HANDY-BILDSCHIRM VON REED STEWART
REED STEWART |
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Von: Dolly Vargas <D.Vargas@VTM.com>
Datum: 16. März 20:42:10
An: Reed Stewart@reedstewart.com
Betreff: Angebot Lyrexica
Klingeln deine Ohren, Darling? Ich habe heute nämlich den ganzen Tag über dich gesprochen. Lyrexica hat sein Angebot noch einmal erhöht:
Auf eine siebenstellige Zahl!
Ganz richtig. Eine Million Dollar für dein schönes, zotteliges Haupt.
Ich weiß. Ich kann es selbst kaum glauben. Ich würde ja gerne glauben, dass es etwas mit meinem sagenhaften Verhandlungsgeschick zu tun hat.
Aber ich denke, es hat wahrscheinlich eher damit zu tun, dass dein alter Kumpel Cobb Cutler sich in den sozialen Netzwerken zum absoluten Volltrottel gemacht hat. Wer ist so dumm und postet auf Facebook, dass ihn die Scheidung von einer Frau, mit der er kaum zusammengelebt hat, mehr schmerzt als der Verlust seines eigenen Vaters, ganz zu schweigen vom Tod seines geliebten Vierbeiners? Das ist einfach unamerikanisch.
Verglichen damit sieht ein Mann, dessen Eltern versucht haben, eine Kellnerin mit einer Briefmarke reinzulegen, richtig gut aus!
Trotzdem, melde dich endlich bei mir. Du kannst diese Pharma-Bonzen nicht ewig ignorieren.
Ach, mir ist übrigens eingefallen, woher ich den Namen Bloomville kenne: Tim Grabowski, ein früherer Arbeitskollege von mir, hat seine erfolgreiche IT – Karriere an den Nagel gehängt, um nach Bloomville zu gehen und Antiquitäten zu verkaufen oder Bücher oder etwas ähnlich Altmodisches. Bitte grüß ihn von mir, falls du ihn siehst!
Jedenfalls, habe ich dir schon einmal gesagt, dass du mein Lieblingsklient bist? Du und diese glänzende Haarpracht auf deinem Kopf.
GLG
Dolly
Dolly Vargas
Vargas Talent Management
Los Angeles, Kalifornien
Von: Reed Stewart@reedstewart.com
Datum: 16. März 23:27:21
An: Lyle Stewart@FountainHill.org
Betreff: Sie
Lieber Onkel Lyle,
ich habe versucht, deinen Rat in deiner letzten E-Mail zu befolgen, nämlich zurückzukehren und mir die Entscheidungen genauer anzuschauen, die ich in jungen Jahren getroffen habe, und dann mein Verhalten zu ändern.
Es hat nicht funktioniert.
Tatsächlich war es eine Riesenkatastrophe.
Ich habe Becky heute wieder getroffen, und es ist mir tatsächlich gelungen, sie zu überreden, den Abend mit mir alleine zu verbringen – na ja, nicht ganz alleine. Wir sind ins Tiki Palace gegangen, um etwas zu trinken, und irgendwie wurden aus den Drinks Vorspeisen und aus den Vorspeisen wurde ein Dinner, und bevor wir wussten, wie uns geschah – na ja, jedenfalls bevor Becky es wusste, schließlich hatte ich ja die ganze Zeit darauf gehofft –, haben wir den ganzen Abend zusammen verbracht.
Nicht, was du denkst. Zügele deine schmutzige Fantasie. Ha, ha, nur ein kleiner Scherz, ich weiß, dass du nicht so bist. Na ja, natürlich BIST du so, aber du hältst dich zurück wie ein echter Gentleman. Becky und ich haben also den Abend zusammen verbracht, aber es war nur ein Dinner.
Es war genau wie früher, nur besser, weil keiner von uns zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause sein musste und wir uns keine Gedanken darüber zu machen brauchten, wann wir unsere Hausaufgaben machen sollten (nicht dass ich mir darüber jemals groß Gedanken gemacht hätte).
Es kam mir vor, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen seit unserer letzten Begegnung – Becky ist noch genau dieselbe wie früher, nur trauriger, schätze ich, weil ihr Vater gestorben ist und sie den Familienbetrieb übernehmen musste. Hast du gewusst, dass sie bisher nur ein paarmal aus ihrem Bundesstaat herausgekommen ist? Und das Land hat sie noch kein einziges Mal verlassen. Sie hatte nie das Geld oder die Zeit dafür. Sie wollte alles über meine Reisen nach Schottland und China erfahren.
