Mein Tagebuch hat lange geschlossen gelegen.
Ich habe in den letzten Jahren nicht mehr hineingeschaut. Man soll nur Tagebücher schreiben, wenn man etwas zu sagen hat. Aber wenn man zu viel zu sagen hat, kann man sie erst recht nicht schreiben.
Ich bin nicht nach China gegangen und bin nicht mit dem nächsten Schiff nachgefahren. Ich habe Stetten allein reisen lassen. Aber Abschied nehmen hab ich nicht mehr von ihm gekonnt. Ich ging an dem Tage zu Mary. Meine Kinder haben den Auszug mitgemacht wie jeden anderen. Als ich abends heimkam, war sein Zimmer leer, und die Bibliothek war verschwunden. In dem niedrigen, hellen Zimmer hing noch ein schwacher Duft nach seinen Zigaretten und Lavendelseife. Ich öffnete die Fenster weit. Der Himmel hing rau über der Stadt. In den ersten Tagen war mir zumute wie einer Blinden, die sich ihren Weg durch das Dunkel sucht. In Romanen werden die Frauen nach einer starken Erschütterung ohnmächtig, sie sinken hin oder bekommen Nervenfieber. Das dauert etwas länger. Und sie erwachen dann in dem weißen Bett eines Hospitals, und eine Schwester neigt sich liebreich über sie und reicht ihnen eine Limonade. Ich wurde nicht ohnmächtig, ich sank nicht um und bekam kein Nervenfieber. Mein Leben ging einfach weiter.
Es geht weiter mit Sparen und Kochen, Geschirrwaschen und Strümpfestopfen.
Mein Tag gehört der Arbeit und … den andern.
Zuweilen unterbricht ihn ein Vortrag in der Universität, die ich immer noch besuche, oder ein Schauspiel, oder es kommt ein Bücherpaket aus München von Mary, die dort in einer Fremdenpension ihre Scheidung abwartet. Sie lädt mich immer ein, sie zu besuchen, aber ich fahre nicht hin. Ich habe eine abergläubige Furcht vor Reisevorbereitungen. Ich werde noch wie Onkel Dolf …
Wenn mein Tag vorbei ist, freue ich mich auf mein Buch, das ich, in die Kissen meines Bettes gestützt, beim Schein meines selbst gefertigten Lampenschirmes lese. Es ist meine Erholung, die letzte Abendstunde, in der ich mich in Schlaf und Traum lese. Ich lese oft die Nächte durch bis zum Morgen.
Von Stetten habe ich nichts mehr gehört. Ich habe ihn gebeten, mir nicht mehr zu schreiben, er hat es mir versprochen.
Ich habe von diesem Abschied nur einen stechenden Schmerz in der Herzgegend behalten, der mich oft morgens überfällt, dass ich auf meinem Bettrand sitze und nicht weiß, ob ich aufstehen kann. Ich müsste einen Arzt fragen, aber ich weiß, was er mir sagen würde: Ruhen Sie sich einmal aus … Gehen Sie nach Nauheim … Aber er gibt mir das Geld nicht dazu. Tante Constanze, die das ganze Jahr in Bädern herumreist, würde es mir sicher nicht geben. Sie klagt jetzt immer, dass alles so teuer geworden ist, die Mieten, die Löhne und das Reisen, und da man in der zweiten Klasse keinen Sitzplatz mehr findet, muss sie erster Klasse fahren, die arme Frau. Ich weiß schon, was sie mir antworten würde, wenn ich ihr sagte, dass ich in ein Bad gehen möchte, der Arzt hätte es mir geraten. Du musst nicht auf die Ärzte hören, liebes Kind. Sieh mich an! Lebe vernünftig, dann geht es auch so. Solche Lehren sind mir nicht mehr nötig. Und Onkel Dolf ist gegen Badereisen überhaupt. Er hat in seinem ganzen Leben keine gemacht, und so brauchen andere auch keine zu machen. «Man muss nicht immer gondeln, Oliva.»
Vielleicht hat er recht, und ich werde ruhiger werden, wenn mein Herz sich beruhigt hat …
Es wird wieder einmal Frühling. Nach langen, harten, eisigen Wintermonaten mit endlosem Schnee und kalten Häusern. Ein Lächeln des Himmels glänzt über der erstarrten Erde, die sich dankbar dehnt und sich von der Schneelast befreit. Die Flüsse steigen, geschwollen von aufgelöstem Schnee, auf den Feldern wird schon gearbeitet, geackert und gesät, die Wintersaat zeigt sich bereits schüchtern, die Wiesen sind überschwemmt, aber langsam weicht das Wasser, die Kühe stehen im Gras und schauen den Zügen nach, die vorüberrollen. Frühling! Endlich ist er da, er breitet seine Wärme über die Erde und löst die letzten Schneemassen und schwemmt sie fort und füllt Flüsse und Seen, und das Meer rollt schwere Wogen ans Land. Überall grünen Büsche und Bäume, weiß blühen die Kirschbäume und rosa die Pfirsiche, zarte Apfelblüten streut der Wind über die Landstraßen, an denen die Obstbäume stehen mit ihren schneeigen Kronen. In den Gärten leuchten die gelben Forsythien und blühen die ersten weißen und roten Tulpen, die Schneeglöckchen machen blauen Veilchen Platz, deren Duft sich verbreitet wie ein zartes Parfüm. In dem Garten steht mein Birnbaum, prätentiös und breit geästet, aber leer von Blüten dieses Jahr. «Späte Birne» steht auf dem kleinen Zettel, der an seinem Stamm hängt. Der Rasen ist von Maßliebchen übersät wie bestickt. Immer werden sie weggemäht, und immer wieder erscheinen sie. Es sind dumme, kleine Blümchen für Kinderhände. Der Platz unter der Kiefer in der Rasenmitte ist für den Tee gedeckt, eine Gruppe weißer Gartenmöbel steht unter einem blauen Schirm mit weißen Schwalben, buntes Teegeschirr, die gelbe Decke. Es ist Sonntag. Ich halte im Liegestuhl Nachmittagsruhe. Alles ringsum ist still. Man hört nur die Vögel zirpen, und der Specht hämmert unermüdlich an einem Baum; sooft er die Antenne trifft, gibt es jedes Mal einen schnarrenden Ton wie von einer Jahrmarktsrassel. Das scheint ihm Spaß zu machen, denn er lässt unermüdlich die Schnarre rasseln wie ein Kind, das ein Lieblingsspielzeug hat. Eine Katze sitzt auf dem Zaun und beobachtet das Vogelnest, aber die Alte da oben ist wachsam und schaut misstrauisch über die Köpfe ihrer Kleinen nach der Räuberin unten, deren Augen schillern vor Begierde. Ein sanfter Wind bewegt die schmalen Blätter der Trauerweide, die sich tief über meine Gartenmauer neigt, ein blauer Vergissmeinnichtkranz umblüht den alten Birnbaum, als wollte er ihn trösten, dass er so hässlich und knorrig ist und keine Früchte mehr trägt. Im Garten wandelt ernst und schweigsam, in sein Buch vertieft, ein großer Chinese. Er trägt keinen Zopf und ist nicht braun, er ist schon europäisiert, Herr Ying. Er hat noch einen zweiten Namen, aber der ist mir zu kompliziert. Wir nennen ihn einfach Herr Ying. Und er verneigt sich lächelnd und schweigt.
Stetten hat ihn mir geschickt. Es war seine letzte Liebestat. Es gibt kaum einen angenehmeren Hausgenossen als Herrn Ying. Den Kindern hat Stettens Auszug Spaß gemacht, es gab allerlei zu erben. Dieter half die Bücher einpacken, nur Ben bedauerte seinen Auszug wegen der chinesischen Marken. Aber nun hat er Herrn Ying.
Der neue Mieter ist ihnen interessant, weil es ein Chinese ist, weil er viel gereist ist, viel gesehen hat und man ihn viel fragen kann. Herr Ying studiert deutsches Recht an der hiesigen Universität und wird hier seinen Dr. jur. machen, er ist still und rücksichtsvoll und hat keinerlei Wünsche. Man sieht ihn nur, wenn er durch meinen Garten geht. Ich habe ihm das erlaubt, denn er stört mich nicht, man hört ihn nie; er ist wie eine Wolke, die vorüberzieht. Man weiß nie, ob er auf seinem Zimmer ist oder nicht.
Von dem Friedhof hat er noch nichts gesagt.
Vielleicht geniert einen Chinesen ein deutscher Friedhof nicht, er geht ihn ja auch nichts an. Dieter und Herr Ying gehen zusammen auf die Sportplätze, sie unterhalten sich über chinesische Zustände und chinesisches Recht und deutsches Recht.
Meine Kinder sind höflich zu ihm, ohne dass ich sie dazu auffordern muss, und Margot findet Herrn Ying interessant, obwohl er noch nichts besonders Interessantes von sich gegeben hat. Er schweigt meist und lächelt und hört zu.
Das wäre etwas für Tante Constanze.
Sie würde ihn totreden an einem Tag,
Onkel Dolf behauptet ja immer, sie habe ihren Mann totgeschwatzt. Die Heidukstraße findet es sonderbar, dass ich einen Chinesen ins Haus genommen habe. Aber es ist mir gleichgültig, was die Heidukstraße findet.
Wir gehen einer neuen, großen Zeit entgegen, behauptet Herr Ying, die ganz Europa in Flammen versetzen und die Welt erschüttern wird. Mir ist davor etwas Angst, denn ich habe die Schwäche, dass ich an Prophezeiungen glaube, obwohl es schon viele falsche Prophezeiungen gegeben hat. Aber es hat immer Menschen gegeben, die ihnen geglaubt haben.
Herr Ying ist abgetrennt von seinem Vaterland durch den Krieg, den China eben mit Japan führt. Seine Koffer sind aus Rindsleder und mit den Marken großer ausländischer Hotels beklebt. Er trägt im Winter einen Gummimantel, und wenn man ihn fragt, ob er darin nicht fröre, lächelt er nur … Krieg, sagt er bescheiden. Er hatte sich die erdenklichste Mühe gegeben, ins chinesische Heer einzutreten, aber der Weg nach China ist weit und kostspielig. Seine Regierung hatte auf die Anfrage des Botschafters, was mit all den chinesischen Studenten werden sollte, erwidert, sie sollten ruhig dableiben und weiterstudieren. Soldaten zum Kriegführen hätten sie genug. Und so bleibt Herr Ying hier und studiert weiter. Er hört abends den Lautsprecher in Dieters Zimmer und liest ausländische Zeitungen dabei.
Er sagt, dass Japan den Krieg machen musste gegen China und China es nicht hindern kann, denn Japan ist jung und strebsam und hat zu viele Menschen und zu wenig Raum. Aber China ist unendlich groß und sehr alt. Vielleicht schon überaltert. Er ist sehr stolz darauf, dass Chinas Kultur mehrere Tausend Jahre älter ist als die von Japan. Ich hatte etwas Angst vor einem neuen Mieter. Aber Herr Ying geniert mich nicht, und es ist gut, dass die Kinder ihn gernhaben. Einen Herrn Meyer hätte ich jetzt schwer ertragen, und erst recht kein Fräulein Timm mit ihren Sonnenbädern.
Margot hat nur noch Interesse für den Sport, Turnen, Tanzen, Schwimmen. Sie bekommt überall Preise. Sie hat ihr Abiturium mit Auszeichnung bestanden und bereitet sich auf die technische Assistentin vor. Dann wird sie sich ein Zimmer in der Stadt nehmen. «Dann bist du mich los und kannst mein Zimmer vermieten», sagt sie. Ich widerspreche nicht als vernünftige Mutter. Ich liebe den Frieden und habe etwas von meiner Kampfkraft eingebüßt … Außerdem tun sie ja doch, was sie wollen, meine Kinder. In meiner literarischen Tätigkeit kann ich einen Aufschwung verzeichnen. Ich hab mir eine Schreibmaschine angeschafft, die Redakteure können jetzt meine Schrift lesen. Ich schicke meine Novellen jetzt nicht mehr ins Blaue ein, sondern habe einen sicheren Abnehmer dafür gefunden, nämlich ein Büro, das sie mir abnimmt und vertreibt. So brauche ich sie nicht mehr selbst zu verschicken und zu warten. Das Büro weiß, was jede Zeitung braucht und nicht braucht, es schickt seine Reisenden herum wie die Fabriken ihre Vertreter mit Seife und Baumwollstoffen und anderen Waren. Ein Verlag forderte mich auf, einen Roman über die Dubarry zu schreiben. Und ich holte mir ihre Briefe. Als ich mit den Briefen der Dubarry fertig war, erfuhr ich, dass sie gefälscht sind, und ich habe nun keine Lust mehr, mich mit dieser Dame zu beschäftigen. Ich habe mich anderen Frauen zugewandt, aus deren Leben ich das herauszuschälen versuche, was meinem Verlag gefällt.
Es ist ein Geschäft wie jedes andere.
Gedichte schenken Autoren, wie ich, meist noch dazu. Aber Gedichte mache ich nicht mehr. Ich schreibe auch keine chinesischen Novellen mehr, ich bin zum historischen Roman übergegangen.
In der Universitätsbibliothek finde ich meine Stoffe. Das 18. Jahrhundert ist unerschöpflich. Diese kleinen Erzählungen werden gut honoriert. Aber es ist nicht ganz einfach, sich in vergangene Jahrhunderte zu versetzen.
Da ich natürlich wenig Zeit habe, in Bibliotheken zu sitzen, nehme ich mir die alten Bücher mit nach Hause und lese sie des Nachts, und wenn ich am Tag eine Stunde finde, in der mich niemand ruft, sucht und braucht, niemand essen will oder Knöpfe angenäht haben muss, so dichte ich.
Ich traf neulich auf einem Tee bei einer Professorenfrau eine Schriftstellerin, die Vorträge über ihre Auslandsreisen hält. Eine stattliche Blondine mit einem Einglas, einem Frack aus Silberlamé und einem Silberturban mit einem langen, schwarzen Paradiesvogel und roten Locken. Sie war sehr umdrängt. Sie macht diese Reisen für eine große Zeitung und hat alles frei: Fahrt erster Klasse, die Hotels, Autos überall zur Verfügung. Sie durchquert die Wüste und Afrika und reitet durch die ungarische Steppe, sie war auch in Russland und Indien. Und von allem, was sie sieht, ist sie begeistert. Sie hat so viel Stoff, dass sie von Zeit zu Zeit ihrem Schreibtisch entfliehen muss. Wenn sie heimkommt, schließt sie sich vier Wochen ein, lebt wie ein Eremit, niemand darf sich ihr mit einer Frage nahen, geschweige denn mit einem Wunsch. Dann schreibt sie, und was sie schreibt, wird ihr aus den Händen gerissen und sofort gedruckt. «So muss man es machen, mein Kind, aktuell muss man sein», sagte sie und sah mich mitleidig an. «Geschichte interessiert nicht mehr. Nur was heute geschieht, ist interessant.» Und sie weiß es festzuhalten … Ich ging sehr ermutigt von diesem Tee heim. Ich bat die Professorenfrau, mir etwas von dieser Dichterin zu leihen. Ich bekam es am nächsten Tag. Es war ein Roman von 600 Seiten. Eine Arbeit von vier Wochen, welche die Dichterin ihrer Sekretärin in die Maschine diktiert hat. Es war die Geschichte einer vielköpfigen Familie, die glücklich auf einem Bauerngut lebt. Man hätte sie in zwanzig Zeilen erschöpfend beschreiben können, da sie aber nach Zeilen bezahlt wird, hat sie ein Buch von sechshundert Seiten darüber geschrieben. Ich könnte sie um ihr Talent beneiden …
So weit wie Madame Genlis, von der ich nun eine Kollegin geworden bin, und die so viel schrieb, dass man sie «une pondeuse» (eine Legehenne) nannte, werde ich es ja nie bringen, aber das Leben dieser Damen des 18. Jahrhunderts ist es immerhin wert, dass man acht Bücher über sie liest, um einen Roman zu schreiben, für den man zweihundert Mark bekommt. Eine märchenhafte Summe für mich! Der Verlag rechnet damit, dass ich jeden Monat mit einem Zweihundertbänder niederkomme. Der genialen Schriftstellerin würde das eine Kleinigkeit sein, aber ich muss erst dieses Jahrhundert studieren, seine Sitten und Gebräuche, die Einrichtungen, die Gewänder. Ich muss wissen, wie man damals gesprochen hat, wie man gekleidet war, was man gegessen und getrunken hat. Dass einem morgens die Jungfer eine Tasse Schokolade ans Bett brachte mit einem Biskuit und der König von seinem ersten Kammerherrn sich das Hemd überreichen ließ, genügt nicht. Ich habe zwei Monate damit verbracht, mir Notizen über den Hof von Versailles im 18. Jahrhundert zu machen. Außerdem muss ich mir alles aus einem sehr veralteten Französisch ins Deutsche übersetzen, ehe ich den Roman herausschäle. Der Verlag telefonierte mich an, ob der Roman fertig sei, als ich noch keine Zeile davon niedergeschrieben hatte. Ich sagte, ich sei erst an dem Studium. Wozu Studium?, sagte der Herr. Wir brauchen Liebesgeschichten mit historischem Einschlag, alles andere ist uns egal. Bei diesem Studium bin ich auf ein Buch gestoßen, das mir sehr Interessantes über die «mœurs intimes du passé» übermittelte, z.B. über den Gebrauch des ersten Taschentuches, der ersten Badewanne und des ersten Zahnstochers. Die «indiscretions de l’histoire», die «morts mysterieuses de l’histoire» interessierten mich noch mehr, und ich vergrabe mich in sie. Ohne sie kann man die Kulissen des 18. Jahrhunderts nicht schildern.
In vier Monaten war ich so weit, dass ich eine dünne Liebesgeschichte über Madame Pompadour fertig hatte von zweihundert Seiten wie gewünscht. Der Verlag hat sofort alles gedruckt, aber das Honorar, das ich sehr nötig hab, um meine Miete, die Kohlen und Dieters Reitausrüstung zu bezahlen, erschien nicht. Ich schrieb einen höflichen Brief. Darauf kam ein höflicher Brief zurück. Sie sind sehr ungeduldig, gnädige Frau, Sie haben uns fünf Monate warten lassen mit dem ersten Band. Wir haben jährliche Abrechnung ausgemacht, und Sie können vor Januar kein Honorar erwarten. So ging ich an die zweite Geschichte der Julie Lespinasse, die an ihrer Liebe gestorben ist. Im 18. Jahrhundert kam das vor. Aber dem Verlag ist der Stoff zu traurig. Er hat ihn abgelehnt. Während ich mit Madame Maintenon in ihrer vergoldeten Sänfte durch die zauberhaften Gärten von Marly schwebe und mich mit dem König durchs Fenster unterhalte, der neben mir hergeht, den Hut in der Hand, kommt Frau Korzfleisch herein und meldet, dass sie Schuhwichse und Kartoffeln kaufen muss und die Schuhe von Herrn Dieter erst nächste Woche fertig und die Latschen von Ben nicht mehr zu flicken sind …, und sie will Geld haben. Geld, das jeder von mir verlangt, täglich, stündlich, unermüdlich und ohne Gnade. Ich gebe ihr, was in meinem viel zu kleinen, roten Portemonnaie ist. Und unterhalte mich weiter mit Ludwig dem Vierzehnten über den Herrn Voltaire, der am Hofe Friedrichs des Großen lebt, über Madame de Saint-Géran und ihre heimlichen Soupers mit der Herzogin von Bourbon, die der König verboten hat. Ich muss gestehen, dass mich diese Zeit sehr interessiert, obwohl ich ihre Sitten abscheulich finde, wie die mangelnde Hygiene, die mir Doctor Cabanes «mœurs intimes du passé» vermittelt haben. Aber man brauchte wenigstens damals seine Zeit nicht mit Einkäufen von Kartoffeln, gelben Rüben und Stiefelwichse zu verzetteln. Ich würde mich sogar getröstet haben, dass man damals kein fließendes Wasser hatte, wir haben auch keins, nur eine Badewanne aus abgestoßener weißer Emaille.
Ich habe wieder meine Sprachstudien aufgenommen und lese Französisch, Englisch und etwas Italienisch wie früher.
Ich predige meinen Kindern immer, lernt Sprachen, aber außer Dieter macht keiner Miene, mir darin zu folgen.
Margot lehnt es ab, irgendetwas zu lernen, was außerhalb ihres Zieles liegt. Das wird sie erreichen auch ohne fremde Sprachen.
Meine Kinder sind Funkes oder Nordecks. Was habe ich ihnen eigentlich mitgegeben? Gar nichts? Das wäre betrübend für mich. Eine Mutter ist doch immer stolz darauf, ihren Kindern etwas von ihrem eigenen Blut mitgegeben zu haben, nicht wahr?
Mary Bendlers Roman soll nun endlich zum Abschluss kommen. Sie ist noch immer in München. Bendler hat seine Anwaltschaft aufgegeben, das schöne Haus ist verkauft, eine Familie aus Chemnitz ist darin eingezogen mit sieben Kindern, er wohnt in seiner Jagdhütte im Harz.
Ich habe neulich eine Geschichte gelesen von einem Mann, der aus den dunklen Wäldern kam und eine schöne junge Frau in Kentucky heiratete und, nachdem sie einen Sohn hatten, wieder zurück in seine Wälder ging und dort von Indianern ermordet wurde. Es zog ihn in seine Wälder zurück, magisch, um dort zu sterben.
Was alles in diesen letzten Jahren, seit Stetten uns verließ, über mich hinweggegangen ist, weiß ich kaum noch. Ich hätte es festhalten müssen, wenn es interessant gewesen wäre, aber es ist nicht interessant, dass meine Kinder im Winter die Masern hatten, gepflegt von mir, dass sich Ulla einmal beim Wettturnen den Arm gebrochen hat – es war sehr schmerzhaft, aber sie fand sich interessant, mit der Binde herumzugehen, die ganze Heidukstraße sprach sie darauf an –, dass meine chinesische Novelle in der dritten Auflage erschienen ist. «Für eine so feine Arbeit wirklich ein ungewöhnlicher Erfolg», meinte mein Buchhändler in der kleinen Luthergasse. Denn die feinen, stillen Arbeiten sind nur etwas für Kenner. Er ist ein Kenner und ist entzückt davon. «Wie sind Sie nur zu diesem reizenden Stoff gekommen? Waren Sie denn in China?»
Die Nachtigall hat sogar darüber geweint. «So was müssten Sie öfters schreiben», meinte sie. «So was lese ich gern.» Aber so was wirft uns das Schicksal leider nicht zweimal in den Schoß, und ich weiß, dass ich «so was» nie wieder schreiben werde. Ich schreibe jetzt Modeartikel für eine Wiener Zeitung, jeden Monat einen Aufsatz für zwanzig Mark.
«Wo nimmst du denn das nur her?», fragt mich Margot. «Hier sieht man doch nichts von neuen Moden … Die Frauen ziehen sich hier ja so schauderhaft an.»
Ja, wo nehme ich es her? Ich fahre nicht nach Paris und nicht nach Wien, um Moden zu studieren. Ich lebe in der Heidukstraße. Ich achte bei meinen eiligen Gängen durch die Stadt etwas auf die Schaufenster in der Burgstraße und durchstreife zuweilen die großen Damenmagazine, in denen sich die reichen Leute ihre Toiletten machen lassen. Das ist alles.
Aber es ist merkwürdig, seit ich mehr Geld verdiene, reicht es auch nie. Es kommt daher, weil meine Kinder größer geworden sind, und ihre Bedürfnisse sind auch gewachsen, oder die Welt ist teurer geworden. Es reicht nie bei uns, und ich muss mich immer beeilen.
Ich möchte gern auch einmal meinem Schreibtisch entfliehen, wie jene Silberlamédame, um ferne Länder zu befahren, aber die Gaben des Schicksals sind ungleichmäßig verteilt, ich muss zu Haus bleiben und kochen.
Frau Korzfleisch kommt nur noch einmal in der Woche, sie hat eine Erbschaft gemacht. Ihre Schwiegermutter in Wettin ist gestorben, und sie hat Geld auf der Bank. Ihre Söhne haben wichtige Posten im Magistrat und bei der Steuer, sie wollen nicht, dass ihre Mutter in andere Häuser arbeiten geht. Sie kommt zu mir nur noch hin und wieder aus Gnade … Es ist mir eigentlich ganz lieb, denn sie ist teurer geworden, und die Kinder kosten eben mehr als je. Margot muss zu Hause arbeiten, und Ullas Geplärr stört sie, und da Ben und Ulla zu groß sind, um in einem Zimmer zu schlafen, hat jeder sein eigenes Zimmer bekommen, nur ich wohne und schlafe im «blauen Wunder» nach wie vor. Ich habe neulich einen Vortrag einer Dame gehört, die aus Amerika kam und uns schilderte, was die Damen drüben alles selbst tun. Es ist also nichts Besonderes, dass ich meine Zimmerböden anstreiche und unsere Wäsche wasche und plätte. Das Waschen besorgen drüben allerdings die N****innen. Sie kommen dazu in ihren eigenen Wagen angefahren.
