im Schrank sah Lilo, dass hinter ihm Donatella und ein jüngerer Mann den Raum betraten. Das musste Luigi sein!

Der alte Conte schrie Francesca wütend an. Als Donatella und Luigi dazwischengehen wollten, schlug er mit dem Stock in ihre Richtung und jagte sie aus dem Zimmer. Dann bedeutete er Francesca, sich an den Tisch zu setzen. Sie musste nach Heft und Füller greifen und bekam von ihrem Urgroßvater etwas diktiert.