Mich reizte die Vorstellung, mit Becky ins Ausland zu verreisen. Ich malte mir aus, wie wir gemeinsam durch die Welt gondelten, wie ich ihr Dinge zeigte, die sie nie zuvor gesehen hatte, wie ich erlebte, dass sie zum ersten Mal Haggis und Dim Sum kostete. Na ja, vielleicht nicht gerade Haggis, aber du verstehst schon, worauf ich hinauswill.
Ist es seltsam, dass ich solche Gedanken hatte? Ist es seltsam, dass ich die ganze Welt bereist habe und Frauen aus aller Herren Länder traf, und trotzdem ist diejenige, mit der ich immer noch am meisten Spaß habe und die mich am meisten begeistert, ein Mädchen aus meiner Heimatstadt, das ich schon seit dem Kindergarten kenne?
Ist es falsch, dass ich Becky am liebsten aus ihrem schrecklichen Job, in dem sie das Chaos anderer Leute aufräumt, entführen würde, um ihr zu zeigen, was sie alles verpasst? Dort draußen gibt es eine fantastische Welt, die sie nie erlebt hat.
Sie hat noch nie Paris gesehen. Sie hat noch nie deine Orchideen gesehen. Sie hat noch nie einen März ohne Schnee erlebt!
Aber irgendwie glaube ich, ist es mir gelungen, mich ausgerechnet in die eine Frau zu verlieben, die mit Büchern und Heftmappen mehr anfangen kann als mit Privatjets und Stränden.
Trotzdem, als wir schließlich das Restaurant verließen (was erst passierte, als der Laden zumachte – das Personal fing schon an, die Stühle auf die Tische zu stellen, um den Boden zu wischen, was zeigt, wie sehr Becky und ich in unser Gespräch vertieft waren, wir hatten nicht einmal gemerkt, dass wir die letzten Gäste waren) und zu unseren Fahrzeugen gingen, überkam es mich plötzlich.
Vielleicht lag es daran, dass der Mond so hell schien und dass die Luft so frisch war und so klar, wie sie das in L.A. niemals ist, weil dort die Temperaturen selten unter den Gefrierpunkt fallen. Irgendwo in Bloomville hatte jemand ein Feuer in seinem Garten entzündet, und ich nahm den guten, sauberen Geruch von brennendem Kiefernholz wahr.
Jedenfalls, obwohl mir nun klar ist, dass es die schlechteste Idee aller Zeiten war, habe ich etwas Furchtbares getan:
Ich habe Becky einen Gutenachtkuss gegeben.
(Hör zu, du hast mir selber erzählt, wie es in den Siebzigern auf Fire Island abging. Du solltest also Nachsicht mit mir haben, schließlich ist meine Geschichte harmlos dagegen.)
Ich war einfach so glücklich und frei und zuversichtlich … und, na gut, vielleicht war ich ein bisschen berauscht von dem Sake und dem Kiefernholzgeruch.
Und Becky sah im Mondlicht so schön aus, und sie hörte nicht auf zu lächeln, und ich dachte nicht, dass es eine schlechte Idee war.
Also nahm ich ihre Hand und zog sie näher an mich heran, und Becky hörte nicht auf zu lächeln. Sie sah mich einfach nur an, mit einem fragenden Ausdruck, als würde sie „Ja?“ sagen.
Ich konnte nicht anders. Ich umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht und küsste sie, so wie ich sie tausendmal zuvor geküsst hatte, als wir noch ein Paar waren.
Nur dieses Mal war es anders.
Dieses Mal war es nicht süß und angenehm und heiter, wie ich es in Erinnerung hatte, wie ich es mir gewünscht hatte.
Dieses Mal war es tief und dunkel und ernst.