In diesem Jahr habe ich, ich will nicht undankbar sein, etwas erlebt. Ich habe eine Reise nach Dresden gemacht zu Tante Constanze, die Grippe hatte und deren Jungfer ebenfalls krank geworden war.
Sie schickte eine Depesche, und ich fuhr hin.
Ich fand sie zu Bett, sehr aufgeregt, sie glaubte, sie müsste sterben, weil sie nachts nicht liegen und nicht sitzen konnte und keine Luft bekam. Ich sprach mit ihrem Arzt, aber der viel beschäftigte Herr meinte, sie sei zu dick. Wenn sie Diät hielte und sich mehr Bewegung machte, würde sie sich schon besser fühlen.
Darüber war Tante empört. Ihr das zu sagen, wo sie von Sanatorium zu Sanatorium reiste. «Und Bewegung hatte ich doch, weiß Gott, genug. Ich bin im Harz täglich zwei Stunden marschiert, und auf dem Schiff habe ich mich niemals nach dem Essen hingelegt wie die andern.»
Ich blieb drei Wochen bei ihr, ich kochte ihr Diät, weil ihre Köchin das nicht verstand oder verstehen wollte, und pflegte sie. Von Dresden habe ich wenig gesehen. Ich kam einmal in die Oper zu einem Ballettabend und einmal ins Körnerhaus, das mich sehr interessiert. Sonst hatte mich Tante mit Beschlag belegt.
Im Herbst fuhr ich nach Irland.
Diese Reise war mir in den Schoß gefallen.
Ich hatte bei einem Rote-Kreuz-Bazar an der Tombola ausgeholfen und zwei Lose genommen. Ich gewann einen Schrankkoffer und diese Reise auf einem Lloyddampfer nach Irland.
Man gratulierte mir dazu, denn es war August, und die berühmte horse show hatte dort begonnen, ich freute mich schon auf die schönen irischen Pferde und auf die Reise übers Meer.
Aber als wir von Hamburg abfuhren, regnete es, und das Meer hatte sich in Nebel gehüllt. Die Mitreisenden waren reiche Leute, die von ihren Erholungsreisen erzählten, von Bayreuth und Oberammergau, von Wien und Berlin und Potsdam. Aber sie sprachen eigentlich nur von Hotels und was sie gegessen hatten.
Ich lag in warme Decken gehüllt im Liegestuhl auf dem Deck und genoss die frische Salzluft und hörte die Möwen schreien, die man nicht sah. Man sah überhaupt nichts auf dieser Fahrt, man bekam nur hin und wieder einen Spritzer über die Füße.
«Was wollen Sie denn in Irland?», fragten mich die Amerikaner. «Dort ist doch gar nichts los. Von der horse show werden Sie keinen Pferdeschwanz sehen, und wenn Sie kein Zimmer bestellt haben, werden Sie nirgends unterkommen.» Daran hatte ich nicht gedacht.
Ich hatte mir die Insel grün vorgestellt, aber im Regen sah sie grau aus wie ein Gespenst im Nebel. Der Dampfer hielt auf dem offenen Meer, er fuhr nicht an die Insel heran, ein kleiner Tender kam uns abholen, er tanzte über die Wellen und verschwand darin, aber immer wieder tauchte er auf, und als wir einstiegen, war er nass, und wir kletterten hinein mit Lebensgefahr, drei Irländer, zwei Franziskanerpater und ich.
Wir schwankten über das stürmende Meer, und die Pater waren beide sehr krank, die Irländer waren vergnügt, sie schienen etwas betrunken, und das Haar hing ihnen über die Stirn ins Gesicht wie Ben, wenn er vom Schwimmen kommt. Als wir drüben ankamen im Nebel, ging ich mit den Patern in das nächste Hotel am Ufer. Es war ein schlecht beleuchteter, düsterer Kasten, eine Saalgroßmutter in Filzschuhen schwamm darin herum und fragte uns nach unseren Wünschen. Da ich die Speisekarte mit den merkwürdigen, ich glaube gälischen, Worten nicht lesen konnte, bestellte ich das Menü. Aber ich konnte es auch nachher nicht essen. Nach Tisch saß ich am Kaminfenster im Salon, und mir gegenüber saß einsam der eine Franziskanerpater. Wir rührten beide in unserem schwarzen Kaffee und schwiegen, und draußen hörte man das Rauschen des Meeres und die Nebelhörner, die schaurig durch die Nacht heulten. Und der Regen prasselte gegen die Scheiben. Die Saalgroßmutter schlidderte herein und fragte uns etwas, der Pater sah mich hilflos an und sagte, er könnte die Leute hier nicht verstehen, ob ich Deutsch spräche. Und er war sehr erfreut, dass ich das konnte, denn er konnte kein Wort Englisch, geschweige denn Irisch. Ich fragte ihn, woher er käme, und er sagte, ach, den Ort kennte ich sicher nicht, aber ich wollte es wissen, denn seine Sprache kam mir bekannt vor, und er sagte, er sei aus Wiederitzsch … Er sei Austauschgeistlicher und sollte zwei Jahre in Irland bleiben. Wie mir das Land gefiele? Ich sagte, vorläufig hätte ich noch nichts von ihm gesehen als Nebel. Dann gingen wir auf unsere Zimmer. Es war windig und kalt, und die ganze Nacht klapperten die Fensterläden und klirrten leise die Fenster im Sturm.
Ich fror sehr unter meiner dünnen Decke. Ich legte mir alle Kleider, die ich mithatte, auf mein Bett, aber ich wurde davon auch nicht wärmer. Das Haus war mir unheimlich, es war so düster und kalt und so nahe dem Meer … Im Speisesaal hatte ich überall Schatten gesehen, und er schien mir von einer unheimlichen Atmosphäre erfüllt.
Ich fragte am nächsten Morgen einen Angestellten, ob dieses Haus früher irgendein Schicksal erlebt habe, und er meinte, davon wüsste er nichts, aber als die «Lusitania» in der Nähe untergegangen sei, habe man die Ertrunkenen hierhergebracht, ihre Bahren hätten unten im Speisesaal gestanden, und die wahnsinnig gewordenen Frauen seien dazwischen herumgelaufen. Diese Atmosphäre hat das Haus festgehalten, ich fühlte es bei meinem Eintritt, dass etwas Ungewöhnliches darin geschehen sein musste, es war alles so kalt und gespensterhaft wie meine erste Nacht auf der Insel … Am nächsten Morgen war ich froh, als ich mein Schiebefenster in die Höhe schob, dass die Sonne wieder schien und ich das Meer sah, graugrün und schimmernd, eine leuchtende Fläche. Es hatte sich beruhigt. Ich fuhr mit einem Omnibus zur nächsten Stadt, die Fahrt war hübsch und ging durch einen schönen Laubwald, bis der Wagen plötzlich hielt. Da er nicht weiterfuhr und niemand ein- oder ausstieg, fragte ich, was denn die Ursache sei. Und der Kutscher antwortete seelenruhig, die Pfeife im Mund: «Un accident …» Die Lenkstange war gebrochen, weiter nichts. Ich war erstaunt, dass die übrigen Passanten das so ruhig hinnahmen, sie saßen da, hatten ihre Kragen hochgeschlagen, rauchten und lasen ihre Zeitungen. Endlich, nach zwei Stunden, kam ein zweiter Omnibus, der uns weiterbeförderte, und wir kamen gegen Mittag in der kleinen Stadt an. Ich bekam ein einfaches, kleines Zimmer in einem bescheidenen Hotel – bis hierher schien die horse show nicht gedrungen zu sein –, und ich begab mich zur Stadt. Ich stieg auf einen der sidecars und ließ mich herumfahren. Die Stadt bot keine großen Sehenswürdigkeiten, und es war regnerisch und kühl, so ließ ich mich vor ein Kino fahren. Als ich mich kaum hingesetzt hatte, teilte sich der Vorhang, und das Niederwalddenkmal erschien … der Rhein, mein Rhein, meine Heimat … zog in vielen, schönen Bildern an mir vorbei. «Their beloved Rhine is free again …» Mir kamen die Tränen, denn unser Rhein war ja wieder frei geworden …
Meine übrigen Fahrten durch Irland waren nicht gerade vom Glück begünstigt. Zu Irland gehört schönes Wetter, aber es regnete Tag für Tag. Ich durchquerte die Insel mit der Bahn und den Omnibussen, aber ich sah nicht viel mehr als triefende Wälder, nasse Weiden, zusammengebrochene Zäune und eingestürzte Hütten und weidendes Vieh im Regen, das dem Zuge traurig nachsah … Wohin ich kam, waren die Hotels besetzt, wenn ich ein Zimmer bekam, musste ich am nächsten Tag wieder heraus, weil der Herr, der das Zimmer «gebooked» hatte, angekommen war. Es gelang mir zwar, ein irisches Theaterstück zu sehen, das Geburtshaus von Oskar Wilde, einen schönen zoologischen Garten, ein Museum in Dublin und kleine Städte, in denen ich einige Stunden Aufenthalt hatte, die mir im Regen sehr langweilig und triste vorkamen, aber von der horse show sah ich, wie der Amerikaner mir vorausgesagt, keinen Pferdeschwanz, denn die Plätze auf den Tribünen waren alle vorausbestellt und die Zimmer auch. Ich endete schließlich im Regen in einer Hotelpension am Meer, die mich aber auch nach zwei Tagen hinaussetzte, weil ein Horseshowbesucher erschien, und einmal musste ich in Galway, wo auch wegen einer kleinen «horse race» alles bestellt und besetzt war, in einem Gasthof dritten Ranges mit einer fremden Dame in einem Zimmer übernachten, in dem außer zwei riesigen Himmelbetten nichts stand als ein Stuhl und ein Tisch mit einer Waschschüssel, die nicht größer war als die von der Königin Maria Antoinette im Schloss von Versailles … In der Nacht weckte uns ein Poltern an der Türe, und ein Gast erschien mit zwei Handkoffern, der Einlass verlangte und sehr schwer zu bewegen war, sich zurückzuziehen, aber die Irin streckte ihren Kopf aus den Falten des Himmelbettes und überschüttete ihn mit einer Flut von Worten, die sicher keine Komplimente waren, und der Eindringling zog sich knurrend zurück.
Ich war sehr froh, als ich nach diesen Erfahrungen im Regen wieder mein schönes Schiff bestieg und eine blitzsaubere Kabine vorfand, in der ich allein war und die niemand «gebooked» hatte. Den ganzen Weg bis Hamburg regnete es, und die Möwen schrien wieder … Aber als wir in Hamburg ankamen, schien die Sonne. Ich ließ mich daher verleiten, noch einen Tag in Hamburg zu bleiben, und ich habe es nicht bereut, ich hatte ein schönes, ruhiges Zimmer in einem guten Hotel und sah mir Ausstellungen und Galerien an und wanderte durch die Stadt. Ich besuchte das Geburtshaus von Brahms … Ich war erschüttert. So eng und ärmlich hatte ich es mir nicht vorgestellt, und doch hat er dort jenes Regenlied gedichtet, eines der «Lieder, die wir auf der Türe sangen, als wir Kinder noch gewesen …». Er hat es in Erinnerung an seine Kindheit geschrieben. Und während ich durch die schöne Stadt wanderte, musste ich an Stetten denken, er war ja von hier …
Es war meine erste Auslandsreise nach der Frankreichfahrt und wird wahrscheinlich meine letzte sein. Ich werde lange davon zehren.
Die große Schriftstellerin aus Berlin würde sicher eine Vortragsreise über Irland daraus gemacht haben und ein Buch «Wie ich Irland sah». Aber ein solches Talent bin ich nicht.
Zu Hause empfing mich diesmal nicht Frau Korzfleisch, sondern Margot. Sie stand auf dem Bahnhof mit einem ernsten Gesicht und sagte, als sie mir den Koffer abnahm: «Du, Mama, mit unserer Ulla stimmt etwas nicht.»
Ich habe lange nichts mehr in mein Tagebuch eingetragen, und ich dichte nicht mehr. Die Ereignisse sind auf mich eingestürmt, Ullas Schicksal hat mich mitgerissen.
Ich hatte mich in der letzten Zeit vor meiner Reise nicht viel um sie kümmern können, als ich meine Reise vorbereitete und Tag und Nacht an meinem historischen Roman arbeitete. Ich habe ihn zweimal zurückbekommen. Das erste Mal, weil er «zu sehr mit Stoff überlastet sei, was die Handlung aufhielte», und das zweite Mal gefiel er dem Verlag nicht, weil er zu kurz geraten war. Dann habe ich ihn von Neuem umgearbeitet und abgeschrieben, am letzten Tag vor meiner Abreise kam endlich das Honorar. Mit diesem in der Tasche konnte ich die Reise antreten. Margot versprach mir, für alles zu sorgen, ich könnte ruhig reisen. «Aber ein Kindermädchen bin ich nicht», sagte sie. Und sie erzählte mir in der Straßenbahn, dass Ulla oft abends fortgegangen sei, ohne zu sagen, wohin, dass ihr verstörtes Aussehen ihr aufgefallen sei und sie sie oft in ihrem Zimmer weinen gehört habe. Warum, hatte sie ihr nicht sagen wollen. Auf den ersten Blick wusste ich es, als ich meinem Kind gegenüberstand. Ulla hatte sich sehr verändert … Sie sah verhärmt und verstört aus und hatte ihre ganze Frische verloren … Sie war scheu und ängstlich mir gegenüber und wich mir aus, als ich sie fragte, was ihr fehle. «Aber gar nichts, Mama», sagte sie scheu und trotzig, und in ihren Augen glänzte es verräterisch auf wie von verhaltenen Tränen.
Um Gottes willen, das Kind! Irgendetwas war geschehen, das sie so verändert hatte.
In der Nacht hörte ich ein Geräusch in der Küche … Ich rief: «Wer ist da?»
«Ich», sagte Ullas schüchterne Stimme. Sie klang wie erstickt.
«Was tust du nachts in der Küche?», fragte ich.
«Ich hole mir Wasser, ich hatte Durst.»
Ich wartete, aber sie kam nicht wieder … Ich stand auf und ging ins Badezimmer, da kam sie mir entgegen, bleich, mit tiefen Rändern unter den Augen.
«Kannst du nicht schlafen, Ulla?»
«Nein … ich habe was Schreckliches geträumt, davon bin ich wach geworden.»
Aber ich wusste nicht, ob das wahr sei. Ein Verdacht war mir gekommen, ich ließ die Ärztin kommen.
Das Ergebnis der Untersuchung: Ulla bekommt ein Kind.
Nach dem Vater brauchen wir nicht lange zu suchen. Es ist Heinz Frosenius, der Gärtnerssohn, der eben als Soldat dient. Ich schrieb an die Eltern und bat sie zu einer Unterredung zu mir. Sie kamen nicht und antworteten auch nicht.
Seit einem Jahr spielt die Geschichte zwischen Ulla und ihm. Sie hat auf der Halde angefangen in dem alten Eisenbahnwaggon, der dort zwischen den Brombeeren steht wie ein in die Erde gesunkenes vorsintflutliches Ungeheuer. Auf dem anderen Flussufer liegen die Gärtnereien der Frosenius. Ich hatte Heinz immer für ihren einzigen Sohn gehalten, aber er hat noch einen älteren Bruder, der nach Russland gegangen ist.
Vor seiner Mutter scheint Heinz große Furcht zu haben. Ich kenne sie vom Markt. Sie hat immer das schönste Gemüse und das beste Obst, ich habe früher meine Himbeeren und den Spargel von ihr bekommen. Es ist eine stattliche Frau mit einem gut geschnittenen, strengen Gesicht. Sie sieht gut aus in ihren frischen, hellen Waschkleidern, sie spielt eine Rolle auf dem Markt, sie lässt sich nichts gefallen, sogar die Schutzleute haben Respekt vor ihr, und die Damen machen ihr den Hof. Im Winter war Rebellion unter den Marktfrauen, man wollte ihnen eine Markthalle bauen vor der Stadt, aber sie weigerten sich hineinzugehen. Sie sitzen lieber im Winter im Schnee unter ihren großen Schirmen, und wenn es friert, haben sie kleine Kohlenbecken unter dem Stuhl und trinken heißen Kaffee. «Man kann die Menschen ja nicht zur Vernunft zwingen», sagt Onkel Dolf, der im Magistrat sitzt und für die Markthalle gestimmt hat. Weiter weiß ich von den Frosenius nichts. Wenn man nach der Heide geht, kommt man an ihren großen Gärtnereien vorbei, die sehr in Ordnung gehalten sind. Es sind wohlhabende Leute. Der Vater Frosenius ist schon etwas vertroddelt, er hat immer die Pfeife im Mundwinkel. Er hat mir früher die Kartoffeln gebracht auf einem offenen Wagen mit einem Schimmel davor. Das sind meine Zusammenhänge mit den Frosenius. Da sie keine Lust zu dieser Unterredung zu haben scheinen, habe ich mich auf den Weg gemacht. So schwer ist mir noch kein Gang geworden wie der über die Halde nach dem Flussufer hinunter zur Gärtnerei.
Es war ein grauer, stürmischer, herbstlicher Tag mit flatternden, braunen Blättern und rotem Ginster … «Die Heide ist braun, einst blühte sie rot.» Das alte Lied von Robert Franz summte mir im Kopf, während ich meinen Hut und Schal festhielt und gegen den Wind ankämpfte. Frau Frosenius war im Garten beim Birnenabmachen. Sie empfing mich eisig. Sie legte ihre Holzschuhe ab, und wir gingen ins Haus, ein kaltes, sauberes, einfaches Haus, in dem man Essen kocht und schläft. Es roch nach Äpfeln und Essigbirnen.
In der Küche saßen wir uns gegenüber, und sie ließ mich sprechen … Sie sagte kein Wort dazu. Ihre strengen Züge sind braun gebrannt wie die einer Holzstatue. Die hart gearbeiteten Hände im Schoß hörte sie mich unbewegt an.
Ich fragte, was nun geschehen solle und weshalb sie nicht geantwortet hätten.
Sie zuckte die Schultern. «Was soll man denn tun, nachdem es geschehen ist? … Es sind doch noch zwei Kinder … Und der Heinz ist bei den Soldaten …»
«Und das Kind?», fragte ich.
«Das Kind ist nicht so wichtig. Ein Kind kann man auf dem Land bekommen, es gibt ja genug Heime für solche Mädchen … Hier geht das natürlich nicht, wegen des Geredes.» Sie war sehr aufgebracht, dass ich verlangte, dass die beiden heiraten sollten, und zwar sofort.
Sie hörte mich stumm an. In dem harten, sonnenverbrannten Gesicht regte sich nichts. Und dann sprach sie. Heiraten? Ihr Junge? Und warum? Weil die Ulla ihm nachgelaufen war? Sie hatten’s nie haben wollen, dass die beiden immer zusammensteckten, ihr Heinz hatte von seinem Vater oft genug deshalb Haue gekriegt. Sie hatten kein Interesse daran, dass ihr Junge die Ulla heiratete. Wir passten nicht zusammen, das wolle sie mir gleich sagen. Ich hätte sollen besser auf meine Tochter aufpassen.
Ich stand auf. Ich hatte genug. Die Frau gibt nicht nach. Ihre hellen Augen funkelten, als ich von der Heirat sprach.
Ich ging zu Onkel Dolf und sagte ihm alles. Er wetterte fürchterlich und wünschte den Fluch des Himmels auf Ulla und die Frosenius herab. Nie ist in seiner Familie so etwas vorgekommen. Das ist Rheinländerart. Auf Rheinschiffen Lieder singen und Bowle trinken und auf Eseln auf dem Drachenfels reiten! Solche Geschichten! Ich habe ihn nur mit Mühe davon abhalten können, zu den Frosenius zu gehen und ihnen seine Meinung zu sagen. Wenn Onkel Dolf jemand seine Meinung sagt, gibt es eine Klage oder einen Prozess. Und was würde das uns helfen?! Die Nachtigall, die an den Türen lauscht, war bleich vor Entsetzen, als ich herauskam. Ich stehe allein, niemand wird mir helfen. Meine arme, kleine, veränderte Ulla sieht aus wie ein Geist … Sie weint sich die Augen rot, weil sie uns alle so unglücklich gemacht hat, und ich muss sie trösten. Aber was kann ich ihr zum Trost eigentlich sagen, wenn sich die Familie Frosenius so stellt?
«Es wird noch alles gut werden, Ulla, du hast es ja gewollt.»
«Nein, Mama», schluchzt das Kind. «Ich hab es nicht gewollt. Ich hab es doch nicht gewusst … Es war an einem Sonntag, wir waren allein, und er war immer so nett zu mir … Ich weiß nicht, warum ich das getan hab, ich weiß es wirklich nicht …»
Ich liege schlaflos und denke nach, über Margots Zimmer in der Stadt, über Dieters Geld, das er einem Kameraden geborgt hat und nicht wiederbekommen kann, über Bens Zukunft, wenn er noch einmal sitzen bleibt, wie mir sein Klassenlehrer sagt. In ein Internat kann ich ihn nicht schicken, die Schule wird ihn entlassen, und was fange ich dann mit ihm an? …
Ben strebt zur See, auf ein Schiff, am liebsten ein Kriegsschiff oder einen Segler, Schiffsjunge werden, auf den Mast klettern, und bei Windstärke 12 Ausschau vom Mastkorb halten im Sturm, wenn die Matrosen mit Tauen an die Maste gebunden werden, damit sie nicht ins Meer rollen … In seiner Stube hängen lauter Bilder von Schiffen, die sich durch die Wellen kämpfen, von Seglern neuen und ältesten Datums, mit Reißzwecken angenagelt. Die Schule interessiert ihn nicht. «Wenn sie mich weiter so triezen», sagte er zu Dieter, «dann türme ich einfach und lass mich in Hamburg oder Bremerhaven anheuern.» Ich habe große Mühe, ihm das auszureden.
Es ist Oktober. Die Verhandlungen mit den Frosenius sind nicht weiter gediehen, sie scheitern an der starren Haltung der Mutter. Onkel Dolf ist dafür, dass sie abgebrochen werden und Ulla ihr Kind irgendwo auf dem Lande bekommen soll. Das Weitere wird sich dann finden. Aber wohin mit Ulla? Hier kann sie nicht länger bleiben, ihre Freundinnen dürfen nichts davon erfahren … Sie will aufs Land zu Bauern, grobe Arbeit tun, nur jetzt niemand sehen, nicht unter Menschen sein, die sie kennen und ausfragen. Heinz schreibt nicht. Briefe sind nicht seine starke Seite, aber Ulla grämt sich darüber. Sie schreibt ihm jeden Abend. Ich sage ihr, dass das nicht gut ist.
Männer wollen keine solchen Briefe, jedenfalls keine tränenbetauten, wie Ulla sie bei einer Kerze abends anfertigt. Ich bin überzeugt, dass Heinz sie in seinen Soldatenrock steckt, ohne sie zu öffnen.
Wenn wir darauf dringen, muss die Hochzeit natürlich stattfinden. Hochzeit? Ich meine, die standesamtliche Trauung. Aber zwingen wollen wir den Jungen nicht. Seine Eltern sind dagegen. Auf solcher Ehe würde kein Segen ruhen.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und zähle mein Geld. Das ist für Dieter, das für Margot, das für Ben, was übrig bleibt, ist für Ulla. Aber die Miete, die Kohlen für den Winter, der schon naht. Die Wohnung ist bei dem ewigen Regen frostig und feucht. – Ich krame heimlich aus meinen Kisten altes Wickelzeug hervor, verfilzte Jäckchen, teils sind sie schon ganz vermottet. Ich habe eine kleine, bescheidene Kinderausstattung zusammengebracht, hab genäht und gestrickt bis in die Nächte. Ulla besorgt die Hausarbeit. Sie sieht elend aus und hat rot geweinte Augen … Frau Korzfleisch sagt gar nichts dazu. Das ist ein schlimmes Zeichen. Sie will mich nicht kränken und sieht Ulla immer von der Seite kopfschüttelnd an … «Es ist sicher die Bleichsucht», meinte sie neulich.
Ihr Mann weiß von einem jungen Mediziner ein Mittel gegen Bleichsucht. Ulla hat schon gar keine Farbe mehr im Gesicht. Die arme Ulla schnürt sich ihr Leibchen enger und macht sich heimlich ihre Röcke weiter.
Sie wartet auf einen Brief von Heinz, der nicht kommt.
Ich habe die Dörfer der Umgegend abgelaufen nach einer Unterkunft für Ulla und habe sie gefunden auf einem einsamen Gehöft an der Landstraße zwischen zwei großen Bauerndörfern bei zwei älteren Leuten, denen ihre Magd weggelaufen ist. Die Frau wollte erst nicht. Junge Mädchen aus der Stadt seien nichts für sie. Aber als ich ihr dann die große, kräftige Ulla anbrachte, meinte sie, die sähe aus, als ob sie arbeiten könnte. Das andere ist ihnen einerlei, das spielt auf dem Lande keine Rolle, ob ein Kind unterwegs ist. Wenn sie nur melken lernt, das ist die Hauptsache … Es ist weder ein Knecht noch eine Magd auf dem kleinen Hof, nur das alte Ehepaar. Sie wird tüchtig anpacken müssen. Als wir Ullas Sachen in dem einfachen, kleinen Dachzimmer untergebracht hatten, fiel sie mir um den Hals.
«Gute Mama. Was du alles mit uns erleben musst! Aber später machen wir es wieder gut an dir, das verspreche ich dir …»
«Liebst du ihn denn wenigstens?», fragte ich.
«Doch, doch, Mama», versichert sie mir unter Tränen. «Ich kenn ja keinen andern … Es war immer nur der Heinz!»
Frau Korzfleisch ist nun dahintergekommen, was Ulla fehlt, und sie versucht, mich zu trösten. Ich erfahre, wem das in der Stadt schon einmal passiert ist und wie sich dann alles schließlich noch ganz gut abgewickelt hat, und heute weiß kein Mensch mehr, ob diese vielen Kinder, die hier herumlaufen, vor oder nach der Hochzeit ihrer Eltern angekommen sind. Es ist ihr Lieblingsthema bei den Damen am Milchwagen, die auch etwas murmeln gehört haben.
«Was die Leute für ein Gemähte machen wegen so einem Gind», findet sie. «Wenn’s da ist, ist alles vergessen. Ich hätt mir nur einen andern ausgesucht als den Heinz Frosenius mit seinem dämlichen Vadder und der Mutter. Die als Schwiegermama! Mit der hab ich auf einer Schulbank gesessen, die hat mir manchen Pusch Haar ausgerissen, die Alte … Die soll sich nur nicht so anstellen! Die hat ja selber ihren Ältesten vor ihrer Hochzeit gehabt, und man weiß noch lange nicht, ob der alte Frosenius sein Vadder war. Aber der is ja nun kein Kirchenlicht, und den Jungen hat sie so lang verzogen, bis er ausgekratzt ist, nach Russland … Da gehört er auch hin.»
Ullas Freundinnen kommen jetzt eine nach der anderen an. Sie wissen natürlich längst, weshalb Ulla auf dem Lande ist. Aber ich sage ihnen immer lächelnd, es ginge ihr gut. Ulla hat ja immer fürs Land geschwärmt. Aber wenn ich abends an meinem Nähtisch sitze und, statt Romane zu schreiben, vergilbte Wickelschnüre ausbessere und Windeln säume, denke ich oft, dass ich mir diese Vorbereitungen, die von den Dichtern besungen und von den Musikern vertont worden sind, etwas anders vorgestellt habe. Ich denke darüber nach, wie ich Ulla mit ihrem Kind durchbringen kann. Ich muss mir einen Beruf suchen, der mehr einbringt als das Dichten.
An einem kalten Märztag fliegt mir ein Telegramm von meiner Freundin Beate aus Godesberg ins Haus. Sie kommt auf der Durchreise hier vorbei, sie fährt nach Berlin, um einen Chirurgen zu konsultieren. Sie will hier aussteigen und mich wiedersehen … Ich soll ihr Quartier besorgen. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Sooft sie mich einlud, sie zu besuchen, kam etwas dazwischen, ein Kind, ein Umzug oder sonst etwas. Ich war gerade dabei, ihr Zimmer zurechtzumachen, als ein Telefonruf aus der Klinik in Besenheim mich zu Ulla rief. Da ich mein Kind nicht im Stich lassen konnte, fuhr ich nach Besenheim und ließ die gute Beate vorbeifahren. Ich tat es mit sehr schlechtem Gewissen, aber was sollte ich tun? Ihre Depesche klingt ernst. Einen Chirurgen in Berlin? Sie schrieb schon neulich von Beschwerden, die wiedergekommen seien … Ich bat sie, mich auf der Rückreise zu besuchen. Dann hörte ich nichts mehr von ihr.
Ullas Kind wurde an einem kalten, windigen Märztag geboren. Die Wehen hatten schon eingesetzt, als ich ankam, und alles ging dann ziemlich rasch und normal vonstatten. In ein paar Stunden war alles vorbei. Ein Junge von fünf Pfund, eine leichte, glückliche Geburt. Es ist ein gesundes, mageres Kind mit rötlichem Haar. Ein Glück, dass Ulla es selbst nähren kann!
Ulla lächelt tapfer, sie drückt das kleine Bübchen fest an ihre Brust. Wie ich einst sie … Sie liegt da wie ein Kind, das eine Puppe bekommen hat. «Sieh doch, Mama, es hat dieselben Augen wie Heinz und seine rötlichen Haare.»
Den Frosenius habe ich es nicht mitgeteilt. Ich bezahlte die Rechnung und den Arzt. Ich mag von diesen Eltern nichts verlangen. Es gibt keine Klage, keinen Prozess. Heiratet er Ulla oder nicht, das mag er entscheiden, ich werde ihn nicht dazu zwingen. Wir werden das Kind schon durchbringen … Niemand hat mir zu meinem ersten Enkelkind gratuliert. Nur die Korzfleisch brachte sechs Windeln von ihren Söhnen an, Fräulein Nachtigall zwei hellblaue Jäckchen, und die Bauersfrau, bei der Ulla gearbeitet hat, schickte ein Paket Butter und Speck. Die Gaben der Feen …
Ich bin wieder lange nicht mehr zum Schreiben gekommen. Ullas Schicksal hat sich gewendet. Heinz erschien eines Tages, um sein Kind zu sehen. Er hat es, nach einer Szene mit seiner Mutter, durchgesetzt, dass sie heiraten. Es war eine kleine, bescheidene Hochzeit, vielmehr gar keine Hochzeit. Sie wurden standesamtlich getraut und fuhren dann mit dem Kind zu seinen Eltern, wo sie zunächst wohnen sollen und er in der Gärtnerei arbeitet wie jeder Angestellte. Die Eltern haben ihnen über der Scheune zwei Stuben ausgebaut, sie essen mit ihnen, und Ulla wird der Mutter den Haushalt abnehmen, wenn Frau Frosenius auf dem Markt ist und in ihrem Waschkleid stattlich und sauber unter ihrem grauen Schirm zwischen ihren Gemüsekörben thront. Die Frage der Ausstattung habe ich auch erledigt. Etwas Wäsche aus meinem stark zusammengeschmolzenen Wäschevorrat. Ullas Schlafzimmer und zwei Betten mit neuen Matratzen, etwas Küchengeschirr, das ist alles, was ich ihr mitgeben kann. Nun ist Ulla bei den Frosenius. Der Junge gedeiht gut, Ulla ist wieder schlank und hübsch.
Meine Freundin Beate, die ich über meinen Sorgen ganz vergessen hatte, ist wieder hier durchgekommen, aber … in ihrem Sarg. Ihr Mann hat mir die schwarz geränderte Anzeige geschickt und mir ein paar Worte dazu geschrieben … Sie hat die Operation glücklich bestanden, oder es schien so, sie stand auf, fiel um – Embolie … Er verliert alles mit dieser tapferen, liebenswürdigen Frau … Es war eine glückliche Ehe … Ich habe lange dagesessen und auf ihren Namen gestarrt, bis ich es fassen konnte, dass dieser liebe Mensch, den ich von Jugend auf kannte, der mir eine so treue Freundin war, von mir gegangen ist, ohne dass wir uns noch einmal gesehen haben. Ich möchte mich zerreißen, dass ich damals nicht auf den Bahnhof ging! Aber Ulla ging vor …
Wenn man früher einen Trauerfall, der einem naheging, oder sonst ein Unglück erlebte, reiste man nach Ägypten oder nach Norwegen, man machte eine schöne Mittelmeerreise mit einem Gesellschaftsdampfer, es wurde immer als bestes Rezept empfohlen zu vergessen, was man vergessen wollte.
Ich hatte mir in den kalten Märztagen in der ungeheizten Kleinbahn auf meinen Fahrten über Land eine tüchtige Halsentzündung zugezogen. Früher legte ich mich damit ins Bett, der Arzt wurde geholt, und ich ließ mich pflegen, aber das ist schon lange her, so lange, dass ich fast nicht mehr daran glaube. Ich darf ja nicht krank werden, alle dürfen es, nur ich nicht. Um Gottes willen, wer würde das Haus besorgen, die Öfen, die Einkäufe und das Kochen? An einer Halsentzündung stirbt man nicht, sagt Onkel Dolf. Die Funkes wickeln sich einen Wollstrumpf um den Hals, und es wird auch gut. Aber ich bin keine Funke. Und wollene Strümpfe habe ich überhaupt keine.
Ich bin eine vom Rhein. Ich möchte in ein warmes Sanatorium, um mich einmal auszuschlafen; aber ich muss zu Hause bleiben. Jetzt reisen meine Kinder. Sie werden von den Schulen aufs Land verschickt, sie helfen bei der Heuernte und beim Kartoffelausmachen im Herbst.
Ich mache ihre Garderobe zurecht für ihre Ferienreisen und bewache Bens Kaninchen. Er hat mir gesagt, was sie fressen und was nicht, und dass ich auf die Alte Acht geben soll, die sich gern von ihrer Familie entfernt und Ausflüge in die Nachbargärten macht, was uns schon Klagen zugezogen hat. Es ist also wichtig. Ich habe Dieters Hund in Pension. Dieter hat in Berlin eine Wohnung, in der keine Hunde erlaubt sind. Es ist ein sehr niedlicher, aber noch junger Drahtterrier, vor dem man Teppiche und Sofas schützen muss und der sich nachts trotz heftiger Abwehr auf mein Plumeau legt. Aber wenn ich ihn heraustue, verkratzt er mir die Türen, die ich erst neu gestrichen habe. Und wenn die Ferien zu Ende sind und die Kinder wiederkommen, überreichen sie mir überquellende Koffer voll schmutziger Kleider, die sich die Korzfleisch weigert zu waschen. Die Kinder haben dazu keine Zeit, sie müssen arbeiten, auf die Sportplätze, sie marschieren und machen weite Gänge durch die Heide und über Land. Sie tragen Uniformen, in denen sie sich sehr fesch vorkommen, und keine Hüte mehr. Margot trägt jetzt kurze Locken, die sie sich von einem Friseur zu Dauerlocken machen ließ. Sie sieht sehr gut darin aus, die Leute sehen ihr nach. Sie trägt keine Strümpfe mehr, bis es friert, sie ist sehr abgehärtet auf dem Land. Sie hat Rüben gehackt und Kartoffeln gelesen bei den Bauern, eine Tätigkeit, von der sie weniger begeistert war, die sie aber mitgemacht hat, weil jetzt alle helfen müssen, damit Deutschland nicht hungern muss.
Dieter ist auf der Kriegsakademie. Er schreibt selten und immer sehr kurz, anderthalb Seiten, wie sein Vater. Er hat dieselbe knappe, etwas hingehauene Schrift. Als ich noch Anders’ Briefe verstecken musste vor meinen Eltern, hat diese Handschrift mir immer einen Schrecken eingejagt. Dieters Briefe sind sachlich und etwas trocken, aber das ist ja wohl soldatisch. Für Überschwänglichkeiten ist er nie gewesen. Und was er sagt, ist richtig. Widerspruch verträgt er nicht, es wäre zwecklos, ihn überzeugen zu wollen. Er spricht eine Nuance zu laut, als ob wir alle schwerhörig wären. Er ist ein sehr eleganter, junger Mann, stolz und schlank mit einem festen, schön geschnittenen Profil und straff zurückgekämmtem blondem Haar und hellen, grauen, kühlen Augen.
«Der wird seinen Weg schon machen», sagt Onkel Dolf. «Jetzt geht das mit den Weibern los. Schick ihm nur nicht zu viel Geld!»
«Was soll er dir denn viel schreiben?», sagt Margot. «Das, was uns interessieren würde, darf er ja nicht schreiben, und für schöne Phrasen im Sinne des vorigen Jahrhunderts ist er nie gewesen.»
Im Sinne des vorigen Jahrhunderts. Ich muss das jetzt sehr oft hören. Ich kann nichts dafür, Margot, dass ich aus dem vorigen Jahrhundert stamme.
Mit Ben habe ich allerlei durchgemacht, bis er durch Onkels Vermittlung als Volontär auf einem Eisenwerk bei Wiederitzsch unterkam. Er wollte durchaus durchgehen, auf ein Schiff … Er fand es an der Zeit, nachdem ihn die Schule wegen dreimaligen Nichtversetzens entlassen hatte. Er hatte seine Brücken hinter sich verbrannt, seine Kaninchen verkauft und sein Briefmarkenalbum einem Freund zur Verwahrung gegeben, nun wollte er in die weite Welt auf das Segelschiff, das ihm seit seiner frühesten Jugend vorschwebte … Ein Glück, dass unsere alten Dielen immer krachen, wenn man sie betritt. Er stand schon mit seinem Bündel vor der Tür, um nach Hamburg abzudampfen, als ich es merkte und aufstand und ihn rechtzeitig am Kragen packte.
Onkel Dolf hat ihm die Stelle besorgt, der Werkmeister ist zufrieden mit ihm, er ist geschickt und fleißig und kommt sonntags heim, um mir seine Wäsche zu bringen und sich bei mir satt zu essen. Wenn er heimkommt, ist sein erster Gang immer in unseren Garten. Er ist der Einzige, der sich um den Garten kümmert. Er hat sich ein Stück Land neben dem Fabrikgelände gekauft – von einer Novelle von mir –, und darauf pflanzt und gräbt und erntet er jetzt. Er zimmert sich eine Wohnlaube, er kann nicht in Mietkasernen schlafen, lieber schläft er unter einem Baum. Immer, wenn er hier ist, schleppt er etwas mit, einen kleinen Ofen für die Laube, einen Tisch, ein Bett, Stühle und Schränke hat er mir schon fortgetragen. «Und etwas Geld, nicht wahr, Mama, brauch ich auch für meine Laube.» Sie brauchen alle Geld, mehr als je, meine Kinder … Der Herr Leutnant in Berlin kommt mit seinem kleinen Sold nicht aus, er macht Gesellschaften mit, er ist sehr beliebt als Tänzer und Tischherr, die Damen verwöhnen ihn, besonders die älteren … Er wird Karriere machen, mein Dieter … Aber die macht man auch nicht ganz ohne Geld … Margot hat immer Wünsche, der Friseur, die Näherin, die Handschuhe, die Hüte.
Margot hat einen guten Geschmack, aber billig ist er nicht. «Ich bin ja bald aus deiner Tasche heraus, Mama. Wenn ich selbst Gehalt bekomme, zahl ich dir alles zurück.»
Und zu Ulla kann ich auch nicht mit leeren Händen kommen.
Ich lasse zwar nicht, wie die Kavaliere des achtzehnten Jahrhunderts, das Geld diskret auf dem Kamin zurück in einem versiegelten Umschlag; Ulla nimmt es auch so und lässt’s in der Schürzentasche verschwinden, damit es die Frosenius nicht sieht. Sie wird sehr kurz gehalten. Die Alte rückt keinen Pfennig heraus. Das muss von mir kommen, wo die Ulla doch sonst nichts mitgebracht hat und ihr Heinz solche Partien hatte machen können; sie hatte sie ihm schon ausgesucht, reiche Bauerntöchter aus Wettin und eine Försterstochter mit dreißigtausend Mark Bargeld auf der Bank. Das bekommt sie oft zu hören, die arme Ulla. Aber sie klagt nie, sie lacht immer schon von Weitem, wenn ich komme, und das Bübchen lacht auch. Er ist dick und gesund und rotbäckig, nicht so anfällig, wie meine waren. Herr Ying wohnt noch immer bei mir und trinkt sonntags nachmittags mit mir seinen dünnen chinesischen Tee. Er spricht schon sehr gut Deutsch. Er liest abends auf seinem Zimmer Schopenhauers «Die Welt als Wille und Vorstellung». Er liest es laut, und es hört sich an, als ob einer predigt. Als ich neulich an seiner Tür vorbeikam, war er gerade an dem Kapitel über Musik. Er las es langsam und laut … «So gewiss die Musik eine selbstständige Kunst, ja die mächtigste unter allen ist und ihre Zwecke aus eigenen Mitteln erreicht …»
Ach ja, die Musik! Wie lange habe ich meinen Flügel nicht mehr aufgeschlagen! Wo ist das Quartett hingekommen und die schönen Abende, als wir hier unten musizierten? Neulich begegnete ich wieder einem der Herren von unserem Quartett. Er fragte mich, wie es Dr. Stetten ginge, was ich von ihm hörte. Aber ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Er meinte, wir könnten doch unsere Quartettabende wieder aufnehmen, und ich stimme freudig zu. Aber dazu ist es nicht mehr gekommen.
Mitten in unseren Frieden platzte die Bombe: Krieg …
Sie fiel unerwartet in unsere Häuser und schreckte uns auf. Was nun? Dieter ist schon ausgerückt. Ich brauche nicht nach Berlin zu kommen … Ben ist nach Kiel abgedampft, seine Wohnlaube bleibt unfertig … Ullas Mann muss sofort einrücken, noch ehe er sein zweites Kind gesehen hat, das in diesen Tagen erwartet wird.
Ich habe mich zum Bahnhofsdienst gemeldet und stehe in einer weißen Kittelschürze am Bahnhof, koche Suppe und bediene die Soldaten … In meiner Wohnung, in die ich abends heimkehre, bleibt alles liegen.
Die Ereignisse gehen weiter, Siege und Kämpfe stürmen auf uns ein …
Heinz schickt Feldpostkarten aus dem Osten! Dieter ist nach Frankreich unterwegs … Er kam hier durch. Ich sah meinen schönen Jungen fünf Minuten auf dem Bahnhof … Es war ein heißer Tag, ich hatte alle Rosen aus dem Garten für ihn mitgebracht und war in einem weißen Kleid hingegangen. «Gott, die Mama!», sagte Dieter und sprang aus dem Zug. «Ich dachte, es sei ein junges Mädchen!» Er umarmte mich stürmisch. Er war so anders als sonst. Der Krieg hat ihn verändert, er sieht ernster aus, männlich und gestrafft. Er ist noch schöner geworden. Ich gehe stolz an seinem Arm auf dem Bahnsteig auf und ab. Fünf Minuten haben wir, um uns alles zu sagen … Er nimmt meine Hand. «Du, Mama, eine große Neuigkeit …» Seine schönen hellgrauen Augen strahlen. «Ich habe mich verlobt …» Er war zwei Tage in Berlin. «Mit Lisa. Ich schrieb ja öfter von ihr. Sie ist reizend, wir kennen uns schon lange. Die Mutter wollte es erst nicht, der Vater lebt nicht mehr. Sie sind vom Land, sehr wohlhabend, von einem großen Gut in Pommern, aus einer Gegend, in die du niemals kommen wirst, und das Gut hat einen Namen, der einer Rheinländerin unmöglich wäre zu behalten. Also Lisa und ich sind verlobt, und sobald der Krieg aus ist, werden wir heiraten.» Er erzählt mir von seinem Glück. «Der Vater war Legationsrat, sie waren früher in Spanien, sie ist das einzige Kind, frisch und strahlend, wie eine Rose, aschblondes Haar, eine entzückende Gestalt. Ich schicke dir die Bilder. Wir werden keine Anzeigen senden, nur eine Zeitungsnotiz.»
«Bist du denn glücklich, mein Junge?», frage ich. «Und passt sie auch zu dir und zu uns?»
Er lacht. «Aber, Mama, sonst hätte ich sie mir doch nicht ausgesucht. Zu mir passt sie auf jeden Fall. Ob sie in unsere komische Familie hineinpasst, weiß ich nicht.»
Dann muss er einsteigen, es geht weiter. Der lange, lange Soldatenzug setzt sich in Bewegung nach dem Westen. Wie 1914 der Zug seines Vaters. Mein Dieter! Ich winke, und er winkt mir wieder. Die Rosen in der Hand steht er in dem Abteil erster Klasse am Fenster. Ich weine nicht wie die anderen Frauen auf dem Bahnsteig, obwohl sich in meiner Brust etwas fest zusammenkrallt … Ich sehe nur seine strahlenden Augen. Ich sehe dem Zug nach, bis ich nichts mehr von ihm sehen kann als eine Wolke von Rauch. Nun fährt mein Dieter nach dem Westen …
Margot hat mir gestern ihren Verlobten gebracht, einen blonden Mediziner, der Assistenzarzt an der Universitäts-Frauenklinik in Gießen ist. Ein schlanker Norddeutscher aus Breslau mit einer Brille. Er wird natürlich auch bald mit müssen, deshalb wollen sie sich in diesen Tagen trauen lassen.
«Alles andere nachher, Mama», sagt Margot … «Wir brauchen ja keine Fünfzimmerwohnung und keine Ausstattung, nur das Esszimmer und die Lederstühle möchte ich haben. Die hast du mir versprochen … Du brauchst ja keinen großen Tisch mehr.» Und dann möchte sie die Kupferstiche aus dem Flur und einige Familienporträts der Nordecks. «Dieter macht sich ja doch nichts aus Familienbildern, und in Bens Gartenlaube oder Ullas Scheune passen solche Bilder nicht. Da ich sonst nicht viel mitbekomme, nehme ich sie gleich mit. Dann bist du sie los und brauchst sie nicht zu schicken.»
Meine Margot muss man schon lieb haben, um sie zu heiraten. Und das scheint bei dem jungen Herrn der Fall zu sein. Er bewundert sie, ihre selbstsichere Art imponiert ihm. Er ist ruhig und bescheiden. Ich bitte ihn, nicht von mir zu verlangen, ihn gleich du zu nennen. «Mama ist darin komisch», sagt Margot. «Aber wir verlangen das auch nicht, wenigstens nicht gleich.» Das ist alles so nebensächlich bei Margot, und er scheint auch keinen großen Wert auf derartige Familiaritäten zu legen. Sie wollen keine Hochzeit machen, natürlich, nur standesamtliche Trauung. Dann muss er mit seinem Regiment fort nach Polen.
Ich werde nicht gefragt. Ich sehe zu, wie Margot mit einem jungen Mann, von dessen Existenz ich bis vor einer Stunde noch nichts wusste, in meiner Wohnung umhergeht und Bilder von den Wänden nimmt. «Das nehmen wir, und das dort auch. Du erlaubst doch, Mama?» Nur mein blaues Zimmer verteidige ich. Da darf mir niemand etwas wegnehmen … «Es nimmt ja auch niemand etwas weg», sagt Margot. «Sei froh, dass wir dir deine schönen Sachen erhalten!» – «Wir werden sie in Ehren halten», versichert der glückliche Bräutigam.
Dieter schreibt eine Feldpostkarte «aus einer Stadt, in der es guten Rotwein gibt, aber kein Wasser». Er rasiert sich mit Tee. Ben ist vom Werk reklamiert, aber er kann jeden Tag seine Einberufung nach Kiel bekommen.
Gestern habe ich meinen Besuch bei den Frosenius gemacht, um mir Ullas zweiten Jungen anzusehen, der in diesen Tagen angekommen ist. Ich traf sie schon wieder im Garten unter den Bohnen in Holzschuhen, frisch und wohl aussehend. Ihr blau-weiß kariertes Dirndlkleid mit den kurzen, weißen Puffärmeln, das bunte Tuch um den Kopf ist die richtige Tracht für Ulla. Sie sieht darin aus wie eine blühende junge Bäuerin.
Heinz war gerade ein paar Tage auf Urlaub gekommen, Ulla zeigt mir voll Stolz ihre Hühnerschar, die sie allein besorgt, sie hebt vor Tagesanbruch die Eier aus und nimmt die Birnen ab, die ihre Schwiegermutter auf dem Markt verkauft. Das Obst ist so wichtig, jetzt, im Krieg … Sie füttert die Schweine und zieht die jungen Ferkel mit der Flasche auf, und abends melkt sie die Ziegen. Sie haben zwei im Stall. Ulla hat Talent zu allen diesen Dingen, selbst ihre Schwiegermutter muss ihr das zugestehen … Mit Heinz weiß ich immer noch nicht viel anzufangen. Er ist mir gegenüber wortkarg und verlegen wie als Junge, der davonlief, wenn er mich von Weitem erblickte.