Es ging nicht von ihr aus. Sondern von mir. Ab dem Moment, in dem ich sie berührte, traf mich dieses … Verlangen wie ein Schlag auf den Solarplexus. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Alles, was ich wusste, war, dass ich Becky dieses Mal nicht loslassen würde und dass dies ein Kuss für die Ewigkeit war, denn selbst wenn es sich anders anfühlte als in früheren Zeiten, war es ein Kuss für die Unsterblichkeit. Alte Erinnerungen an die Nächte damals im Bootshaus und in Beckys Zimmer und in meinem Zimmer stiegen wieder hoch …
… nur dass dies keine Reise in die Vergangenheit war. Es war ein Raketenflug.
Ich glaube nicht, dass ich Becky jemals wieder losgelassen hätte, wenn sie nicht plötzlich vor mir zurückgewichen wäre – zurückgeschreckt trifft es wohl eher. Sie schreckte förmlich vor mir zurück – und schnappte nach Luft.
Sie ging taumelnd ein paar Schritte rückwärts, bis sie einen nach ihrem Ermessen wohl ausreichenden Sicherheitsabstand hergestellt hatte (circa drei Meter, was gut zu wissen ist – drei Meter ist offenbar die Distanz, in der sie sich vor mir sicher fühlt), und schrie dann, während ihre Augen im Mondschein blitzten: „Ich habe einen festen Freund, schon vergessen?“
Ist das zu fassen? Kommt sie mir plötzlich mit ihrem Freund!
Ich wäre fast ausgeflippt. Freund? Welcher Freund? Wir haben den ganzen Abend zusammen verbracht, haben Sake getrunken und scharfes Thunfisch-Sushi gegessen, während die Mutter ihrer besten Freundin uns eine Spezialität nach der anderen an den Tisch brachte, von Black Cod in Miso-Marinade bis zu Hamachi Kama, und uns sagte, wie sehr sie sich darüber freue, uns zu sehen, besonders da Leeanne auf dem Weg nach Hause sei und sich bestimmt auch furchtbar freuen würde, uns wiederzusehen.
Sie meinte damit natürlich, „uns wieder zusammen zu sehen“, im Sinne von „als ein Paar“, und Becky zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Und dann, nach dem explosivsten Kuss aller Zeiten, bringt sie plötzlich ihren Freund zur Sprache?
Und dieser Freund, ich kann dir sagen, ich habe mir den Kerl mal genauer angesehen. Ist ja wohl klar! Er führt den langweiligsten Wein- und Käseladen, den die Welt jemals gesehen hat. Wäre der Laden in Palm Springs, würden du und deine Freunde ihn direkt links liegen lassen, weil sich darin hauptsächlich Vorzeigefrauen in Yoga-Pants tummeln, die Pinot noir trinken, weil ihr Neurologe ihnen gesagt hat, dass man davon keine Kopfschmerzen bekommt.
Außerdem trägt der Kerl einen Vollbart und enge Sweatshirts, um seinen Bizeps zur Schau zu stellen.
Aber Becky hat ihn trotzdem gern!
„Außerdem“, fuhr sie fort, „ich dachte, wir waren uns einig, dass unser Treffen rein geschäftlich ist.“
Dies war der beste Kuss des Jahrhunderts, und sie besteht auf einem rein geschäftlichen Treffen!
Was hätte ich sagen sollen? Was hätte ich machen sollen?
Ich weiß, ich bin derjenige, der alles vermasselt hat.
Aber wie hätte ich damals vor zehn Jahren bleiben können? Das ging nicht. Du weißt, dass das nicht ging.
Und tief in ihrem Innern weiß Becky das auch. So wie sie auch weiß, dass ich sie nicht bitten konnte, mit mir zu kommen. Im Gegensatz zu mir war sie für ein Studium bestimmt. Sie hatte dieses tolle Stipendium. Sie musste aufs College gehen.
Das ist der wahre Grund, warum ich ihre Anrufe und Briefe nie beantwortet habe. Was hätte ich ihr sagen sollen? Hätte ich sie bitten sollen, auf mich zu warten? Ich wusste ja nicht, wie lange es dauern würde, bis ich etwas aus mir gemacht hatte. Es wäre Becky gegenüber nicht fair gewesen. Es war besser, einen sauberen Schnitt zu machen.
Enrique – du kennst Enrique – sagt, ich hätte Becky schon vor Jahren kontaktieren sollen und dass ich nun nicht den Hauch einer Chance habe, sie zurückzugewinnen.