Wir sprechen von Belgien, Brüssel und dem Krieg. Der alte Frosenius sitzt dabei, raucht die Pfeife, spricht kein Wort und betrachtet mich misstrauisch, als ob ich gekommen sei, etwas mitzunehmen. Sie werden jetzt von Hamsterern überlaufen. Von den «Stadtfräcken». Die Kleinen liegen in dem niedrigen Giebelzimmer und schreien mörderlich. Ulla legt sie trocken und gibt dem Kleinsten zu trinken. Viel Zeit für ihre Kinder bleibt ihr nicht, aber sie gedeihen in der guten Landluft auch so.
«Bei uns werden keine Geschichten mit Kindern gemacht», sagt Frau Frosenius. Viel Umstände werden in diesem Hause auch sonst nicht gemacht.
Ich kam an der Küche vorbei, wo der Kaffeetisch gedeckt stand. Vier Blechtassen auf dem Holztisch, ein Laib Brot, ein fliegenumsurrter Siruptopf, und auf dem Herd stand die Blechkanne mit dünnem Kaffee.
Ich wurde nicht dazu aufgefordert. Ich sah, wie sich Ulla verlegen nach Heinz umdrehte, aber der wagte es seiner Mutter gegenüber nicht vorzuschlagen. Besuch gehört in das Bereich der «Umstände».
Ich empfahl mich.
Sie ließen mich gehen, und ich ging.
Es regnete, als ich heimging über die Halde, und alles sah braun und herbstlich aus. Dunkle Wolken zogen mit mir. «Einst ging ich zu zwein, jetzt geh ich allein», summte der Wind mir nach und schüttelte das feuchte Gras zu meinen Füßen.
Ich war in bedrückter Stimmung. Wie wenig habe ich mir noch mit Ulla zu sagen. Ich habe sie hergegeben und verloren. Woran es liegt? Weiß man das? Weshalb sie sich zu den Frosenius hingezogen fühlt und dort schafft wie eine Magd, mit solcher Freude, mit der sie nie bei mir etwas tat? Mütter und Töchter … Das Kapitel Väter und Söhne ist bekannt. Es ist auch nicht immer erfreulich.
Ich schließe die weiße Tür meines Hauses hinter mir zu, ich bin daheim. Meine Blumen warten auf mich in den Vasen, mein Teetisch mit der gelben Decke und dem bunten, altmodischen Geschirr, mit Blumen und Vögeln bemalt, die silberne Barockteekanne mit den Füßchen, der weiße Korb mit dem heißen Toast und die Bücher, die ich mir schon hingelegt habe. Wenn ich allein Tee trinke, lese ich immer dabei.
Aber diesmal habe ich keine Stimmung, allein Tee zu trinken. Ich gehe hinauf und klopfe an Herrn Yings Tür … Er ist zu Hause. Er sitzt am Fenster und stopft seine Socken. Er hat niemand, der ihm das besorgt; seine Mutter lebt nicht mehr, und seine Schwestern sind in Schanghai. Er kommt gleich herunter, er hat ein paar Bücher unterm Arm … Goethe … Herr Ying war früher einmal reich, er besaß mehrere Häuser in Schanghai und hatte sieben Diener. Nun hat er niemand mehr, von seiner Familie weiß er nichts mehr, der arme Kerl ist von seinem Vaterland abgetrennt und hiergeblieben, wie ein Schiffbrüchiger, den der Sturm irgendwohin geschleudert hat. Ich habe ihm das Zimmer für einen sehr niedrigen Preis gegeben, den ich niemand sagen werde. Ich würde es ihm umsonst gegeben haben, denn er tut mir leid, aber leider ist für mich das Mitleid ein Luxus. Ich freue mich, dass es ihm bei mir gefällt. Er sieht viel, kennt alles, versteht etwas von Kunst und Literatur. Er betritt nie meine Schwelle, ohne sich tief zu verneigen, ehe er eintritt … Er breitet seine neuen Schätze vor mir aus, während wir auf das Sieden des Teewassers warten: Nur Goethe … Er hat seinen Dr. jur. gemacht in diesen Tagen und sich dafür zur Belohnung eine dreitägige Reise nach Weimar gegönnt. Er hat sich die historischen Stätten angesehen und die Schlösser von Dornburg. Er liest seitdem nur noch Goethe … 39 Bände, eine alte Ausgabe von 1840, auf die er sehr stolz ist. Während ich ihm Tee eingieße, zitiert er mir Stellen aus «Wilhelm Meister»: «Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht, aber ich weiß, dass ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte» … Er sagt es ruhig lächelnd und sieht mich dabei mit seinen guten, braunen Augen an … Es ist entzückt von Weimar. Er sagt, wenn er zu wählen hätte, würde er seinen Wohnsitz dort aufschlagen. «Aber niemand kann sich seine Wohnstätte selbst bestimmen. Sie wird uns zugeteilt vom Schicksal», meint Herr Ying. Und ich muss an Ulla denken, die um diese Zeit die Ziegen von Frau Frosenius melkt.
Am Pfingstsonntag brachte mir Ben seine Braut. Es ist die Tochter seines alten Lehrers, der kürzlich gestorben ist. Ein nettes, bescheidenes, junges Mädchen, blond und zierlich, so klein wie Ben. Er stellt sie schon in seinem Garten an, und sie hilft gießen und pflanzen. Sie entschuldigte sich wegen ihrer zerstochenen Hände, aber ich sagte ihr, dass das nur ehrenhaft sei. Solche Hände hätten jetzt alle Frauen.
Sie wollen bald heiraten. Da es aussichtslos ist, eine Wohnung zu bekommen, ziehen sie vorläufig in die Wohnlaube. Ein Zimmer mit Küche und der Glasveranda, das ist alles, und die Ställe für die Kaninchen und Hühner.
Ben möchte wissen, was er von meinen Möbeln bekommen kann. Auf Bilder verzichtet er gern. Wo wollte er sie auch hinhängen? Er sieht die leeren Stellen an meinen Wänden. «Da hat Margot ja nett geräubert.» Sie brauchen keine Kupferstiche, sie brauchen ein Bett, Geschirr und Küchenmöbel. «Die blaue Küche bekomme ich, nicht wahr, Mama?» Er liebt sie, weil sie himmelblau ist. «Selbst angestrichen von Mama», sagt er zu der stillen Braut. Sie ist etwas zu sehr ins bayerische Blau geraten, aber Ben gefällt sie so, und seiner Braut gefällt der Küchenschrank, weil er Butzenscheiben hat. Der Schrank hat schon viel mitgemacht, die vielen Umzüge und den Sturm auf Lüttich hat er auch überstanden. «Wenn der Krieg aus ist, komm ich ihn mir holen», sagt Ben … Wir haben die ganzen Pfingsttage gepackt, Kisten und Schachteln. Draußen regnete es leise, ein warmer, rieselnder Sommerregen, der meinen verstaubten Garten erfrischt.
Als sie fortgingen, gestand mir Ben, dass das erste Kind schon unterwegs sei, deshalb habe es mit der Hochzeit so geeilt. Sie werden noch in dieser Woche getraut. «Wir laden niemand ein, natürlich, du wirst das verstehen, Mama, in dieser Zeit …»
Ich verstehe alles. Meine Kinder heiraten nicht wie ich einst, mit Brautjungfern, Blumen streuenden Kindern und einem Brautkleid mit langer Atlasschleppe. Das ist voriges Jahrhundert, alter Stil. Wir sind eine neuzeitliche Familie.
Dr. Bendler ist in diesen Tagen in seinem Wald verunglückt. Frau Korzfleisch hat es auf dem Markt gehört. Sie kam gleich damit an, um es mir mitzuteilen. Er war nachts auf die Jagd gegangen, hatte sich im Nebel verirrt und war in der Nähe seiner Jagdhütte von einem Felsen abgestürzt. Holzhauer hatten ihn am nächsten Morgen gefunden. Sein Notizbuch lag neben ihm mit einem Gruß an seine Frau … Wahrscheinlich hat er noch einige Stunden gelebt.
Merkwürdiges Schicksal, das ihn in seinem eigenen Wald ereilte. Er kam aus diesen Wäldern. In einem Forsthaus geboren, hat es ihn immer in den Wald gezogen. Der Wald hat ihn gerufen, er ist seinem Ruf gefolgt, der Wald hat ihn behalten und getötet.
Einen Tag nach seinem Tod wurde die Scheidung ausgesprochen. Mary schrieb es mir aus München. Es hat mich sonderbar ergriffen. Dieser düstere Mensch, der keine Freude mehr am Leben hatte und nicht lachen konnte, der seine Frau geliebt hat und gequält … Es gibt sonderbare Arten von Liebe. Und die Wege Gottes sind voller Geheimnisse …
Ich erinnere mich, dass mir Mary einmal erzählte, ein Inder habe ihr gesagt, sie würde lange um ihre Freiheit kämpfen, aber niemals frei werden … Während ich dies niederschreibe, geht ein leichter Regen über den stillen Friedhof nieder, sanft wie ein Weinen, und Stetten stand plötzlich wieder vor mir. Aber «le temps des lilas et le temps des roses ne reviendra plus …»
Ulla hat eine Frühgeburt gehabt … Noch ehe sie zur Klinik gebracht werden konnte. Wahrscheinlich hat sie zu viel im Garten geschafft. Sie hat sehr leiden müssen, die Arme. Wir hatten keine Hebamme in der Eile bekommen können. Ich musste den Bahndienst unterbrechen … Ulla ist noch sehr schwach von der Blutung. Es war lebensgefährlich. Sie weiß es nicht.
Der Arzt kam schon in Uniform, er ist auch eingezogen. Die Gefahr ist nun vorbei. Ich kann wieder aufatmen. «Du musst dich schonen», sage ich. Ulla lächelt und sieht Frau Frosenius an, die, ärgerlich über die «vielen Geschichten, die man mit Ulla macht», in der Stube herumwirtschaftet. Wenn ihr ein Markttag entgeht, das ist ihr viel wichtiger. Margot ist jetzt in Gießen. Ihre Stellung im Laboratorium ist angenehm, und sie hat ihr Gehalt. Sie lebt mit der Freundin zusammen, die in einem Lazarettzug als Schwester viel unterwegs ist. Bei Margot klappt immer alles. Sie hat eine nette Wohnung, ihr Mann ist in einem Feldlazarett, vorläufig hinter der Front. Ben ist nun auch einberufen nach Kiel. Er kam noch einmal her, auf ein paar Stunden, in seiner blauen Matrosentracht, die ihm so gut steht zu seinem blonden Gesicht und den hellen, blauen Augen. Die Matrosenmütze sitzt auf seinem kurz geschorenen hellen Kopf wie draufgegossen. Er freut sich so, er kann es kaum erwarten … Das Meer, das Schiff, die Weite, das Abenteuer, der Krieg …
Wir haben noch einmal Kaffee getrunken vor der Laube. Es ist ein warmer Sommer, die Rosen blühten, der bunte Flox und die blauen Glockenblumen, mein Garten zeigte sich noch einmal von seiner schönsten Seite. Ben ging im Garten umher und betrachtete alle Pflanzen, die wir gesetzt und die er begossen hat und die wir gemeinsam im Herbstwind schnitten und im Winter zudeckten mit Laub. Er stand lange vor seinem Dschungel mit dem leeren Kaninchenstall.
«Es war doch schön hier bei dir, Mama! Das alte Haus und unser Garten. Ich wollte, ich könnte ihn mitnehmen. Du hast ihn doch geschaffen, aus der Wüste … Ich weiß noch, wie das hier aussah, als wir ankamen. Nichts als Schutt und Gras und Brennnesseln … Man hat sich die Beine dran zerstochen. Jetzt blühen die Rosen hier, deine Rosen.» Er schnitt sich eine weiße Rose ab und steckte sie an seine Matrosenbluse. «Ich muss wenigstens etwas mitnehmen von dir», meinte er.
Seine Frau wohnt schon in der Laube. Sie wird das Kind in einem Krankenhaus bekommen und im Winter zu ihrer Mutter gehen.
«Gelt, du vergisst sie nicht, meine Erni? Sie ist so gut, wirklich. Die richtige für mich … Und wenn das Kind da ist, kümmerst du dich etwas darum? Es wird ein Mädchen sein, glaube ich … Aber Mädchen braucht man ja auch. Es müssen doch Frauchen sein für die Männchen, später.»
Nach dem Kaffee wurde er still und schaute mit einem verlorenen Blick in den Garten. «Du könntest mir noch einmal etwas spielen, Mama», bat er, «aber nichts Trauriges … Du hast mal so was Schönes gespielt, von Liszt …» Ich setzte mich an den Flügel, streifte die Ringe ab und spielte ihm «Liebesträume». Es klang feierlich und zart in die warme, milde Sommerluft. Es war das Letzte, was ich auf meinem Flügel gespielt habe. Als der letzte Ton verklungen war, fuhr Ben auf wie aus einem Traum. «Ja, das war schön, Mama, es war, wie wenn man etwas träumt …»
Wir gingen zur Bahn. Und dann ging alles so furchtbar rasch. In der vollen Straßenbahn wurden wir getrennt, auf dem Bahnhof war ein Gewimmel von Menschen, abreisenden Soldaten, beladenen Gepäckträgern.
Der lange Zug steht schon bereit. Um uns lauter Soldaten, alte und junge, meist Infanteristen mit schwerem Gepäck und Pappschachteln mit den letzten Gaben der Mutter oder der Frau. Ben hält meine Hand fest, er sieht mir immer nach den Augen. «Gelt, Mama, du hast keine Angst, wenn du mal längere Zeit nichts von mir hörst? Ich werde nicht immer schreiben können. Aber du bist ja nicht ängstlich, du bist tapfer, Mama.» Dann setzt sich der lange Zug in Bewegung und fährt langsam in den Abend hinein, und ich bleibe zurück. Ich stehe und sehe ihn entschwinden, wie damals Nordeck in dem warmen, rosigen Sommernebel entschwand. Immer ferner, immer kleiner wird mein Ben. Und auf einmal biegt er sich weit zur Türe hinaus und schwenkt seine Mütze hoch: «Es lebe Deutschland!», ruft er, und seine Augen strahlen mich an. Ich stehe da und winke, winke … Um mich flattern Tücher, weinen Frauen. Ich sehe meinen Ben entschwinden wie ein Bild, das verblasst und vergeht. Nicht wie bei Dieter, es ist ganz anders, es ist, als nähme der lange Soldatenzug ihn mit fort – weit – weit in eine andere Welt. Wie damals seinen Vater … Es war derselbe warme, dunstige Sommerabend, derselbe lange Soldatenzug, der im Nebel langsam entschwand wie etwas, das sich in nichts auflöst. Damals ging ich mit meinen drei Kleinen nach Hause. Nun bin ich allein. In der Straßenbahn zwischen Menschen, die von ihren Einkäufen sprechen, ihre Obstkörbe auf dem Schoß, die Netze am Arm, fahre ich heim.
Nun ist er fort, mein Ben …
Eine Berliner Redaktion will Humoresken von mir. Ich habe daraufhin meinen Schreibtisch durchsucht und einige Skizzen gefunden aus den Kindertagen. «Abend in meinem Garten» gefiel nicht. Zu viel Stimmung. Der Redakteur wünscht mehr Handlung, nichts zu Ernstes für diese Zeit. Vielleicht ein netter, kleiner Roman, in jeder Fortsetzung muss etwas vorkommen, sonst werden die Leser ungeduldig. Ich habe ihm ein paar Kinderskizzen von Ben geschickt. Ich tat es mit sehr schlechtem Gewissen. Es kommt mir vor, als hätte ich nicht das Recht dazu, seine Streiche und seine vielen Unglücke zu benutzen, um andere zu erheitern. Ich wollte schon bitten, er solle sie mir zurückschicken, aber man nahm sie sofort. So etwas will man haben! Der Redakteur hat Tränen gelacht über meinen guten Ben. Nein, nein, es war nicht recht von mir. Ich komme mir vor wie ein Clown, dessen Frau krank ist, und der lustige Sprünge machen muss, um den Zirkus zu ergötzen. Ich habe keine Freude an dem Geld gehabt, das mir der Briefträger brachte. Ich habe es Erni geschickt für das Kind. Ich bin wieder ganz arm. Ich muss wieder dichten. Von Herrn Ying kann ich nicht leben. Und die anderen Zimmer haben mir meine Kinder ausgeräumt, sie haben die Betten und Möbel mitgenommen, die kann ich nicht mehr vermieten.
Weshalb also soll ich mich nicht abends, wenn ich vom Bahnhofdienst komme, hinsetzen und dichten? Balzac hat seine großen Romane in einer kalten Mansarde geschrieben, in der ihm das Regenwasser auf den Kopf tropfte, Mozart hat seine Zauberflöte in einem Gartenhäuschen mit kahlen Wänden komponiert, und Tschaikowsky schrieb seine Pathétique auf einem Küchentisch … Bin ich ein so kleines Talent, dass ich meinen Gedanken nicht gebieten kann, zu mir zu kommen, wenn ich sie haben will? Ein Verlag in Wien möchte wieder einen historischen Roman von mir haben. Gut, schreiben wir Historisches … Es gibt interessante Stoffe genug in der Geschichte, aber ich habe keine Bibliothek mehr im Haus. Ich müsste in die Universitätsbibliothek gehen und Quellenstudien machen. Dazu muss man mehr Zeit haben, als ich sie habe … Jetzt, da mir niemand mehr im Hause hilft und ich erst meine Arbeit getan haben muss, ehe ich zum Bahnhof gehe, habe ich immer zu rennen und zu laufen und anzustehn um das bisschen Essen. Manchmal isst Herr Ying bei mir, zum Beispiel sonntags. Und immer sind Pakete zu machen, Margot will etwas geschickt haben, etwas, das in der ganzen Stadt nicht aufzutreiben ist, Ulla hat keine Zeit, in Läden zu laufen. Besorg mir dies, besorg mir das, du hast ja jetzt Zeit, Mama … Ich habe Zeit? … Nachts habe ich Zeit, wenn die andern schlafen und ich vor Herzklopfen nicht schlafen kann … Humoristisches wünscht ein rheinisches Blatt, es will die Skizzen sogar illustrieren … Etwas Heiteres, etwas Hübsches wie die «Quartaner», die mir immer noch in den Zeitungen nachlaufen …
Ich nehme mich zusammen und schreibe.
Wenn ich abends heimkomme vom Bahnhofsdienst, ist mein Haus ganz still. Es ist niemand da als der Chinese. Er sitzt in seinem Zimmer am offenen Fenster und liest Goethe. Jetzt habe ich Muße zum Dichten, aber ich kann nichts denken als «Krieg». Ich habe gute Nachrichten von Dieter, der jetzt im Osten steht. Dafür ist Ullas Mann nach dem Westen gekommen. Margot ruft öfters aus Gießen an. Es beruhigt mich immer, ihre Stimme zu hören. Ich glaube zwar, dass sie mir grundsätzlich nur Gutes mitteilt, aber es macht mir doch Mut, man betrügt sich ja so gern. Von Ben höre ich nichts mehr nach seiner fröhlichen Feldpostkarte aus Kiel: «Es geht jetzt los, Mama! Dein Ben.»
Margot hat ihren Mann in Breslau besucht. Sie waren acht Tage im Riesengebirge. Eine nachträgliche Hochzeitsreise. Unsere Verbindung ist etwas abgekühlt, weil ich Dieter den Flügel und Ben die Küchenmöbel versprochen habe und Ulla die Betten bekommen hat. Margots Mann ist wieder an der Front, und sie arbeitet weiter in ihrem Institut, bis das erste Kind da ist.
Frau Korzfleisch kommt nur noch selten. «Der Chinese macht ja keinen Staub», meint sie, «und Sie sind den ganzen Tag nicht daheeme. Was soll man da putzen? Im Kriege ist das alles eechal.» Ihre Söhne sind, Gott sei Dank, zurückgestellt, der eine sitzt auf einem Büro in der Etappe, der andere auf einem Büro bei der Steuer. «Da müssen ja auch welche sein!»
Ich habe die Nacht nicht schlafen können Mein armes, unruhiges Herz ist aufgescheucht … Es hastet und klopft. Dieter … und Ben … Dieter und Ben … und Ullas Mann – großer Gott, beschütze und erhalte sie uns alle!
Dieter hat das Eiserne Kreuz Erster bekommen. Onkel Dolf ist sehr stolz auf seinen Neffen. Hat er’s nicht immer gesagt, dass etwas aus ihm werden wird, trotz seiner Weibergeschichten? Ich habe sein Bild vor mir stehen, ich betrachte es oft lange und suche nach Ähnlichkeiten in diesem schönen Profil, das wie aus Erz gegossen ist. Die lange, gerade Nase, der fest geschlossene Mund, das glatt zurückgestrichene helle Haar und die grauen, kühlen, kritischen Augen … Genauso sah Nordeck aus, als er um mich warb und den Sieg davontrug … Ich verstand damals nicht viel von Psychologie, ich wusste nur, dass mir Nordeck gefiel. Er war einer der schönsten männlichen Erscheinungen, die ich je gesehen habe. Dieter ist genauso … Und doch ist noch etwas anderes dabei, etwas, das mich an den Rhein erinnert, ich weiß nicht, warum? An meine sorglose Jugend! Wie schattenhaft das alles hinter einem versunken ist! Ehe und Glück und der Weltkrieg, die Gräber in Frankreich mit den schwarzen Holzkreuzen, auf denen der Regen die Namen sicher längst verwaschen hat, unvergessen von denen, denen er Wunden schlug. Die alte Frau damals im Zug, mit dem versteinerten Lächeln und den Dornen an ihrem schwarzen Rock, lebt sicher längst auch nicht mehr. Sie trug die Dornen mit sich. Sie hatte ihre Schmerzen lieb. Für die Mutter war sonst nichts übrig geblieben.
Mein Leben ist still geworden. Ich bin allein mit einem Chinesen. Tagsüber stehe ich auf dem Bahnhof, koche Suppen und bereite Limonaden für die Soldaten, zuweilen helfe ich aus in einem Lazarett im Büro.
Ich habe das Gefühl, wenn ich hin und her laufe zwischen dem weit entlegenen Bahnhof und meiner Wohnung, als sei ich kein Körper mehr, nur eine kleine Seele. So leicht bin ich geworden.
Ulla sieht schlecht aus, sie hat Schatten unter den Augen, sie erwartet wieder ein Kind. Das dritte in vier Jahren. Es ist etwas viel für ihre jungen Schultern. «Aber du hast ja auch vier Kinder gehabt, Mama.» Sie wollen noch einen Jungen. Und dann noch einen … möglichst sechs, sagt Ulla … Ihre Schwiegermutter ist wenig entzückt davon. Das Haus wird zu eng für die vielen Menschen.
Der älteste Sohn ist mit seiner Frau, einer Lettin, heimgekommen und hat zwei Kinder mitgebracht. Sie wohnen alle in der Gärtnerei. Frau Frosenius vergöttert diesen Sohn, er ist ihr Stolz, obwohl er nichts gelernt hat und nach Russland ausgewandert war, weil man ihm dort das Paradies versprochen hatte. Er hat aber kein Paradies dort vorgefunden! Nun ist er heimgekehrt. Er ist vorläufig wegen einer Knieverletzung zurückgestellt und arbeitet in den Gärten.
Seine Frau ist jetzt Herrin im Haus. Die Mutter wagt ihr nichts zu sagen. Sie hält zu dem Sohn, und Vater Frosenius schweigt. Wenn er den Mund auftut, gibt es Streit, denn er und dieser Sohn sind nicht immer ganz einer Meinung. Die Lettin behandelt Ulla schlecht und macht spöttische Bemerkungen über sie hinter ihrem Rücken. Am liebsten fährt sie mit zum Markt. Arbeiten mag sie nicht. Sie füttert ihre Kinder, das ist alles. Im Allgemeinen scheint sie uns zu verachten. Deutschland? Sie verzieht den Mund und zeigt die Zähne. Einen Hochmut hat dieses Weib, sagt die empörte Ulla, die schweigen und stillhalten muss, denn sie erwartet wieder ein Kind. Sie arbeitet für zwei. Alles, was die anderen nicht tun mögen, halsen sie ihr auf.
Onkel Dolf kann die Frosenius nicht leiden. Er hat noch nie ihr Haus betreten. Was soll er auch dort? Er findet es nicht richtig von Ulla, dass sie sich so von der alten Frau unterdrücken lässt. «Aber Ulla ist eine Funke, von dir hat sie leider wenig mitbekommen, Oliva.» Es ist das erste Lob, das er mir gespendet hat. Und ich weiß nicht einmal, ob ich es für eins halten darf. Ich bin in meinem Leben nicht mit Lob verwöhnt worden.