Er hat wahrscheinlich recht. Bestimmt hat er mit den anderen Caddies schon Wetten abgeschlossen, dass ich nächste Woche auf dem Golden Palm Course kläglich versagen werde wegen dieser ganzen Geschichte. Und nach dem Vorfall heute Abend ist es tatsächlich ausgeschlossen, dass ich meinen alten Schwung jemals wiederfinde beziehungsweise dass ich mich rechtzeitig mental auf das Turnier einstellen kann.
Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich habe Becky gesagt, dass ich nicht gekommen bin, um sie zu retten. Also was war in mich gefahren? Es ist offensichtlich, dass Becky ihr Leben in Bloomville liebt, so wie sie heute Abend darüber sprach … Sie hat sich zwar für die ganzen Orte interessiert, an denen ich schon war, aber eher wie jemand, der sich für einen Film interessiert, den er sich irgendwann anschauen möchte, ohne dass diese Person das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben, schließlich hat sie ja bereits jede Menge andere gute Filme gesehen.
Gott, warum erzähle ich dir das alles? Du hast nicht einmal danach gefragt. Du wolltest wissen, wie es Mom und Dad geht.
Nun, die Antwort ist: schlecht. Du solltest mal ihren Keller sehen. Er ist ein dunkles Loch der Verzweiflung. Wie kann man es nur so weit kommen lassen? Ich möchte nie so enden in meinem Leben.
Aber Becky wird die beiden retten. Weil das ihr Beruf ist. Sie hält es übrigens sogar für möglich, dass jemand die beiden um ihr Geld betrogen hat. Sie versteht nicht, wie Richard und Connie bankrott sein können und trotzdem so wenig vorzuzeigen haben. Sie möchte, dass ich und meine Geschwister uns das mal genauer anschauen. Denn das gehört auch zu ihrem Job – dass sie Unrecht wiedergutmacht beziehungsweise es versucht, wenn sie welches sieht.
Ich hätte wissen müssen, dass es so ausgehen würde. Ich hätte auf meinen ersten Instinkt hören und direkt nach Orlando fliegen sollen. Ich hätte einfach einen Scheck nach Hause schicken sollen, um Mom und Dad zu helfen. Ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe.
Okay, es ist inzwischen spät geworden, während ich diese Zeilen an dich schreibe. Ich muss morgen früh aufstehen und zur Villa rausfahren, um den Rest einzupacken. Meine Nacht wird auch deshalb kurz sein, weil die Mädchen immer mit dem ersten Hahnenschrei wach werden, was anscheinend normal ist für kleine Kinder. Es macht ihnen Spaß, dann als Erstes in mein Zimmer zu stürmen und zu rufen „Wach auf, Onkel Reed! Aufwachen!“
Das ist nicht so entzückend, wie es sich vielleicht anhört.
Ich erwarte von dir keine Antwort auf diese Mail. Mir ist bewusst, dass du im Moment mit deiner Ausstellung beschäftigt bist und dass ich wie ein Verrückter klinge. Ich fühle mich auch wie einer. Ich fühle mich, als würde ich langsam den Verstand verlieren. Mir wurde heute ein gigantischer Werbevertrag angeboten (für ein pharmazeutisches Produkt, du würdest es nicht befürworten), und ich kann mich nicht einmal darüber freuen, denn was nützt es einem, in Geld zu schwimmen, wenn die Frau, die man liebt (oder der Mann, sorry, ich wollte nicht geschlechtsspezifisch sein), diese Liebe nicht erwidert?
Ich bin froh, wenn das alles hier vorbei ist und ich nach Florida verschwinden kann, um mich auf mein Spiel zu konzentrieren und diese Frau (Person) für immer aus meinem System zu kriegen.
Obwohl, es wird wohl nicht für immer sein, da ich bezweifle, dass ich sie jemals ganz aus meinem System herausbekommen werde.
Was soll’s, tut mir leid, dass ich dich mit dem ganzen Mist belästigt habe. Ich werde jetzt ins Bett gehen. Ich wünsche dir viel Erfolg bei der Ausstellung. Ich hoffe, deine Phalaenopsis amabilis schlägt sie alle.
Liebe Grüße von deinem Lieblingsneffen (obwohl, jetzt vielleicht nicht mehr, nachdem du diese Zeilen gelesen hast)
Reed