Onkel geht fast nie mehr aus, er hat seinen Stadtrat niedergelegt und besucht keine Kneipe mehr, seit das Bier so dünn geworden ist. Er sitzt jetzt immer zu Hause und liest die Zeitungen. Und über alles, was er hört, muss er sich ärgern. Die Nachtigall hat es nicht leicht mit ihm.
Von Ben ist immer noch keine Nachricht da. Auch Onkel hat nichts gehört. Sein Werk hat schon einmal bei ihm angerufen, sie wollen ihn gern reklamieren, es mangelt an Arbeitern. Die Stadt breitet sich immer mehr aus, Fabriken und Werkstätten schießen nur so aus dem Boden. Es gibt fast kein leeres Gelände mehr, keinen Bauplatz. Die Halde wird jetzt zu Bauplätzen hergerichtet, man legt Unterstände dort an. Hohe Reihenhäuser schießen aus dem Boden und verrammeln uns die Aussicht nach der Heide … Die Heidukstraße ist keine stille Villenstraße mehr, sie ist belebt von Maurern und Zimmerleuten und von Zuschauern, die eine große Geduld darin entwickeln, anderen bei der Arbeit zuzusehen.
«Wie siehst du denn aus, Mama? Du isst sicher nichts mehr», sagt Ulla, als sie neulich bei mir war. Aber ich kann nicht essen, ich denke an Ben. Er schreibt gar nicht mehr. «Soldaten schreiben oft nicht», sagt Ulla. «Heinz schreibt auch wochenlang nicht. Wenn ich die Kinder nicht hätte, würde ich verzweifeln.» Ein paar von Bens Klassenkameraden sind in Afrika. Von denen hört man auch schon lange nichts mehr. Wer weiß, wo Ben jetzt ist … Ich wage nicht mehr, den Lautsprecher anzustellen, den mir Dieter dagelassen hat, meine Verbindung mit der Welt … Es hilft nichts, wenn ich mich zerstreue … Musik, Bücher, die Zeitungen, meine Gedanken sind doch immer bei Ben.
Weshalb habe ich um Dieter keine Angst? Weshalb nur um meinen kleinen Ben? Ich weiß es nicht, aber es ist so … Die Angst verzehrt mich. «Muss Schularbeiten machen, Ma. Darf ich heut mit welchen aus meiner Klasse auf das Floß? Du kannst ganz ruhig sein, Ma, es passiert uns nichts.» Immer ist er in meiner Nähe, ich sehe ihn und höre seine Stimme … «Schularbeiten machen.» Immer musste er das! Wir haben ihn so damit geplagt, und es wurde ihm so schwer …
Beim Aufräumen meines Bücherschrankes fand ich ein Gedicht über einen jungen Feldgrauen, der im vorigen Krieg vor Ypern fiel … mit 17 Jahren … «Schon bis die ersten Zähne glücklich kamen und bis das große Einmaleins gedieh …» Was hatte er vom Leben bisher gehabt? Die Schule, das Lernen und den Krieg. Und dann die große Stille … Aber ich will tapfer sein und ruhig wie alle Mütter jetzt.
Frau Korzfleisch hat neulich an einer Weckgläserschlange im Warenhaus ein Fräulein Anna Dankwarth kennengelernt, die Schwester des Amtsrichters, der hier auf dem alten Friedhof liegt. Der Krieg hat sie auch aus ihrem Bau getrieben, und sie steht jetzt Schlange wie alle, was Frau Korzfleisch mit Genugtuung erfüllt. Alle müssen ran, ohne Unterschied … Sie hat sie gefragt, warum denn ihr Bruder eigentlich so früh gestorben sei. Und die alte Dame sagte, er sei freiwillig aus dem Leben gegangen wegen unheilbarer Krankheit. «Ja, so sind sie, die Männer», sagt Frau Korzfleisch. «Se leben drauflos, und dann gehen sie in die Heide und schießen sich dot.» Aber ich glaube nicht an diese Krankheit. Er hat seinem Freund das Leben gerettet, hat den Eid geschworen, das hat ihn in den Tod getrieben, den armen Hans Dankwarth. Nein, es ist gut, dass ich nicht nach China gegangen bin, es wäre zu viel gewesen für mich, zu viel des Schönen, zu viel Glück und zu viel Schatten um dieses Glück. Ich muss meinen festen, geraden Weg gehen, wenn er auch hart ist und mir die Füße oft wehtun von den Steinen. Ein gutes Gewissen ist auch etwas wert, nicht wahr, Hans Dankwarth? …
Ein Telefongespräch aus Berlin. Eine junge, kühle Stimme, Dieters Braut, teilt mir mit, dass die Hochzeit, die schon zweimal verschoben werden musste, weil immer eine Urlaubssperre dazwischenkam, nun bestimmt am 10. Januar stattfinden wird, im Kaiserhof. Die Wohnung ist auch so weit fertig, und da die Transportschwierigkeiten immer größer werden, fragt sie an, ob sie den Flügel abholen lassen darf, den ich Dieter versprochen habe. Ich bin natürlich einverstanden, denn es ist meine Hochzeitsgabe, aber nun ich ihn hergeben soll, tut es mir leid … Er hat mich durch mein Leben begleitet, er war mein bester Freund … Er war immer für mich da, er wartete auf mich, wenn ich heimkam, er hat einen so milden, warmen Holzton, wie man ihn selten findet. Ich liebe diesen Ton, wie man die Stimme eines sympathischen Menschen liebt. Ich halte viel von Stimmen … Von der jungen Stimme Lisas wehte es mich kühl an, ich weiß nicht, warum. Aber Dieter hat sie sich ausgesucht, er muss ja wissen, warum. Er hat nicht die erste Beste genommen. Er hat lange gesucht und gewartet. Elli Fett ist längst verheiratet an einen Fabrikanten in Magdeburg. Sie hat ihm noch einige Male ins Feld geschrieben, ob er geantwortet hat, weiß ich nicht. Die Eltern sehe ich zuweilen im Theater. Wir grüßen uns, aber wir sprechen uns nicht. Ich bin froh, dass ich keine Hochzeit mit Familie Fett zu feiern brauche, aber vor der Berliner Hochzeit graut mir etwas. Die kalte Stadt im Winter, die vielen Menschen, die ich nicht kenne. Die Unterredung war kurz und geschäftsmäßig. «Mama lässt sich unbekannterweise empfehlen.» Diese Mutter kenne ich auch nicht. Wir haben ein paar höfliche Briefe gewechselt. Aber in Briefen lernt man sich nicht kennen. Es gibt wenig Menschen, die das Talent haben, Briefe zu schreiben. Meine Kinder haben es jedenfalls nicht. Dieters Briefe sind knapp, kurz, sachlich, Margot schreibt gewandte Briefe in gutem Stil, aber sie schreibt immer, als stände sie zwischen Tür und Angel und habe Wichtigeres zu tun, als an ihre Mutter zu schreiben. Ullas Talente liegen auf anderem Gebiet. Ihr Geist schrumpft vor denn Tintenfass ein. Und mein guter Ben hat es nie weiter als zu zwei Seiten gebracht. Nordeck konnte auch keine Briefe schreiben, es liegt also in der Familie. In meiner Familie schrieb man sich lange, ausführliche Briefe. Ich glaube, es ist ein Talent, wie das Zeichnen und die Musik.
Ein paar Tage später, gegen Mittag, ich war gerade dabei, im Garten Wäsche aufzuhängen, klingelt es, ich gehe öffnen, vier Riesen in blauen Blusen stehen vor meiner Türe. Sie kommen, den Flügel abholen im Auftrag von Herrn Oberleutnant Nordeck.
Ich war so erschrocken, dass ich nur sagen konnte, was die zum Tod Verurteilten sagen, wenn der Henker morgens vor ihnen steht, um sie abzuholen … «Ach, schon so bald!» Ich hatte noch etwas darauf spielen wollen zum Abschied, das große Klavierkonzert von Grieg oder ein paar Etüden von Chopin, aber die Männer hatten es eilig.
Ich ging mit ihnen in mein Zimmer und nahm dem Flügel die blaue Seidendecke ab, und dann stand er vor mir nackend und traurig, wie beschämt. Ich strich ihm noch einmal über die Tasten, ich schluckte etwas hinunter … encore un moment, monsieur le bourreau, rief die Dubarry auf dem Schafott. Aber die Männer hatten ihn schon gepackt und schoben ihn hinaus. Doch mein Flügel wehrte sich, er wollte nicht, er machte Schwierigkeiten. Er ging nicht durch die enge Türe. Sie mussten sie erst ausheben und ihn dann auseinandernehmen, es war mir, als risse man ihn in Stücke, als sie zupackten und ihm die Beine abschraubten und ihn zerlegten. Es war mir, als trüge man mich selbst stückweise zum Hause hinaus. Als er dann oben stand auf dem staubigen Rollwagen, bekleidet mit einer alten, grauen Pferdedecke zwischen Weinkisten und Fahrrädern, mein guter alter Flügel, ging ich rasch ins Haus, um nicht zu weinen. Ist es lächerlich, an einem Instrument zu hängen wie an einem geliebten Menschen?
Ich sah ihm durch die Vorhänge nach, wie er die Heidukstraße hinunterfuhr. Ein Stück meines Lebens zog mit ihm von dannen … ein Teil meiner Jugend … Ich fühlte mich auf einmal alt …
Ich habe etwas erlebt, was ich nicht mehr glaubte zu erleben. Ich war ebenso wenig darauf vorbereitet, wie wenn man mir gesagt hätte, wir bekämen Krieg mit Japan oder Ägypten oder der Türkei. Ich bin noch davon erschüttert, denn es kam zu unerwartet. Ich saß allein an meinem Schreibtisch, hatte meine Blätter ausgebreitet, die mir eine Dame in der Stadt abschreibt, weil die Redakteure meine Schrift nicht lesen können, als es draußen schellt.
Da ich keinen Diener habe und sonst niemand zu Hause war, gehe ich öffnen, und vor mir steht ein stattlicher Herr im Reiseanzug mit einem Trauerflor um den Arm … «Sie kennen mich nicht mehr, Oliva?» Mein Gott, nein! … Es ist Ehrenberg …
«Ja, ich bin’s … darf ich hereinkommen? Ich komme von Berlin und wollte doch einmal nach Ihnen sehen …»
Es fällt ihm etwas spät ein, aber ich führe ihn herein. Er legt im Flur ab und schaut sich um und findet es, wie jeder, der mein Haus betritt, ganz reizend hier … Mein blaues Zimmer hat seine ganze Bewunderung. «Es war immer schon blau, auch früher …» Und wir haben uns in diesen weichen, bequemen, tiefen Sesseln oft genug gegenübergesessen, wie jetzt. «Haben Sie schon etwas gegessen? Nein?» Ich will rasch in die Küche, aber er hält mich zurück. «Nein, nein, das gestatte ich durchaus nicht. Ich habe im Speisewagen gefrühstückt. Ich freue mich, Sie allein zu treffen. Ich habe nämlich … Sie wissen ja, meine arme Frau … Sie haben die Anzeige ja erhalten …»
Ich reiche ihm die Hand. Ich habe diese Frau nicht gekannt, aber er tut mir leid … Er hat jetzt eine Dame, die seine Frau vertritt, denn seine Kinder sind noch jung, jünger als meine. Er hat auf seinem Gut so viel zu tun, dass er sich nur wenig um seine Schar kümmern kann. «Und die Damen, nun, Sie können sich das vorstellen, Oliva. Es ist nicht die Mutter … die ersetzt niemand in der Welt.» Ich kann es mir vorstellen. Er ist grau geworden und gealtert. Er ist abgemagert und sieht verändert aus, ein Mensch, der viel durchgemacht hat. Er erzählt mir von den letzten Leidensjahren seiner Frau. Sie hat entsetzlich gelitten, zuletzt nur unter Morphium gelebt … Man konnte ihr nicht mehr wünschen, länger zu leben. Man hielt das Leben trotzdem hin, jahrelang … jahrelang … es war eine Quälerei für sie und für alle … Nun hat er sie begraben, und nun … «Ja, nun komme ich zu Ihnen, Oliva!» Er sieht mich an und nimmt meine beiden Hände … «Wir haben uns doch immer verstanden, nicht wahr?»
Mein Herz klopft. Ich wage nichts zu sagen, ich weiß, was er sagen will. Um Gottes willen, nur das nicht, das nicht! «Ich habe Sie geliebt, Oliva», fährt er fort. «Das wissen Sie … damals waren Sie Anders’ Frau … ich habe Sie verehrt und bewundert … Ja, das hab ich. Anders war sehr eifersüchtig, ich weiß, aber das ist ja vorbei. Ich meine, diese Zeiten. Wir waren beide jung … Ich habe, wenn ich offen sein soll, nicht das in meiner Ehe gefunden, was ich suchte … Es schwebte mir etwas anderes vor, ein Heim, wie Sie es hatten, nicht das alltägliche, bürgerliche Glück, das nach der Hochzeitsreise verblüht … Ich wollte mehr.»
«Sie haben aber doch die netten Kinder», werfe ich ein.
«Ja, das ist’s ja eben, ich habe fünf Kinder, Oliva … Und keine Mutter haben diese armen Kinder. Sie verwildern mir, sie sind nicht in guten Händen.»
«Wenn Sie jemand anderes fänden», werfe ich ein.
Er zuckt die Achseln. «Jawohl, jemand anderes! Nennen Sie mir eine Frau, die fremden Kindern die Mutter ersetzt! Ich hab’s versucht, es war nichts, ich habe schlimme Erfahrungen hinter mir …»
Wir schweigen … Mein Herz klopft und klopft … Ich weiß, was nun kommen wird. Und es kam … Er will, dass ich zu ihm komme, als seine Frau … als Mutter seiner Kinder …
«Oliva, sagen Sie nicht Nein. Denken Sie darüber nach! Ich will Sie nicht bedrängen … Nicht heute sollen Sie sich entscheiden, ich kann warten … Wir kennen uns ja. Uns verbindet mehr als eine Freundschaft … Oder glauben Sie, dass er … Anders … zwischen uns stehen würde? Anders war mein Freund … er ist nicht mehr da … Ich würde Sie verwöhnen, Ihnen ewig dankbar sein … Es ist ein Opfer vielleicht, Oliva … Sicher ist es das … aber … Sie können doch nicht ewig so leben, in diesem verlassenen Haus … Ihre Kinder sind erwachsen und haben Sie verlassen. Wollen Sie Ihr Leben hier vertrauern? Ich habe mir oft den Kopf zerbrochen, Oliva, wovon Sie Ihre Kinder großgezogen haben. O ja, das habe ich. Ich wollte nicht daran rühren, ich fühlte mich nicht berechtigt dazu. Ich wusste, Sie hatten diesen Onkel, Herrn Funke, der ja sehr wohlhabend sein soll. Ich hatte immer angenommen, dass er es Ihnen ermöglicht hätte, in einem gewissen Stil weiterzuleben, den Sie gewöhnt waren …»
Onkel Dolf? Ich muss lächeln … Ach, lieber Ehrenberg, wie Sie sich täuschen! Aber ich sage nichts, ich lasse ihn weitersprechen … Es erleichtert ihn sichtlich, sich alles vom Herzen zu reden, was ihn beschäftigt und bedrückt.
«Von Verwandten abhängig zu sein, denke ich mir schrecklich. Ich möchte es nicht. Ich kann Ihnen ein sorgenloses Leben bieten, Oliva. Mein Gut ist unbelastet, wir wohnen in schöner, gesunder Gegend, Sie sind nie hingekommen, obwohl ich Sie oft genug eingeladen habe … Aber Sie werden kommen, nicht wahr? Sie kommen als Besuch, niemand braucht etwas zu wissen, Sie sehen sich mein Haus und meine Kinder an …» Er zieht ein paar Bilder aus seiner Brieftasche und breitet sie vor mir aus … Ich neige mich über diese Fotografien, die irgendein kleiner Fotograf einer kleinen Stadt in üblicher Weise angefertigt hat. Es sind hübsche Kinder, sehr dunkel, wie die Mutter war, der älteste Junge sieht etwas hochmütig aus, ein Dieter Nummer zwei. Die beiden Mädchen, es sind Zwillinge, gleichen Ehrenberg, der jüngste Junge schielt, und das Kleinste, das Mädchen, ist ein hübsches Kind, das sehr hell und eigensinnig in die Welt schaut. Ich reiche ihm die Bilder zurück. Fünf Kinder? Ich habe vier erzogen, Herr Ehrenberg … Nein, nein, das schönste Gut, das sorgenloseste Leben und ein zweites Eheglück könnten mich nicht veranlassen, dieses Leben noch einmal zu beginnen unter neuen Schwierigkeiten, mit fremden Kindern einer fremden Frau. Wäre ich frei, würde ich die Stelle als Hausdame annehmen, weil mir diese mutterlosen Kinder leidtun … Aber es würde nicht lange gehen. Er würde immer wieder damit kommen und auf unserer früheren Freundschaft fußen, die – ich will es gestehen – einmal mehr war als eine oberflächliche Freundschaft, obwohl ich mir das heute nicht mehr vorstellen kann … Man verändert sich im Leben. Ich habe mich verändert, und er auch. Er küsst mir die Hand und steckt seine Bilder wieder ein.
Im Garten wandelt still Herr Ying und liest Goethe.
«Wer ist denn das?», fragt Ehrenberg.
«Ein Chinese, der bei mir wohnt.»
«Sie vermieten Zimmer, Oliva?»
«Ja, ich vermiete Zimmer …»
«Mein Gott», sagt Ehrenberg. «Wer hätte das einmal gedacht? Und Sie waren einst unsere kleine Königin auf den Bällen.»
Er will den Garten sehen, ich führe ihn hinein, und er meint lächelnd, er müsste etwas mehr Dung haben, aber immerhin, für eine so unlandwirtschaftliche Dame ist der Garten Anerkennung wert.
«Sie sollten meine Gärten sehen, Oliva, diese Dahlienpracht, die Astern, und die Rosen im Sommer … das Schloss liegt an einem See, den man drei Stunden braucht zu umrudern, wir haben ein eignes Schwimmbad und eignen Strand, das Städtchen ist reizend, alte Kultur und altmodische Häuser und altmodische Seelen, mit dem Wagen ist man in zehn Minuten dort, ich habe noch immer meine Wagenpferde, sie müssen nur jetzt mitarbeiten auf dem Acker … aber der Krieg wird ja auch mal aus sein, und dann –»
Ich hatte gerade gedacht, wenn doch Herr Ying fortginge, damit ich ihn nicht vorzustellen brauchte. Als ob er’s geahnt hätte, ist er still verschwunden. Herr Ying weiß immer, was man denkt, man braucht ihm nicht alles dreimal zu sagen wie Herrn Meyer … Es genügt, dass man etwas denkt … Es ist seltsam mit Herrn Ying. Ich weiß nicht, ob alle Chinesen so feinfühlig sind. Es ist ja der erste, den ich kenne.
Ehrenberg muss zur Bahn, und er verabschiedet sich. Er küsst mir die Hand, und ich verspreche, ihm zu schreiben. Ich sehe ihm nach, wie er breitschultrig und straff die Heidukstraße hinuntergeht. Ich habe das Gefühl, als ob ich diesen Rücken nicht mehr wiedersehen werde.
Aber ich muss ihm nun schreiben … Er fällt mir sehr schwer, dieser Brief … Ich habe drei Tage daran geschrieben. Nein, lieber Ehrenberg, so leid Sie mir tun und so gern ich Ihren Kindern geholfen hätte, aber mit dieser Verpflichtung einer zweiten Ehe, und das alles noch einmal zu beginnen, was ich hinter mir habe … Es geht nicht, es geht wirklich nicht … Aber es ist schwer, jemand zu kränken, den man nicht kränken will … Ich habe alles hin und her erwogen, wie ich’s ihm schonend mitteilen soll, dieses «Nein», das ich ihm schreiben muss.
Keinen Augenblick hab ich gezögert, was ich antworten soll. Keinen Augenblick! Mein Brief war nicht lang … Ich habe mich bemüht, es ihm so zu sagen, dass es ihn nicht verletzt, aber es muss mir doch nicht ganz gelungen sein, denn es kam keine Antwort mehr darauf. Sicher ist er tödlich gekränkt … Aber ich kann’s nicht ändern …
Sturmtage im Hause Frosenius.
Ulla kam heute früh mit rot verweinten Augen an. Es geht nicht länger da drüben mit der lettischen Schwägerin. Es war immer schon schwierig mit ihr, aber jetzt, wo die wieder ein Kind erwartet, ist es für Ulla nicht mehr zum Ertragen. Es wird zu eng für sie, drei Familien, sechs Kinder, elf Personen täglich am Tisch, die Lettin rührt nichts an, sie füttert nur ihre Kinder und fährt mit zum Markt, weil das ihr Spaß macht.
Der Mann tritt jetzt auf einmal, seit Heinz nicht mehr da ist, sehr großartig auf und findet, dass Ulla zu viel Platz wegnimmt, sie wollen ihre Wohnung haben, Ulla soll zu ihrer Mutter ziehen, sagt er, die hat ja Platz genug. Wozu braucht die ein ganzes Haus?
Die Frosenius ist auch der Meinung. Er hat ja nichts zu sagen, der Alte, sie fahren ihm immer gleich über den Mund, sobald er ihn auftut, aber die Lettin intrigiert gegen Ulla, wo sie kann, und sooft Heinz ins Haus kommt, gibt es zwischen den Brüdern Streit.
Ulla will alle Arbeit tun, schaffen und alles machen, was die anderen nicht tun wollen, aber sie will endlich Ruhe haben, sie ist im siebenten Monat, sie hat Angst, dass sie vorzeitig niederkommen wird, wenn die Aufregungen kein Ende nehmen.
«Und wo soll ich hin?», frage ich.
«Du kannst ja dein Zimmer behalten, Mama, oder zieh doch nach oben … Da hast du den Balkon.»
«Und wenn Heinz nach Hause kommt?»
Ulla schweigt. Sie weiß, dass wir uns nicht sehr lieben, wir gehen uns aus dem Weg. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich täglich dreimal an einem Tisch ihm gegenübersitzen muss und in einem Haus mit ihm leben – nein, Ulla, das geht wirklich nicht, das wäre das Letzte …
Auch Ulla fühlt, dass das nicht geht. «Es gibt doch so nette, kleine Wohnungen in der Stadt, zwei Zimmer mit Küche und Bad, mehr brauchst du doch nicht …», meint sie. «Oder du ziehst mal versuchsweise, bis der Krieg aus ist, oben hin?» Hier unten die Zimmer braucht sie mit den drei kleinen Kindern. «Und die enge Küche und kein Nebenraum …»
«Ich will’s mir überlegen», sage ich.
Die Firma Kumpel machte der Überlegung ein Ende, indem sie mir schrieb, sie vermiete die Zimmer nicht mehr im ersten Stock, sie braucht sie zu Lagerzwecken.
Damit fällt die Möglichkeit, oben hinzuziehen, für mich weg.
In der Stadt gibt es zwar Neubauten genug, aber sie sind schon bezogen, ehe sie trocken geworden sind. Es gibt auch genug große Wohnungen, in der Seerobbenstraße ist wieder so eine Achtzimmerwohnung frei, aber die kommen nicht für mich in Betracht, nachdem mir meine Kinder fast alle Möbel genommen haben. Ich lief wochenlang nach einer Wohnung herum, bis ich endlich in der Friedenstraße im Hause der Frau Alwine Schmeckebier eine Mansardenwohnung fand, die ungefähr meinen Verhältnissen entsprach. Da die Dame sehr überlaufen ist wegen dieser kleinen Wohnung, musste ich mich sofort entscheiden, und ich nahm sie. Die Friedenstraße liegt am anderen Ende der Stadt, noch hinter dem Zoo. Es ist eine kleine Villenstraße mit großen Häusern und Gärten, und es ist ein ruhiges, gepflegtes Haus. Unten wohnt Frau Schmeckebier, die sehr auf Sauberkeit zu halten scheint, denn überall hängt ein Zettel, dass man sich die Schuhe abwischen soll und leise die Türen schließen, und an den Türen hängen sogar Flederwische zum Abstauben der Stiefel. Im ersten Stock wohnt ein Nervenarzt mit seiner Frau, der einstige Leiter der Irrenanstalt vor den Toren der Stadt, der so lange dort die Irren behandelt hat, bis er selbst die Nerven verlor. Er soll sehr ruheliebend und sehr nervös sein. Und ich muss oben auf Filzschuhen gehen … Ein Instrument oder ein Tier ist in diesem Hause nicht gestattet. Es ist so still darin wie in einem Trappistenkloster. Im Mansardenstock wohne ich. Ein großes, helles Zimmer mit einem winzigen Balkon, der in die Wipfel einer Linde hineinhängt, ein kleines Kabinett, in das gerade ein Bett hineingeht, ein enger Baderaum und eine Kochnische, das ist mein Reich. Ich bin sehr zusammengeschrumpft.
Wir haben die Tage mit Packen und Räumen verbracht, mit Gardinenaufstecken und Bilderaufhängen. Zum Tagebuch bin ich nicht mehr gekommen.
Dann kam Ulla mit ihren Möbeln und den beiden Kleinen an, und wir räumten ein … Ulla ist für das Praktische, aller Firlefanz wird verbannt, sie will keine Vorhänge, keinen Wandschmuck, keine Teppiche und keine Polstermöbel. Die Kinder sollen Licht und Luft haben, und sie will nicht Polstermöbel und Teppiche klopfen wie bei mir. Sie hat die Kupferstiche, die sich Margot mitnahm, verschmerzt, das Biedermeierzimmer habe ich, da es niemand haben will, endlich Herrn Soliman verkauft, der, angezogen von dem Gerücht eines Umzugs, ankam und behauptete, ich habe es ihm längst versprochen. Ich war froh, als er mir den Preis dafür bezahlte, denn Umzüge kosten Geld. Ich hätte sonst Schulden machen müssen, und das tue ich nicht gern. Auf das Biedermeierzimmer lauerte er schon lange. Er besah erst die schönen, blanken Möbel und machte sie schlecht, sie seien abgenutzt durch das lange Lagern, er entdeckte Risse und Schmarren an ihnen, aber als er sie hatte, streichelte er sie zärtlich und sagte, so etwas würde heute gar nicht mehr gemacht. Zu Herrn Soliman kommen die Käufer aus allen Städten. Er ist Spezialist für antike Möbel und Porzellane. Ich habe jedoch erfahren, dass er jedes Jahr ein paarmal nach Kissingen fährt, wo er in der Nähe einen Schreiner sitzen hat, der für ihn antike Möbel anfertigt, in die mit Schrot Wurmstiche geschossen werden, aber meine Biedermeiermöbel sind vor hundert Jahren am Rhein gearbeitet worden und standen schon im Salon meiner Großmutter, als ich ein Kind war. Die sind nicht aus der Soliman’schen Fabrik.
Als der Umzug vorbei war, kam unerwartet und zwei Monate zu früh Ullas dritter Junge zur Welt, ein Siebenmonatskind. Die Hebamme behauptet, Ulla habe sich übernommen, und das mag sein, aber sie wollte es ja durchaus so, und wenn meine Kinder etwas wollen …
Nun ist er da, der Junge, er ist lebensfähig, und Ulla nährt ihn. Es ist alles glücklich abgelaufen. Ich hatte nur eine kleine Herzattacke hinterher. Aber davon hab ich niemand etwas gesagt. Ich dachte, ich würde diese Geburt nicht überleben.
Der Abschied von Herrn Ying ging still vorbei. Ich weiß nicht, wann er packte, man hörte ihn nicht und sah ihn nicht. Er stand nur auf einmal auf meiner Schwelle und verneigte sich tief. Er kam, um mir zu sagen, dass er sehr traurig sei, von mir zu gehen. Er hatte sein Zimmer geliebt und würde es sehr vermissen … Er lächelte dabei sein chinesisches Lächeln. Und dann ging er fort. Still, wie er gekommen ist, ist er gegangen, wie eine Wolke, die vorüberzieht. Und dann habe ich nie mehr etwas von Herrn Ying gehört. Er ist aus meinem Haus verschwunden wie aus meinem Leben. Aber zur Teezeit muss ich oft an sein stilles, braunes Gesicht denken und an sein angenehm ruhiges Lächeln. Ich vermisse ihn.
Onkel Dolf sehe ich jetzt selten. Er kommt nicht nach der Heidukstraße heraus, und meine neue Wohnung interessiert ihn nicht. Er hat sich schwer geärgert, dass ich zu der Schmeckebier gezogen bin, denn mit dieser Querulantin, die ihn wegen eines nicht ziehenden Küchenherdes, den man hier Maschine nennt, verklagt hat, hat er einen Prozess gehabt, der einmal nicht zu seinen Gunsten ausging. Er ärgert sich, dass ich mich von den Frosenius verdrängen ließ, aber er wird ja nie gefragt. Er hört nur alles, was falsch gemacht ist, hinterher. Er hat auch im Magistrat dagegengestimmt, dass sie die Halde zu Bauplätzen machen, aber er wurde überstimmt. Er hat darauf sein Amt niedergelegt, und nun liest er alles, was sie im Magistrat ohne ihn falsch machen, und muss sich darüber grimmen. «Altes Eisen ist man geworden, Oliva! Nicht mehr wert als das, was sie auf der Halde ausgraben und in den Fluss schmeißen.»
Mein Umzug ist nun auch überstanden.
Viel konnte ich nicht mitnehmen in meine neue Wohnung, nur mein blaues Zimmer mit den hellen, blumigen Cretonnesesseln, die Barockkommoden, die Vitrine mit meinem alten Porzellan, die Couch und ein paar Küchensachen. Mein neues, kleines Reich ist sehr hübsch geworden, hell, wohnlich und sauber, und alles umschwebt noch ein leichter Duft nach einstiger Eleganz … Es ist das bescheidene Reich einer alten Dame, auf die ich mich langsam vorbereite.
Mein liebes Haus sieht jetzt so verändert aus, dass man es nur noch an den Tapeten erkennt. Es ist ein Kindergarten geworden. In jedem Zimmer steht ein Bett, auf dem Boden liegt Spielzeug herum, auf den Fensterbrettern stehen leere Milchflaschen, auf dem Herd brodelt immer ein Kessel mit Windelwäsche, und der runde Tisch im Wohnzimmer trägt eine weiße Wachstuchdecke. Das ist praktisch bei kleinen Kindern.
In meinem Garten hängt beständig Wäsche auf der Leine, in der Laube steht der Kinderwagen und die Waschmaschine. Wenn ich etwas nähen will, weiß ich nicht, wohin ich mich setzen soll, denn die Maschine stört die schlafenden Kinder. Wenn sie wach sind, sind sie hungrig, und es müssen Breie gekocht und Flaschen gewärmt werden. Wenn Ulla morgens in die Gärtnerei geht, um dort zu arbeiten, hüte ich die Kinder. Eine Haushaltshilfe ist zu teuer und auch nicht zu bekommen. Und da Heinz von seinem kleinen Soldatensold nichts schicken kann, muss Ulla mitverdienen. Sie bekommt für die Stunde eine Mark und das Essen von ihren Schwiegereltern. Wenn sie ihre Kinder morgens fertig gemacht und gefüttert hat, geht sie in die Gärten herunter, und dann trete ich in Tätigkeit. «Du hast ja doch sonst nichts mehr zu tun», meint Ulla. Sie bringt Gemüse, Kartoffeln, Salat und Obst aus der Gärtnerei im Rucksack mit. Die Kinder gedeihen gut, es sind gesunde, kräftige Kinder, aber sie sind sehr wild, und man muss sehr auf sie aufpassen. Der Garten zieht sie magisch an, weil dort ein Regenfass steht und eine Wasserleitung. Man muss ständig hinter ihnen her sein, damit sie nicht auf die Straße laufen, denn die Heidukstraße ist keine stille Straße mehr. Es fahren jetzt schwere Lastwagen nach der Halde. Neulich wäre der kleine Jürgen fast unter einen solchen geraten, als er mir entwischte. Ich habe es Ulla nicht erzählt, denn sie ist eine sehr ängstliche Mutter. Unsere größte Sorge ist jetzt, wo wir die Schuhe für die Kleinen herbekommen. Die Kleider erben sie von mir, ich nähe sie ihnen aus meinen alten Stoffen, aber Schuhe kann ich nicht auch noch machen. Auch mein Garten hat sich sehr verändert. Der Rasen ist Spielplatz für die Kinder geworden, er vertrocknet in der Sonne. Wir haben immer noch keinen Schlauch, denn jetzt gibt es keinen Gummi mehr, die Gießkanne ist durchgerostet, und es gibt auch keine Gießkannen mehr. Das Unkraut wuchert kniehoch, und Bens Dschungel überwuchert alles mit Schlinggewächsen und Brennnesseln, an denen die Kinder sich Beine und Hände zerstechen. Von meinen weißen Gartenmöbeln ist die Farbe abgeblättert, aber es gibt keine Farbe mehr zum Streichen.
Mein Tag geht mit Einholen und mit den Kindern hin.
Abends ist Ulla müde … Aber sie ist zufrieden. Sie beneidet niemand. Sie hat keine Bedürfnisse. Kunst, Theater, Musik, Bücher, das alles liegt außerhalb ihrer Wünsche. Es wäre ihr schrecklich, eine Gesellschaft mitzumachen und sich anzuputzen, um ein Konzert zu besuchen. Sie würde keinen Augenblick dort Ruhe haben und immer an ihre Kinder denken.
Sie belehrt mich über Gartenausnutzung, Kinderpflege und Kocherei. Wie ich es machte, war’s eben falsch, und den Birnbaum habe ich falsch gestutzt. Ihre Schwiegermutter hat sich die Seiten gehalten vor Lachen über das, was wir alles mit dem Garten angestellt haben. Das konnte ja nie etwas werden.
Ulla hat schon ganz die rechthaberische Art der alten Frosenius angenommen. Wenn sie im Garten steht in ihrem bunten Rock und Wäsche abnimmt, die Klammern in der blauen Schürze, erinnert sie mich an Frau Frosenius auf dem Markt. Wenn ich meine Diplomatie entfalte, komme ich mit ihr aus ohne Streit, denn sie braucht mich ja.
Ich glaube, Heinz ist sehr erleichtert, dass ich nicht in das Giebelzimmer gezogen bin … Und es ist auch besser … Junge Leute wollen unter sich sein. Sie brauchen uns nicht mehr. Dass sie uns nötig haben, ist eine Illusion.
«Schenken, Schweigen, Verzeihen», sagte meine Mutter.
Da, wo mein Flügel stand, steht jetzt ein Kinderbett. «Du hättest ja doch nicht mehr drauf spielen können», meint Ulla. Und darin hat sie recht. Sie hat überhaupt immer recht, wie Dieter und Margot. Alle haben recht, und was sie finden, ist richtig. Sie sind glücklich, wie sie sich ihr Leben geschaffen haben, und nehmen alles, wie es nun mal ist. Kann man mehr verlangen?
Es ist Abend. Die stille Friedenstraße mit ihren Villen liegt ruhig im Schnee, alles ist abgeblendet und dunkel, man sieht kein Licht, nirgends, nicht einmal einen hellen Streifen unter einem Fenster sieht man.
Das Haus ist ruhig, Frau Schmeckebier und ihre Wirtschafterin schlafen schon, und das Professorenehepaar ist verreist. Es ist so still, dass man sich fürchten könnte in diesem Haus ohne Lautsprecher, ohne Klavier, ohne Hund und Kinderstimmen und ohne Papagei.
Abends, wenn ich von Ulla komme, bin ich müde, und mein Kopf ist wie ausgeräumt. Ich schließe meine kleine Wohnung auf, nehme die Post aus dem Kasten und hänge meine bescheidenen Sachen in die Diele. Dann zünde ich meine Schreibtischlampe an, die weiße, hohe Lampe mit dem zarten blauen Schirm, die ein so weiches, tröstliches Licht verbreitet. Mein Zimmer empfängt mich immer freundlich und geordnet. In den Vasen stehen frische Tannenzweige und rote Ebereschen, über denen ein paar Lamettafäden hängen. Meine alte Uhr tickt leise auf der Barockkommode, es ist warm bei mir, wärmer als bei Ulla, die mit den Kohlen spart.
Ich öffne die Briefe … Tante Constanze schreibt wieder aus Florenz. Mary schickt eine Schneekarte aus der Winterfrische, sie hat ihren Freund dort getroffen, er steht als Hauptmann im Osten, sie verbringen seinen Urlaub in einem großen Sporthotel. «Wer weiß, wie lange man sich noch hat», schreibt sie. Und dann ist ein großer brauner Brief da, Poststempel Kiel … Ich sehe ihn an, ich wage ihn nicht zu öffnen … Ich habe so lange nichts mehr von meinem Ben gehört … Ich reiße ihn auf … «Marineoberkommando» lese ich, und dann weiß ich alles … Ben ist tot … Dieser Brief ist das Einzige, was ich von meinem armen Ben gehört habe …
Ich hab es gewusst. Seit Langem fühlte ich es im Unterbewusstsein, dass er nicht mehr da ist. Es umschwebt mich immer noch etwas von ihm. Seine letzten Worte im Garten, ich sehe ihn vor mir, sein blondes gutes Gesicht und der Kopf, auf dem die Matrosenmütze so keck saß, und die strahlenden Augen … Ich versprach ihm, nicht traurig zu sein … Ja, mein Ben, ich will es versuchen … Ich will denken, du seiest noch bei mir wie als Kind, immer an meinem Rock die kleinen Hände. Er hing so an mir, er hatte ja nur mich, seinen Vater hat er nie gekannt.
Er war unter keinem Glücksstern geboren, mein Ben.
Ich habe viel Besuch gehabt in diesen Tagen.
Ich wäre lieber allein geblieben, aber die Korzfleisch eröffnete den Reigen. Sie kam im langen Trauerschleier an, denn sie hat eben ihren Bruder verloren, der auch im Krieg gefallen ist, und sie kam zu mir, um sich auszuweinen. Über den Bruder nicht, denn mit dem hat sie sich nicht verstanden, er hat keine Lücke in ihr Leben gerissen. «Aber unser Ben, der nette, gute Junge!» Dass es ihn gerade treffen musste und nicht einen andern, der nichts taugte. «Aber die gomm alle zurück.» Sie hatte mir ein Stück Stolle mitgebracht und Rotwurst vom Lande. Und sie öffnete den Damen die Türe, die gleichfalls gehört hatten … Sie erfuhren von der Korzfleisch mehr als von mir. Frau Schmeckebier kam herauf, sie sagte mir Worte des Trostes und wunderte sich, dass ich so ruhig blieb und keine Tränen hatte, aber diese Quelle ist mir versiegt …
Die Nachtigall kommt mit einem Strauß Dahlien an, die hat der Ben doch immer so gerngehabt. Sie bringt mir einen Brief von Onkel, der einen Hundertmarkschein enthält. Er hat nicht die Gabe zu trostreichen Briefen. Sie treffen jetzt von allen Seiten ein. Ich mache sie nicht auf. Ich weiß ja, wenn ich den Poststempel lese, von wem sie kommen, und was sie enthalten, kann ich mir denken. Ich verstehe jetzt den Satz unter den Todesanzeigen, die ich jetzt häufig lese: «Beileidsbesuche dringend verbeten.»
Ich habe niemand eine Anzeige geschickt. Wozu? Es haben so wenige meinen Ben gekannt. Für sie ist er einer von den vielen.
Ich habe einmal auf einem Soldatenfriedhof an der französischen Grenze ein Schild gelesen: «Sie gingen uns voran.»
Die Hochzeit Dieters fand im Januar in Berlin im Kaiserhof statt. Sie ging an mir vorbei wie ein Schattenspiel …
Ich habe nur einiges davon behalten … Dieter bestand darauf, dass ich komme, «aber nicht in Trauer, bitte, Mama». Es war eine große Hochzeit von fünfzig Personen, und ich war im Kaiserhof einquartiert. Ich hatte ein nettes, kleines Zimmer mit einem Balkon, der mir zwar im Januar nicht viel nützen konnte, denn es war sehr kalt und windig in Berlin, als ich ankam … Dieter war am Bahnhof und holte mich ab. Er sah sehr gut aus, strahlend, viele Orden an seiner straff sitzenden Uniform.
Ich bin hingefahren, obwohl mir nicht gut war, ich fröstelte und hatte bestimmt Fieber. Wenn ich messen würde – aber ich messe nicht mehr. Es ist einerlei, ob man weiß, wie viel Temperatur man hat, und mein Arzt ist weit … ich glaube, er ist in Łodz.
Ich habe ein sonderbares Gefühl in den Knien, als seien sie von Stroh, und ein leichtes Gefühl, als ob ich gar nicht auf der Erde gehe, sondern schwebe. Ich bin so leicht geworden … Aber davon darf man einem Sohn nichts sagen … Er ist glücklich, er wird seine Lisa heimführen, er hat 5 Tage Urlaub bekommen.
Es ging alles so rasch, so wie ein zu rasch eingestellter Film sich abrollt. Die vielen Menschen, die mir vorgestellt werden, das große Hotel mit der warmen, schönen, hohen Halle. Mein angenehmes Zimmer mit Bad, das mir Dieter genommen hatte – ich bin ihm dankbar dafür –, war meine Insel in diesen unruhigen Tagen.
Ich hatte natürlich zu dieser Hochzeit wieder nichts anzuziehen. Auf Hochzeiten in Berlin bin ich nicht mehr vorbereitet. In Schwarz sollte ich nicht kommen, bat Dieter, so hatte ich mir ein grünes Crêpe-de-Chine-Kleid, das mir Tante Constanze einmal schickte, zurechtmachen lassen von einem kleinen Nähfräulein, nach der «Eleganten Mode», aber es war, als ich hinkam und die anderen in ihren einfachen, eleganten, modernen Toiletten sah, weder modern noch elegant. Ich hatte mir dazu eine Diamantbrosche in Form eines Halbmondes von Tante, die sie mir zu diesem Fest geliehen hat, damit ich die Familie vertrete, angesteckt. Ich fand sie abscheulich und sehr protzig, sie passt zu Tante Constanze, aber nicht zu mir. Meine Hermelinstola war vom Liegen gelb geworden, und meine Goldkäferschuhe, die einzigen Gesellschaftsschuhe, die ich besitze, passten auch nicht zu dem grünen Kleid. Ich kam mir darin vor wie maskiert.
Mein schwarzer Straußenfederfächer passte auch nicht dazu, er gehörte früher zur Toilette, aber wie ich sah, trägt man jetzt keine Fächer mehr. Er hat lange in der Mottenkiste gelegen. Ich kam mir selbst vor wie aus einer solchen Kiste.
Ich stehe im Empfangssalon. «Erlaube, Mama, dass ich dir deinen Tischherrn, General so und so, vorstelle.» – «Gestatten, gnädigste Frau.» Handkuss und Verbeugung eines grauen Kopfes. Eine andere Uniform verdrängt ihn. Ich sehe Uniformen, lange Kleider mit Schleppen, stattliche Damen mit Perlenketten, Federschmuck im Haar, junge Frauen mit kühnem Rückenausschnitt und Lockenmähnen neigen sich huldvoll über meine Hand. Tiefe Knickse der jungen Mädchen. Man beglückwünscht mich zu meinem Sohn, der Hauptmann geworden ist und eine große Karriere vor sich haben soll … Seine Uniform glänzt von neuen Orden.
Neben mir auf dem Sofa sitzt eine Gräfin aus Potsdam, scharf geschnittenes Profil, das Doppelkinn gehalten von einem engen, festen Perlenhalsband. Ihr schwarzes Spitzenkleid ist einfach und vornehm. Ich hätte mir mein weißes Spitzenkleid färben lassen sollen. Jetzt trägt es die Frau von Ben. Mir wirbelt der Kopf von den vielen Menschen. Ich bin das nicht mehr gewöhnt. Wann hab ich meine letzte große Gesellschaft mitgemacht? Ich glaube, es war 1914, ein Gartenfest bei einem Oberst … Es war glühend heiß, und alles sprach damals vom Krieg, der dann auch bald kam … Es war meine letzte Gesellschaft. Die Braut ist noch nicht sichtbar. Sie ist beim Ankleiden.
«Meine Tochter ist die Ruhe selbst», sagt die Brautmutter zu den Damen.
«Wohin reist denn das junge Paar?»
«Gott wohin? Wahrscheinlich nach München. Er hat ja nur fünf Tage Urlaub.»
«Die jungen Leute müssen heutzutage schnell heiraten», meint ein alter Herr neben mir.
Die Herren stecken die Köpfe zusammen über einen Witz. Junge Mädchen in weißen und rosa Kleidern, goldene und silberne Schuhe flirren vorbei.
«Darf ich Ihnen Lisas Freundin Carola vorstellen?»
«Ihre Freundin Bianca … Ihre Freundin Freia, meine Cousine Hildegard …» Dieter führt mir die Kameraden vor: «Mama, erlaube, dass ich dir meinen Freund Hans-Otfried vorstelle … Seine Mutter ist auch vom Rhein … Hier, mein guter Hasso … Das ist meine Mama. Hasso spielt nämlich auch Klavier … Musik ist sein Steckenpferd. Darf ich dir Major Soundso, Graf X. vorstellen?» Ich bemühe mich, gute Haltung zu wahren und zu lächeln. Ich kann mir vorstellen, was es heißt, bei einer Cour Cercle zu halten, wie die arme Zarin, der nie etwas einfiel, wenn sie sich fremden Menschen gegenübersah, die etwas Geistvolles von ihr erwarteten.
Ein paar höfliche junge Herren, die Dieter als seine Adjutanten für diesen Tag angestellt hat, bemühen sich um mich. «Sind Ihnen nun alle Herren vorgestellt, meine gnädigste Frau? Welche von den älteren Damen kennen Sie noch nicht? Die dort mit dem roten Haar, die eben hereinkommt, ist Fürstin Soundso … Sie werden ihr bei Tisch gegenübersitzen … Wir mussten im letzten Augenblick die Tischordnung ändern … Der Kommandierende hat nämlich abgesagt, er muss plötzlich an die Front, aber seine Gattin wird kommen …»
Da ist sie schon … Weiße Flügeltüren, die sich öffnen und schließen, Diener in Escarpins, Palmenwedel über Sofas, kosige Ecken für den Kaffee nach Tisch Blumenkörbe werden hereingebracht …
Dieter wirft einen Blick auf die daran hängenden Karten. «Nett von Uechtritz … Er hat uns nicht vergessen …»
«Ja, reizend», sagt die schöne Brautmutter und schaut die kostbaren Rosen flüchtig an.
Das ganze Zimmer steht schon voll großer und kleiner Körbe mit Nelken, Rosen, Orchideen, in hohen Vasen wird weißer Flieder mit langen Stielen aus dem Treibhaus hereingebracht. Weiß verhüllte Geschenke. Silber. Depeschen. Sie werden von dem Adjutanten auf eine silberne Schale gelegt, um nachher vorgelesen zu werden, wie bei meiner Hochzeit damals. Ich habe seitdem keine mehr mitgemacht. «Dieses ist meine letzte Hochzeit», erzähle ich meiner Nachbarin, der Gräfin, die mit ihrer Lorgnette die Menschen betrachtet, die an uns vorüberkommen …
«Wieso Ihre letzte?», fragt sie uninteressiert. «Das weiß man doch nie …»
Doch, ich weiß das. Meine Kinder sind alle verheiratet.
Der Saal mit den vielen Spiegeln fängt das Licht auf und gibt es wieder, und die Spiegel verdoppeln die vielen Menschen. Das flirrt und flimmert mir alles vor den Augen wie ein Karnevalstreiben. Handküsse, Sporenklirren, dazwischen taucht Dieters schönes, braun gebranntes Gesicht auf. Die Brautmutter ist sehr umringt, wir haben uns kaum gesprochen, sie steht im Saal und hält Cercle. Sie kennt alle Menschen.
Ich kenne niemand, und niemand kennt mich. Ich wette, die meisten wissen gar nicht, wer ich bin.
Die Gräfin reicht einem alten Herrn im Frack die Hand, die er küsst.
«Endlich! Ich war schon ganz unruhig … Ihre Frau nicht mitgekommen? Wie schade!»
Wieder eine Änderung der Tischordnung, «Nordeck, hören Sie mal!» Der Adjutant fliegt hinter Dieter her, der einer stattlichen Dame den Hof macht. Wahrscheinlich seine Vorgesetzte. Sie lächelt ihn gnädig an. Er ist auch zu schön, mein Junge. Ich will ihm alles verzeihen, viel war es ja nicht, nur etwas wenig Liebe für das, was er empfing. Aber eine Mutter soll nicht rechnen: schenken, schweigen, verzeihen … Ich lächle allen zu, die zu seinem Fest gekommen sind. Ein stattliches Paar ist eingetreten, ein kleiner älterer Herr im Frack, ordenbedeckt, die Frau elegant im schwarzen, pelzbesetzten Sammetkleid, Orchideen am Ausschnitt, Hermelinumhang. Alles drängt zu ihnen hin. Sicher jemand von Wichtigkeit. Ich bleibe sitzen, die kleine Frau auf dem Sofa in dem altmodischen grünen Kleid. Das Nähmädchen, das mir die Schleppe absteckte, meinte, ich müsste ein neues Kleid haben zu einer solchen Hochzeit. Aber sie geht auch vorbei … in Grün. «Wer ist eigentlich die kleine Dame auf dem Sofa? Sie sitzt da wie bestellt und nicht abgeholt?», fragt ein Major, der eben angekommen ist. Der Adjutant flüstert ihm ein paar Worte zu … Darauf neigt er sich über meine Hand.
«Erlauben Sie, dass ich mich … Verzeihung, dass ich noch nicht … Dieters Mutter, nicht wahr? … Es sind heute so viele Menschen hier. Ich dachte … ich wusste nicht …» Ein paar anerkennende Worte über meinen Sohn. «Haben Sie noch mehr Kinder, gnä’ Frau? Sind sie hier anwesend?» Blick in die Runde. «Nein?» Ach so, die Männer im Feld … die kleinen Kinder … Aber bei einer solchen Gelegenheit … Ein junger Herr unterbricht ihn. «Du bist auch hier, Fedor?» – «Entschuldigen Sie», eine flüchtige Verbeugung, und fort ist er. Er hat nicht einmal meine Antwort abgewartet.
Endlich ist es so weit, der Pfarrer ist vorgefahren, in der Kirche läuten die Glocken, der Zug ordnet sich paarweise. Mich führt ein alter General, die Brust mit Orden bedeckt. Es ist ein langer, feierlicher Zug. Pelze über Brokatroben, gleißende Atlasschleppen. Uniformen, ordenbesternt. Zwei Fotografen machen Aufnahmen im Schnee. Schade, dass Margot heute nicht dabei sein kann. Ulla war sehr erleichtert, dass man sie nicht eingeladen hatte. «Ich wäre lieber gestorben», sagte sie.
Die Kirche ist weiß von Blumen und streng duftendem Grün. Wir schreiten langsam zum Altar und verteilen uns dann rechts und links in den Bänken. Der Pfarrer steht vor dem Altar und wartet. Als alle stehen, fällt die Orgel ein. Brausend füllt sie die hohe Kirche.
«Wer hat denn die Kirche so schön geschmückt?», fragt die Gräfin neben mir.
«Ich weiß es nicht», sage ich leise.
«Sicher Rothe. Sie sind hier fremd? Aus Breslau, wie ich höre?»
«Nein, ich bin vom Rhein. Die Stadt werden Sie nicht kennen.»
«Wahrscheinlich nicht, ich war noch nie am Rhein», sagt die Gräfin.
Ist es möglich, dass es Menschen gibt, die noch nie am Rhein waren? Es ist kühl in der Kirche, trotzdem sie geheizt ist. Meine Hermelinstola ist nicht warm, die anderen Damen haben große Pelze, Umhänge aus Nerz, Zobel oder Sealcapes. Eine junge Frau vor mir hat über ihren Schultern einen Silberfuchsmantel bis zu den Füßen. «Möchte wissen, was der gekostet hat», sagt jemand hinter mir. «Ich hab mich neulich erkundigt, bei Herpich, ich fiel fast um. Deshalb trägt sie ihn immer. Neulich kam sie zum Tee zu mir in dem Mantel, sie ließ ihn an bis zuletzt.»
Da durchbricht ein breiter Lichtschein das Halbdunkel der Kirche, die Flügeltüren öffnen sich, und das junge Paar erscheint. Eine hohe, schlanke, weiße, schleierumflossene Gestalt und mein Dieter in Uniform. Voran gehen vier weiß gekleidete Mädchen. Sie tragen Rosenkränzchen im Haar und streuen Blumen aus kleinen Körbchen auf den Teppich. Sie sehen aus wie herabgestiegene Engel. Zwei Knaben tragen der Braut die Schleppe, die mit Myrtensträußchen besteckt ist.
«Ein wundervolles Kleid», flüstert es hinter mir. «Diese alten Spitzen auf Taft.»
«Nordeck sieht wieder blendend aus, findest du nicht, Vera?»
«So sah er doch immer aus …»
«Dass du das so ruhig mit ansehen kannst, heute!»
«Gott, ich bin ja längst darüber hinaus …»
«Hat er eigentlich Familie?»
«Doch, ein paar Schwestern, glaub ich.»
«Sind die hier?»
«Weiß ich nicht, die Mutter soll hier sein …»
«Wo denn?»
Die Antwort habe ich nicht mehr gehört.
Das Brautpaar kommt an meiner Bank vorbei, sie schreiten langsam durch das Spalier zart bunter Mädchenkleider und Uniformen. Die Braut sieht sehr schön aus, blond, ruhig und kühl in ihrem spitzenüberrieselten weißen Kleid, einen Strauß roter Rosen im Arm, in den hellen Locken ein Diadem von Myrten. Alles hält den Atem an. Die Orgel spielt leise und feierlich. Nur ein paar Lorgnetten klirren. Mein Dieter! Ich krampfe die Hände fest ineinander, um mir einen Halt zu geben. Ich bleibe stehen, um sie besser sehen zu können. Sie gehen an mir vorbei. Lisas weißes Kleid rauscht leise. Ich sehe Dieters festes, schönes Profil, seinen geraden, stolzen Rücken. Mein Herz klopft wahnsinnig rasch. Schade, dass Margot das nicht sehen kann, und Ulla … und … aber ich will ja nicht an Ben denken, nein, ich will nicht … Ich trage keine Trauer heute, ich darf es nicht, schwarzer Krepp hätte nicht in dieses heitere glänzende Bild gepasst. Mehrere Offiziere tragen schwarze Kreppreifen am Arm … aber ich weiß, mein Dieter hat einen guten Stern … er hatte ihn immer, die dunklen Stunden rechnen nicht, vor ihm liegt die breite, gerade Straße zum Ruhm.
Ein Herr neben der Orgel erhebt seinen Bariton. «Wo du hingehst, da will auch ich hingehn.»
Das Lied passt eigentlich heute nicht, denn Lisa würde meinem Dieter sicher nicht nach Russland folgen.
«Wer ist denn der Sänger?», fragt jemand hinter mir.
«Heinzmann, von der Städtischen Oper.»
«Der singt doch nicht auf Hochzeiten!»
«Aber die Stimme erinnert an Heinzmann.»
«Kannst ihn ja mal fragen, wenn’s dich interessiert.»
«Ich glaube, Dorothee, wir dürfen uns setzen. Die Dame hinter uns hat sich auch gesetzt.» Die große Dame im Hermelinumhang lässt sich vor mir nieder. Der Pfarrer redet. Ich bemühe mich, der Predigt zu folgen. Reden und Predigten wirken immer einschläfernd auf mich. Es geht mir wie Onkel Dolf, der eine lange Rede für das beste Schlafmittel erklärt. Der Pfarrer spricht gut, aber ganz unpersönlich. Es hört sich an wie etwas Gedrucktes, das man schon oft gelesen hat. Meine Gedanken schweifen ab. Ich denke an Ulla, und wer jetzt die Kinder beschützt, an die schweren Lastwagen, die nach der Halde fahren, an den Papagei der Dame aus Wiesbaden, an Erni, Bens Frau. Wie mag sie es tragen? Ich muss ihr etwas schicken … aber was? Ein Kleidchen vielleicht … Man hat dem Pfarrer einige Stichworte gegeben, und der Name Nordeck fällt auch einmal. «Der tapfere Sohn eines verdienten Offiziers, der im Weltkrieg sein Leben für uns hingegeben hat.» Die Gräfin sieht mich von der Seite an. Das gilt mir … Soll ich aufstehen? Viele Damen stehen auf, nur ein paar ältere bleiben sitzen. Nun kniet das Brautpaar nieder. Das «Ja» meines Dieter klingt laut und fest, Lisas «Ja» klingt ruhig und gelassen. Dann werden die Ringe gewechselt. Das Brautpaar erhebt sich. Orgelklänge, Geigenspiel, das Brautpaar tritt vom Altar zurück und wird beglückwünscht vom Herrn Pfarrer und umarmt von den Damen. Umringt von den Menschen, steht die schöne junge Frau da, lächelnd und kühl, als ob sie eine Gesellschaft gibt. Dieter ist ergriffen. Er umarmt mich fest … «Liebe, gute Mama.» – «Mein Dieter!» – Er drückt mir fest die Hand. – «Seid glücklich! Denk auch mal ein bisschen an mich, ja?» – Er nickt mir zu. Seine grauen Augen glänzen feucht. Er beugt sich über meine Hand und sagt: «Dank.» Wir werden getrennt, Umarmungen, Tränen, Spitzentaschentücher, Geflüster, Verbeugungen, Handküsse, Schleppen und Sporen, die gestreuten Blumen werden weggefegt und achtlos zertreten.
Die Hochzeitsgesellschaft verlässt die Kirche unter Orgelklang. Die Menschen stehen noch immer draußen und warten. Es ist bitterkalt. Der Schnee fällt leise wirbelnd.
Endlich sitzt man bei Tisch.
«Er hat gut gesprochen, der Herr Pfarrer», meint mein Tischherr, der General.
«Etwas unpersönlich», finde ich.
«Ja, was soll er schon viel sagen? Er kann sie doch nicht alle kennen, die vielen jungen Paare, die er jetzt trauen muss», meint er. «War Ihr Herr Gemahl der Nordeck, der in Gumbinnen stand?», setzt er die Unterhaltung fort, als wir die Servietten entfalten.
«Nein, mein Mann hat nie in Gumbinnen gestanden.»
«Dann war’s wohl ein Verwandter?»
«Das kann sein, er hatte viele Vettern im Heer.»
«Der einzige Sohn wohl heute?», fragt er höflich.
«Nein, ich hatte zwei Söhne.»
«Auch bei der Armee?»
Der warme Hummer, den ein Diener reicht, enthebt mich der Antwort.
«Aber, meine Gnädigste, so wenig nehmen Sie? Lassen Sie mich Ihnen mal vorlegen» … Und mein Nachbar legt mir ein großes Stück Hummer auf den Teller … Mir wird auf einmal schwindlig. Ich lehne mich zurück, ich glaube, ich habe Fieber … In der Kirche habe ich gefroren, jetzt ist mir heiß, und der Kopf tut mir weh. Die vielen Kerzen und die Blumen. Vor mir stehen Maiglöckchen im silbernen Korb. Ein Geschenk eines Prinzen soundso, weiß mein Gegenüber. «Von was für einer Linie?» – «Von der Vietzenburgischen.» – «Ist das der, der die Schoening zur Frau hat?» – «Nein», sagt die Gräfin von der anderen Seite, «das ist mein Vetter, der mit Marianne Schoening verheiratet ist, eine Heirat zur Linken.» – «Psst», wieder eine Rede.
Der Oberst steht auf und schlägt an sein Glas. Er spricht zum Brautpaar hingewendet, kurz, soldatisch, etwas trocken. Gläserklingen, alles erhebt sich, um mit dem Brautpaar anzustoßen.
Schattenhaft taucht meine eigene Hochzeit vor mir auf. Es war Herbst damals, der Herbst, der dem Rhein so gut steht, leuchtend bunt die Wälder. Die Weinberge, die grünen Matten, die Terrassen mit den letzten Rosen, in der Ferne die weißen Schiffe, die rheinauf- und -abwärts ziehen mit wehenden Wimpeln, unser liebes Haus und die Gärten … Nein, daran will ich lieber nicht denken … Neben mir steht ein Körbchen aus Meißener Porzellan mit Pralinen gefüllt. Ob man wohl ein paar davon einstecken darf für die Kinder? So was haben Ullas Kinder noch nie gegessen. Früher nahm man sich immer ein paar Pralinen von den Tafeln im Pompadour mit … Die Zeiten der Pompadours sind vorbei. Keine einzige Dame trägt mehr einen, außer mir. Alle tragen kleine Taschen aus Gold oder Silberstoff. Ich habe Fieberwangen und fröstle. Das ist nicht richtig, aber ich darf nicht krank werden, nicht von der Tafel aufstehen und weggehen in mein stilles, hübsches, warmes Zimmer, in das breite, bequeme Bett.
Ich komme mir so gespensterhaft vor bei dieser Hochzeit. Bestellt und nicht abgeholt, der Herr hatte ganz recht. Der Sekt perlt in den Schalen, jemand hält wieder eine Rede. Man stößt an auf das junge Paar. Der Adjutant liest die angekommenen Depeschen vor. «Den Neuvermählten, dem jungen Paar herzlichste Glückwünsche.» Ich höre lauter Namen, auch Onkel Dolf ist dabei und Erni Nordeck. Wer ist das? Richtig, Bens kleine Witwe. Sie hat auch dabei sein wollen, wenn sie auch nicht eingeladen war. Tante Constanze hat ein riesiges Wunschtelegramm geschickt aus Badgastein. Sie macht dort Winterkur. «Deine Schwester Margot», höre ich. Unter den Telegrammen ist auch eines von einer Elli Wenkenbach, geborenen Fett … «Fett?», sagt der vorlesende Adjutant. «Ist das richtig? Ich dachte, es wäre ein Druckfehler.» Aber es ist keiner. Seine Elli hat an meinen Dieter gedacht.
Nach dem Rehrücken ist das Brautpaar plötzlich nicht mehr da, ihre Plätze an der Tafel sind leer … Sie sind verschwunden. Man rückt etwas zusammen, die Unterhaltung hat sich gelockert, sie ist lauter und lebhafter geworden. Man spricht nicht mehr von Prinzen und den Frauen, die sie zur rechten oder zur linken Hand geehelicht haben, noch von den Nordecks, die in Gumbinnen gestanden oder nicht gestanden haben. Alles unterhält sich zwanglos über die rosengeschmückte Tafel. Wir sind beim Eis und dem Sekt. Immer noch werden Telegramme hereingebracht und verlesen. Aber es hört kaum noch jemand zu. Namen fallen wie Blätter im Herbst. Man hört nur auf die Namen. Die warmen Käsestangen bilden den Schluss des Essens. Dann erhebt man sich und geht paarweise in den anderen Saal. Handküsse. Gesegnete Mahlzeit … Mahlzeit … Mahlzeit … Mahlzeit. Unendlich viele Verbeugungen. Meine Hand ist schon ganz müde. «Wirklich reizend, heute …», findet mein Tischherr. «Man hat jetzt so selten Gelegenheit …» Zwei junge Mädchen in Weiß kommen vorbei, Arm in Arm, jung, schön, lockenumwallte reizende Köpfchen.
«Schade, dass nicht getanzt werden darf, Exzellenz.»
«Ja, meine Gnädigste, es ist Krieg.»
«Wie haben sie das nur fertiggebracht, dieses große Diner?», fragt eine kleine, stämmige Dame in Silberblau meinen Tischherrn. Er belehrt sie, dass die Brautmutter vom Lande ist, von einem großen Gut in Pommern. «Ach so.» Die umringte Brautmutter lächelt und drückt allen die Hände. Dann findet sie auch einmal Zeit für mich und setzt sich zu mir auf das Sofa in der Ecke. Es ist keine Brautmutter mit weißem Scheitel und schwarzseidenem Kleid. Es ist eine hübsche Frau von zweiundvierzig Jahren, schlank gewachsen, in einem gut sitzenden grauen Pailletten-Kleid, einen roten Rosenbusch an der Schulter. Ihr Gesicht hat noch keine einzige Falte, ihr Haar ist goldbraun und ihre Haut glatt und gepflegt.
«Ja, meine liebe Frau Nordeck, endlich komme ich zu Ihnen. Ich weiß, ich bin sehr unhöflich, aber es ist zu viel heute.» Der Diener gießt mir eine Tasse Kaffee ein. «Mir nicht», sagt die Legationsrätin, «erst den anderen Damen. Die Herrschaften dahinten haben noch keinen bekommen, Herr Ober … Man muss heut die Augen überall haben … Haben Sie sich gut unterhalten, bei Tisch? Alles gehabt? Das ist recht. Unser junges Paar ist ja nun glücklich in Frankfurt.»
«In Frankfurt am Main?»
«Aber nein, in Frankfurt an der Oder, selbstverständlich.»
Und ich werde daran erinnert, dass man im Norden ist.
«Frankfurt kenne ich natürlich auch, von der Durchreise», sagt die Legationsrätin. «Der Frankfurter Hof, der Palmengarten und die schöne Oper.»
«Und das Goethehaus», sage ich.
«Ja, natürlich das Goethehaus. Drin bin ich zwar noch nie gewesen, man hatte immer so wenig Zeit … Wie diese jungen Paare jetzt zu ihren Hochzeitsreisen … Damals ist man nach Ägypten gegangen, an den Nil, oder nach Venedig … aber die arme Lisa … Dieter muss ja in fünf Tagen wieder in den Osten … Ja, setzen Sie nur den Rosenkorb in die Garderobe, Meta. Das ist meine Jungfer, die heute hier aushilft. Man weiß schon nicht mehr, wohin mit all den Blumen … Ist alles in Ordnung? Hat Frau Hauptmann auch nichts vergessen? Entschuldigen Sie, wo waren wir eben?»
«In Venedig», sage ich und stelle meine Tasse fort. Der starke Kaffee hat mir die Kopfschmerzen genommen, aber ich habe Herzklopfen bekommen. Mein Herz hat heute viel auszuhalten …
«Der Flügel ist übrigens gut angekommen», fährt die Legationsrätin fort. «Er hat nur etwas im Ton gelitten und ein paar Schrammen bekommen … Er war wohl lange nicht mehr gespielt? Lisa spielt auch etwas, leider war sie immer zu faul zum Üben, sie ist überhaupt etwas bequem, aber sie hat schon ganz nett Mozart’sche Sonaten gespielt und die Kinderlieder von Schumann … Dieter möchte, dass sie sich Stunden geben lässt, aber dazu wird es wohl kaum kommen. Man hat jetzt anderes zu tun. Sie will sich beim Roten Kreuz melden … Und im Sommer sind wir ja auf unserem Gut … Da kann sie sich auch betätigen. Hoffentlich ist der Krieg bis dahin aus. Danke, ich nehme keinen Mokka. Reichen Sie ihn lieber dort den Damen auf dem blauen Sofa … nein, nicht den jungen, den älteren Damen. Mein Gott, diese neuen Kellner, kein Wort Deutsch verstehen sie, nur die älteren sind noch da … Alles ist eingezogen …
Nein, mein Kind, ich habe Bianca nicht gesehen. Vielleicht sitzt sie bei den Herren im Rauchzimmer. Wie alt sind Ihre Kinder eigentlich? Dieter sprach öfter von seiner Schwester Margarete. Margot heißt sie? Natürlich! Gott, mein Gedächtnis! Der Mann ist wohl auch im Feld? Was ist er? Arzt? Nun, die sind wenigstens sicher. Allerdings sind auch schon einige … Mahlzeit, lieber Gert … Sitzt ihr in der Halle. Du wurdest vorhin gesucht, ich weiß nicht mehr, von wem? Vielleicht lernt man sich später mal kennen, und Sie besuchen mich mal, wenn dieser grässliche Winter vorbei ist.» Das ist so hingesagt, wie Tante Constanzes Einladungen, die auch nicht ernsthaft genommen werden sollen, oder wie die Einladungen in Spanien «Betrachten Sie mein Haus als das Ihre, Señora …».
«Morgen versammeln wir uns um fünf bei mir», fährt die Legationsrätin fort. «Sie wissen doch, Admiralsufer 99. Hier ist meine Karte. Und mein Telefon. Das ist das Wichtigste in Berlin.» Ein zierliches Kärtchen wandert aus ihrer Silbertasche in meinen selbst gestickten Perlpompadour. «Ach, wie hübsch, Wiener Handarbeit, nicht wahr?» Lorgnette. «Ich habe auch so einen von meiner Großmutter … Sind Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden? Wir hatten Mühe, eins zu bekommen, die Hotels sind jetzt immer überfüllt, aber Dieter bekommt immer und überall noch ein Zimmer, er versteht es. Er ist übrigens großartig, Ihr Sohn. War er immer schon so?»
Ein Paar verneigt sich vor uns, eine elegante junge Frau in dunkelblauem Sammetkleid und eine Uniform. «Wir müssen leider fort, Tante, Henning muss packen, er geht morgen wieder an die Front … Es war reizend heute, wirklich fabelhaft …» Die Uniform neigt sich über unsere Hände … Ich werde vorgestellt. «Die Mutter von Dieter.» «Wie schade», bedauert die junge Frau. «Wir haben uns noch gar nicht gesprochen. Mein Mann hat mit Dieter den Polenfeldzug mitgemacht.» «Ja, komm, Aline, unsere Bahn», sagt der Rittmeister. Handkuss, Umarmung der beiden Damen, das Paar geht durch die Flügeltür hinaus. Die Legationsrätin erhebt sich. «Wir wollen nach drüben gehen, Frau Nordeck. Ich muss mich auch um die andern kümmern.» Im Nebensaal sieht man vor Rauch kaum etwas. Ein Stimmengewirr, Gesichter tauchen auf, die ich noch nicht gesehen habe, ich werde einer Gruppe Herren und Damen vorgestellt. «Darf ich Ihnen die Mutter Dieters –» Man schaut mich an, wechselt das eisige, tödlich gleichgültige Gesellschaftslächeln. Dann unterhält man sich weiter. Von jemand, der das Ritterkreuz bekommen hat, von einem Vetter, der in Afrika ist, vor Tobruk, und dort an der Küste badet. Ich stehe da und bewege gedankenlos meinen großen Straußfederfächer. Es sind die dümmsten Fächer, die es gibt, sie sind nur dekorativ, sie kühlen nicht, mein Gesicht brennt, die Augen tun mir weh von dem vielen Licht, mein Kopf ist benommen von dem Duft der Blumen, die um uns stehen, Rosen, Lilienkörbe, Orchideen, Nelken, Veilchen und Mimosen … Ich komme mir vor wie ein Möbel, das da herumsteht und das niemand mehr ansieht, noch benötigt. «Sie können wirklich stolz sein auf Ihren Sohn», sagt ein alter Herr im Frack mit zwei Reihen Orden und dem Johanniter am Halse … «Der hat eine Karriere vor sich … ein so junger Hauptmann … und diese Auszeichnungen. Ich sprach kürzlich seinen Oberst … er sagte …» – «Verzeihung, Herr General, darf ich …» – «Ah, meine gnädigste Frau! Wie reizend, dass ich Sie treffe.»
Ich habe mich auf das Sofa in der Ecke zurückgezogen. Neben mir sitzt die Gräfin im schwarzen Spitzenkleid. Sie hat ihre Kaffeetasse in der Hand und sieht gelangweilt aus. Sie fragt nach meinen Kindern. Warum sie nicht hier sind? Es ist nicht guter Ton, in Gesellschaft von seinen Kindern anzufangen, aber es ist der erste Mensch, der mich auf diesem Fest nach ihnen gefragt hat. Aber als ich von Ullas Kleinen anfange, merke ich, dass die Gräfin kaum zuhört. «Verzeihen Sie, ich sehe da eine Freundin», sie erhebt sich und geht davon, ohne dass ich meinen Satz beenden kann. Gegen Mitternacht löst sich alles auf. Wagen fahren vor im Schnee, Umarmungen und Handküsse in der Garderobe, die Brautmutter sah nach wie vor frisch und strahlend aus, keine Spur von Erschöpfung auf ihrem hübschen feinen Gesicht. Wie sich diese Frauen hier jung erhalten. Wie fangen sie das nur an? Ich war erlöst, als ich die Tür meines kleinen Zimmers hinter mir schließen konnte. Ich streifte das grüne Kleid ab wie ein vergiftetes Gewand. Ich habe einmal in einem Schloss das Porträt einer jungen Hofdame gesehen, die von der Fürstin aus Eifersucht vergiftet wurde durch ein Brokatkleid, das mit einem tödlichen Stoff durchtränkt war, der auf dem Körper verbrannte. Gut, dass wir in einem aufgeklärten Jahrhundert leben. Solche Kleider gibt es nicht mehr. Aber eifersüchtige Frauen gibt es noch immer. Der Tag ist vorüber … und mein Dieter ist glücklich mit seiner Lisa. Wird er es bleiben? Hoffentlich. Dieter ist ein Schwieriger. Man muss ihn zu nehmen wissen. Er ist ein guter Soldat, ein eifriger Arbeiter, verlässlich für alles, was man ihm anvertraut, aber ob er viel Zeit haben wird für seine junge Frau? Er hat nie viel Zeit für irgendjemand gehabt, auch nicht für mich … Ich hätte ihn gern noch einmal gesprochen und ihn gesegnet. Aber das ist wohl ganz veraltet. Das kommt nur noch in italienischen Opern vor. Aber es ergreift mich immer. Die Hand der Mutter … Das ist noch etwas ganz anderes, als wenn uns ein Priester segnet. Ich konnte lange nicht einschlafen. Ich sah die beiden immer eintreten in diesen breiten Lichtschein, das strahlende junge, schöne Paar, mein Dieter und die weiße Lichtgestalt unter dem duftigen Schleier und der Krone von Myrten und die kleinen Engel, die ihnen Blumen auf den Weg streuten … Möchten es immer Blumen sein!
Gegen Morgen bin ich dann doch eingeschlafen. Das Telefon neben meinem Bett klingelt mich wach. Die helle Stimme der Legationsrätin erkundigt sich, wie ich geschlafen habe und was ich heute anfange. Sie kann sich leider nicht um mich kümmern, sie hat Hausbesuch. Und der Tee heute Nachmittag. Ich weiß doch, wie ich zum Admiralsufer hinkomme? Sie rät mir, heut Vormittag nach Potsdam zu fahren. Die Schlösser sind geheizt, und der Park ist wunderschön im Schneekleid. Die neue Bilderausstellung im Kronprinzenpalais ist auch sehenswert. Frühstücken kann ich in Potsdam im «Einsiedler» oder im «Klosterkeller», ihr Tee beginnt ja erst um fünf. «Hoffentlich haben Sie einen warmen Pelzmantel mit? Es sind achtzehn Grad. Und heute Abend würde ich mir ein Theaterstück ansehen. Wenn man schon mal in Berlin ist. In der Oper gibt es Siegfried. Das werden Sie ja kennen, im Deutschen geben sie ein neues Stück, das soll gut sein, oder im Schillertheater ‹Don Carlos› in ganz neuer Aufmachung. Das würde ich mir ansehen. Soll ich eine Karte bestellen – telefonisch? Um halb sieben fängt es schon an wegen der Flieger. Sie haben von mir aus nicht weit. Auf Wiedersehen also und gut Wetter für Potsdam.» Und die Stimme ist fort. Die leben ja in einem Tempo hier!
Draußen schneit es, meine Fenster sind gefroren, die Menschen gehen vorbei mit aufgeschlagenen Rockkragen, die Frauen halten sich ihre Schals vors Gesicht. Es ist bitterkalt, der Schnee knirscht. Nein, gnädige Frau, ich werde nicht nach dem windigen Potsdam hinausfahren, sondern ein warmes Bad nehmen und behaglich im Bett frühstücken und etwas lesen, ein lang entbehrter Genuss. Ich klingle, das Mädchen erscheint und bringt mir den heißen Kaffee sehr hübsch angerichtet, mit frischen Brötchen, Marmelade, einem Taler Butter. «Milch haben wir heute nicht.» Dann bade ich und ruhe mich aus … Ich habe lange nicht mehr etwas so Angenehmes erlebt wie diese Stunde im Bett mit einem interessanten neuen Buch, das ich mir in der Halle gekauft habe. Dann frisiere ich meine Locken frisch, ziehe mich an und gehe ins Lesezimmer, um Briefe zu schreiben. Zuerst an Tante Constanze, die in Gastein darauf brennt, von der Hochzeit zu hören. Und dann an Margot. Dann ist es Zeit zum Essen. Im großen Speisesaal sind schon um 12 alle Tische besetzt. Ich bekomme noch einen in der Ecke. Um mich nur Herren, einige Uniformen dazwischen. Ich kenne niemand, und niemand kennt mich. Ich nehme das kleine Menü, natürlich, elegant serviert, etwas spärlich, aber für mich genügt es. Der Ober legt mir eine prächtig gebundene Weinkarte hin. Ich wähle, um nicht ganz in seiner Achtung zu sinken, ein Glas Sherry. Nach Tisch setze ich mich in die Halle in eine Ecke in einen bequemen Sessel und rauche eine Zigarette zu einer Tasse Kaffee. Ringsum Ehepaare vom Land, die zu Einkäufen hergekommen sind, die Damen in dicken Pelzen, Herren, die aussehen, als kämen sie von einer Aufsichtsratssitzung oder einer Besprechung mit ihrem Anwalt. Reisende, Einkäufer großer Geschäfte und schicke junge Frauen mit jungen Offizieren, die wahrscheinlich auf einer sehr kurzen Hochzeitsreise sind. Ich finde es erholend in meiner Ecke als stille Zuschauerin. Niemand hält mein Kleid fest, niemand will Geld von mir haben, ich bin hier Gast der Legationsrätin. Wenn der Stein in meiner Brust nicht wäre und das Klopfen meines Herzens, das immer pocht: Ben, Ben, wäre ich sogar glücklich. Um vier Uhr erscheint die Musik, ein kleines Orchester, Geigenstimmen, ein Klavier. Sie spielen eine Sarabande von Bach. Wie gern würde ich hierbleiben in dem hohen, warmen schönen Raum, der Kellner baut schon die Teetische neben mir auf, die sanft beschirmten Lampen brennen, aber ich muss zu diesem Tee.
Es ist schauerlich kalt.
Ich habe leider keinen Pelzmantel mit, den hat meine Margot bekommen, und aus meinem Wintermantel hab ich Ullas Kleinen warme Mäntelchen gemacht. Ich habe nur einen schwarzen Sammetmantel mit, durch den der Wind bläst wie durch Papier, und mein Jackenkleid, das zwar immer noch gut aussieht, denn es hat einen Schnitt, der Zeit und Moden überdauert, ich trage es seit zwanzig Jahren, hat nur den einen Nachteil, es hält nicht warm, und meine weiße Seidenbluse ist auch nicht gerade warm. Es war natürlich auch nicht das Richtige. In der Garderobe ordnen sich die jungen Frauen in langen, schwarzen Nachmittagskleidern ihre Locken vor dem Spiegel. Sie tragen winzige Hütchen aus Pelz, die wie ein Nest auf den Locken sitzen, reizende Gebilde aus Sammetblumen, und Halbschleier, die so gut kleiden zu dem siegellackroten Mund und den fein gemalten Augenbrauen. Im Salon empfängt mich ein Stimmengewirr und ein Gedränge von Menschen um ein Teebüfett, das in der Mitte des Raumes steht mit Kuchen, Gebäck und bunten Brötchen. Ein schwarz gekleidetes Mädchen gießt Tee am Samowar ein, man steht herum, die Teetassen in der Hand.
Die hübsche, schlanke Legationsrätin begrüßt ihre Gäste. Es ist ein Kommen und Gehen. Manche bleiben nur eine Viertelstunde, sie müssen noch weiter zu anderen Tees, zur japanischen oder bulgarischen Gesandtschaft. Die meisten behalten ihre Handschuhe an, niemand scheint Zeit zu haben, sich auch nur zu setzen. Ich werde vorgestellt. Ein flüchtiger Blick, ein Händedruck, eine Verbeugung, ein Handkuss, ein paar Worte. Man spricht von der Hochzeit, wie reizend es gestern war, und das gute Diner! Die Blumen! Das ganze Zimmer steht noch voller Rosenkörbe und Nelken in hohen Vasen und Orchideen in Kristallschalen. Blumenduft, Parfüm, Zigarettenrauch, Tee. Mir wird immer schwindlig, wenn ich unter so vielen Menschen bin. Ich suche einen Platz auf einem Sofa zwischen zwei älteren Damen. Sie sprechen über Bertie, der vom Pferd gestürzt ist, von einer Wanda, die wieder erwartet, und von einem Umzug von einem Gut bei Neustrelitz nach Berlin. Sie bezeugen keine Lust, sich mit jemand zu beschäftigen, den sie nicht kennen, der nicht interessant aussieht und mit seiner Teetasse dasitzt und lächelt … Ich lächelte, bis ich glaubte, dass mir dieses Lächeln auf dem Gesicht stehen bleiben würde, wie eine Maske …
Die Hausfrau kommt zu mir und gibt mir meine Theaterkarte und fragt, ob ich alles gehabt hätte? Sie ruft ihre Meta und lässt mir frischen Tee bringen und Nusstorte und entschuldigt sich, dass sie sich so wenig um mich kümmern könnte. «Aber Sie kommen gewiss später einmal wieder her … Ja, ich komme, Auguste … Sie wollen schon gehen? Viel Vergnügen heut Abend», nickt sie mir zu. Und dann ist sie wieder bei ihren Gästen. Man meldet meinen Wagen, und ich gehe, ohne Abschied zu nehmen, denn das ist unmöglich in dem Gewühl von Menschen. Ich fahre durch eine dunkle Stadt. Nur der Schnee leuchtet weiß. Ich kann nichts sehen als abgeblendete Laternen und ab und zu die große weiß behandschuhte Hand eines Schutzmannes. Eine halbe Stunde später sitze ich im Parkett des Theaters, der Vorhang teilt sich, ich bin im Garten von Aranjuez. Auf einer Steinbank liegt der junge Prinz, missmutig, der Welt und den Zuschauern den Rücken zugekehrt …
Dieser Don Carlos hat mich nicht sehr begeistert. Er ließ mich ganz kalt. Lag’s an dem Spiel oder an der neuen Ausstattung? Ich weiß es nicht. Es kam mir alles etwas kahl und nüchtern vor, und ich muss sagen, dass mir ein einfacher Provinz-Don-Carlos lieber ist als dieser künstliche kalte. Und von der Prinzessin Eboli, einer Dame mit einer Stumpfnase und einem unspanischen Profil, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie spanische Männer bezaubert hat. Ich fuhr durch das verdunkelte Berlin zurück. Noch eine Nacht in meinem stillen, schönen Zimmer, noch ein behagliches Frühstück im Bett, dann stehe ich in der Bahn. Ich fahre dritter Klasse zwischen Soldaten und ihrem schweren Gepäck.
Ich ging vom Bahnhof gleich heraus zu Ulla. Sie stand in der Küche, das Haar mit Seifenflocken bedeckt, und wusch. Ulla wäscht immer sehr stürmisch. Die Kleinen krabbelten um sie herum und fragten, was ich ihnen mitgebracht hätte. Eine Frage, die bei mir früher verboten war, aber das ist die alte Schule. Leider hatte ich ihnen nichts mitbringen können von dieser Hochzeit.
«Du, Mama», sagt Ulla zwischen meinem Bericht, «das kannst du mir alles später erzählen, wir haben kein Brot mehr im Haus. Kannst du nicht zum Bäcker laufen und eins holen? Und bring auch sechs Schrippen mit, die Brotkarten liegen im Küchenschub. Und Haferflocken, wenn der Bäcker welche hat, brauchen wir auch.» Ich nahm die große Wachstuchtasche und machte mich auf den Weg. Am Abend, als die Kinder in den Betten lagen und wir das Geschirr abwuschen, sagte mir Ulla, dass sie wieder in Umständen sei.
Ich habe ihr nichts weiter von Dieters Hochzeit erzählt. Ich hatte das Gefühl, als wollte sie nichts davon hören. Ich war heute Morgen zur Steuer bestellt und musste dort eine Stunde warten. Da ich nicht viel zu versteuern habe, ging es dann rasch. Auf dem Rückweg ging ich zu meinem Arzt. Es ist nicht mehr der alte Sanitätsrat, es ist nur noch sein Haus. Sein Nachfolger ist jung und hält sich nicht lange mit Untersuchungen auf. Es sind viele Menschen in seinem Wartezimmer. Man bekommt eine Nummer, nach der man aufgerufen wird. Der neue Doktor ist kurz angebunden und ziemlich trocken.
Als ich ihn fragte: «Wie lange glauben Sie, dass mein Herz das noch aushält?», stellte er sein Hörrohr weg. «Das wird ganz auf Sie ankommen», meinte er, und ich musste an die junge Frau denken, die vor einer Operation am Knie den Chirurgen ängstlich fragte: «Wird man das später auch nicht sehen?», und er ihr zur Antwort gab: «Ja, das wird ganz auf Sie ankommen, gnädige Frau!» So wird es auch mit meinem Herzen sein. Wenn ich alles befolge, was er mir riet: Ruhe, viel liegen, wenig Bewegung, Aufregungen vermeiden, mal verreisen, ein anderer Himmelsstrich, Luftveränderung, freundliche Eindrücke, eine Badekur in Nauheim oder Kudowa, werden die Schmerzen und Stiche und das «verästelte Baumgefühl» in meiner Brust vielleicht aufhören. «Wo gehen Sie gewöhnlich zur Erholung hin?», fragte er mich. Ich sagte ihm, dass ich nirgendwo hinginge. In zwanzig Jahren, seit ich in dieser Stadt lebe, war ich zweimal in Dresden bei Tante Constanze, einmal zehn Tage in Frankreich zum Friedhofsbesuch und einmal im Regen in Irland. Das kann man nicht gerade zu den Erholungsreisen rechnen. Er gab mir Schlafmittel und Beruhigungstropfen, und die nächste Nummer wurde aufgerufen.
Im Herbst, als ich Ullas Garten aufräumte und die Sträucher beschnitt, fand ich mich plötzlich auf einem eisernen Gartenstuhl sitzen, an die Mauer gelehnt, die Gartenschere im Schoß und ein Bündel Reisig zu meinen Füßen. Ich weiß heute noch nicht, wie ich dahin gekommen war. Ich fange doch allmählich an, mich für eine Lebensversicherung zu interessieren.
Als ich dann die Bedingungen erfuhr, merkte ich, dass mir diese Weisheit zu spät gekommen war. Aber früher hätte ich die Beiträge sowieso nicht bezahlen können, und jetzt sind sie für mich zu hoch.
Ich glaubte einmal, es sei schwer, alt zu werden. Das ist nicht wahr. Wir werden alle einmal alt. «Un peu plus tôt, un peu plus tard, qu’importe», sagte der alte Dubarry, als er abgeholt wurde vom Henker.
Als mich der Steuerbeamte fragte, weshalb ich meine Erklärung so und nicht so abgegeben hätte, wie es richtig wäre, fragte ich ihn, ob er schon einmal umgezogen sei? Er sah mich erstaunt an …
«Ja, mein Herr», sagte ich. «Bei diesen Umzügen habe ich mein Gedächtnis eingebüßt.» Man büßt ja immer etwas ein bei Umzügen. Keinesfalls gewinnt man etwas dabei. Ich bin auch nicht reicher davon geworden.
Ich habe nie recht verstanden, weshalb man sich dazu beglückwünscht, auf die Welt gekommen zu sein. Aber man tut es, die Sitte ist noch nicht abgeschafft. Ich habe also Geburtstag, und man beglückwünscht mich dazu … Ich habe ein paar Gäste dazu geladen, nicht viele, nur so viele, wie in meine kleine Wohnung gehen. Die beiden Professorenfrauen aus der Nachbarschaft, die ich aus den Museumskonzerten kenne, Ulla und Onkel Dolf, der von der Hochzeit hören will. Ich habe eine Kriegstorte gebacken und Brötchen gemacht (meine Fleischration für eine Woche). Das Beste dem Gast, sagt der Orientale. Mein Geburtstag begann mit einer Überraschung. Als ich morgens meinen Achtelliter Magermilch holte, gab mir der Postmann eine kleine Kiste, auf die ein Glas gemalt war. «Vorsicht, zerbrechlich!» Ich glaubte schon, sie käme von Tante Constanze, aber als ich sie öffnete, fand ich eine rote Vase darin von sehr schöner Form, auf der die Nummer eins klebte. Ich zerbrach mir den Kopf über den geheimnisvollen Absender, bis die Morgenpost mich darüber aufklärte. Sie kam von einem rheinischen Verlag, der mich einmal vor längerer Zeit aufgefordert hatte, mich an einem Preisausschreiben zum Muttertag zu beteiligen. Da ich nichts anderes dahatte, schickte ich ihnen das Gedicht «An eine Mutter», und damit habe ich den ersten Preis bekommen, die rote Vase. Es war mein erstes Gedicht und ist sicher mein letztes, denn ich habe das Dichten aufgegeben. Die rote Vase habe ich mit frischen Tannenzweigen und Ebereschen gefüllt, sie steht auf meinem Geburtstagstisch, auf dem die Briefe meiner Kinder und Freunde liegen. Von Mary kam nur ein kurzer Gruß. Sie ist wieder in München, ihr Freund ist gefallen im Osten. Sie trägt es mit der Resignation gesunder Menschen.
Der Inder hat recht gehabt … Ihre Freiheit hat sie erlangt durch ein Wunder. Aber sie hat lange auf dieses Wunder warten müssen.
Der erste Gast, der zu meinem Geburtstagskaffee erschien, ist die Korzfleisch. Festlich in schwarzer Seide, neuer Winterhut, schwarze Glacéhandschuhe und eine blaue Hyazinthe im Arm «fors blaue Zimmer». Sie ist etwas früher gekommen als die andern, um von der Hochzeit zu hören, vom Essen und den Kleidern und wie das Brautpaar ausgesehen hat, und was sie in Berlin treiben.
Um vier Uhr kamen mit der Pünktlichkeit der Könige die anderen Damen, zwei Professorenfrauen. Man ist jetzt pünktlich, wenn man eingeladen ist. Es sind nette Damen, einfach und hilfsbereit, wir kennen uns vom Luftschutzkeller. Sie wohnen in der Nähe. Um halb fünf kam Ulla angejagt, die erst ihre Kinder bei einer Freundin unterbringen musste, und zuletzt wuchtet sich Onkel Dolf die steile Treppe herauf. Er schimpft schon, ehe er sichtbar ist, laut über die glatt gewichsten Treppen seiner Feindin, der Schmeckebier. «Hätt sie nicht einen Läufer hinlegen können, die alte Hexe? Ich hätt mich fast auf den Hintern gesetzt und mir ein Bein gebrochen. Aber das wäre sie teuer zu stehen gekommen!» Seine gewaltige Gestalt ist fast zu groß für mein niedriges Zimmer. Er hatte sich festlich angezogen, schwarzer Cut, gestreiftes Beinkleid, hellgrauer Schlips mit der großen Perle, eine Blume im Knopfloch, frisch gescheitelt vom Friseur. Er wird vorgestellt. Die Korzfleisch reicht ihm huldvoll die Hand: «O, der Herr Stadtrat in eigener Person!» – «O, Frau Adele Korzfleisch in höchsteigener Person!», erwidert Onkel Dolf. Dann sucht er sich eine Sitzgelegenheit aus, von der er hofft, dass sie sein Gewicht aushält, und zieht sich in meinen Ohrensessel zurück. Ich gieße Tee ein, Ulla reicht die Kuchenteller und Toast (meine ganze Wochenration Brotmarken), und wir machen Konversation. Es ist etwas schwierig wegen der Zusammenstellung meiner kleinen Gesellschaft. Es fehlt nur noch Herr Ying. «Eine Lautenborn’sche Gesellschaft», bemerkt Onkel Dolf, als ich ihm seinen Tee eingieße. Die Geheimrätin Lautenborn war nämlich dafür bekannt, dass sie sehr gute Diners gab, aber die Zusammenstellung ihrer Gäste war immer etwas sonderbar. Sie pflegte nämlich ihre Gäste morgens im Bett telefonisch einzuladen, und zwar nach dem Alphabet, nicht wie sie zusammenpassten, so fanden sich bei ihr die merkwürdigsten Menschen, die sich noch nie gesehen hatten oder sich nicht mehr sehen wollten, sich aus dem Wege gingen, sich hassten, an ihrer Tafel ein. Frau Korzfleisch, die alle aufregenden Ereignisse der Stadt und Umgegend sammelt, gibt das Unglück eines Metzgermeisters zum Besten, der in seinem Laden über ein Rosenblatt ausgeglitten ist und sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hat.
«Über ein Rosenblatt, Herr Stadtrat!»
«Wie kommt denn der Metzgermeister zu dem Rosenblatt?», fragt Onkel.
Und der Landrichter, der bei ihr im ersten Stock wohnt, der immer auf alle Berge rannte und gerade vom Großglockner oder wie der Berg hieß, heimgekommen war, setzt sich in seine Badewanne und bricht sich das Bein. Sie hatten sie zur Hilfe gerufen, denn die Frau war natürlich kopflos …
«Furtwängler war doch neulich wieder hinreißend», sagt Frau Professor Ernst zu mir. «Die Neunte – unvergleichlich! Welcher Schwung. In Paris soll er damit Stürme des Beifalls geerntet haben. Sie kennen ja Paris?»
«Nur sehr oberflächlich, ich war mal auf der Hochzeitsreise drei Tage da», sage ich.
«In drei Tagen kann man viel sehen», sagt Frau Professor Sturmband. «Mein Mann war mal drei Tage in New York. Was der dort alles gesehen hat! Man muss nur verstehen zu reisen!»
Sturmbands fuhren jedes Jahr nach Engelberg, sie haben von Luzern aus herrliche Alpenwanderungen gemacht. Sie beschreibt einen Sonnenaufgang auf dem Rigi. Onkel Dolf wirft einen Blick zur Decke. Frau Korzfleisch wartet mit Begierde darauf, in die gebildete Unterhaltung einzugreifen. Frau Ernst schildert eine Sturmflut in Binz, die sie im Sommer mitgemacht hat.
«Binz», hakt Frau Korzfleisch ein, «das ist doch da, wo immer so viele Menschen ertrinken?»
«Warum ersaufen die?», regt sich Onkel Dolf in seiner Ecke. «Na, weil sie ins Meer gehen und können nicht schwimm’. Da ist doch vor zwei Jahren das schreckliche Unglück passiert mit den Ehepaar aus Klein-Machnow! Also, bassen Sie mal auf. Die war’n in Binz, und die Frau konnte nich schwimm’; aber die musste partout jeden Tag ins Wasser, und der Mann natürlich mit. Und der konnte ooch nicht schwimm’! Ich kann ja ooch nicht schwimm’! Aber ich geh ja ooch nicht ins Wasser. Aber die Frau musste rein, und an einem Tag, wo Sturm war und haushohe Wellen. Und kaum war sie drin, war sie fort. Der Mann machte gleich hinterher. Und fort war der auch. Und dann ist noch ein Student hinterhergemacht, den ham die Wellen ooch verschlungen. Und am Ufer lief die alte Mutter mit gerungenen Händen wie eine Verrückte hin und her.»
«Konnte die Alte ooch nicht schwimm’?», fragt Onkel Dolf und rührt in seiner Tasse.
«Aber, Herr Stadtrat, eine Frau von achtzig Jahren! Sie sind alle drei ums Läm’ gekommen, an einem Sonntagmorgen. Aber mein Mann sagt immer, Wasser hat keine Balken, aber die Menschen ham ja keine Vernunft. Wenn ich denke, was bei uns alles passiert, die Unglücke am Wehr! Wie oft hat unser Ben da drin gelegen, und der Dieter erst mit seinen Freinden. Die wärn schon mehr als einmal fast ertrunken. Wen unser Wehr einmal zwischen den Zähnen hat, den gibt’s nicht wieder her.» Und sie hält mir zum dritten Mal ihre Tasse hin.
«Und der Bäckermeister aus Niederitzsch zum Beispiel voriges Jahr, bassen Sie mal auf.» («Na, wie wir schon aufpassen», knurrt Onkel in seiner Ecke.) «Es hat ja in unserer Zeitung gestanden. Der musste auch baden gehn mit seinen 300 Pfund. Weil’s ihm heiß war, zog er sich aus und ging ins Wasser, und kaum war er drin, Herzschlag, und aus war’s. Ja, ja, die Dicken stehen immer mit einem Bein im Grabe.»
«Oliva, hast du nicht ’nen Kognak da oder so was Ähnliches?», fragt Onkel aus seiner Ecke. «Ich trinke gewöhnlich Rum mit Tee, aber nicht umgekehrt. Ja, ja, Frau Korzfleisch, wir beide können keine Mondscheinpartien mehr auf dem Wasser machen. An uns würde sich kein Student mehr die Rettungsmedaille verdienen … Na los, Oliva, nur nicht so schüchtern», sagt er, als ich mit der Kognakflasche ankomme. «Nur zu …»
«Ich danke», betont Frau Korzfleisch und hält ihre Hand über die Teetasse. «Sonst mit Vergniegen, aber im Kriege alles nur fürs Vaterland. Ich halt mich an den Dee. So ’ne gute Dasse Dee macht einen gleich munter … Den haben Sie sicher von dem Chinesen?»
«Nein, von Dr. Stetten.»
«Was ist denn eigentlich aus dem geworden?», fragt Onkel.
«Ich weiß nicht, Onkel. Ich habe nichts mehr von ihm gehört …»
Alle sehen mich an, auch Ulla, und ich werde lächerlicherweise rot. Die Korzfleisch lenkt das Gespräch auf ein näherliegendes Gebiet und gibt das Rezept meiner Torte preis, zu der sie die Eier beigesteuert hat. «Ja, wenn man Beziehungen zum Lande hat …»
«Wie viel Eier ham Sie sich denn schon zusammengehamstert?», erkundigt sich Onkel.
Die Korzfleisch tunkt ihre Brezel in den Tee … «Ich? Kein einziges. Ich bekomm sie geschenkt, und was ich habe, das teile ich mit anderen. Darin bin ich nicht wie die meisten Leute, die alles für sich behalten und niemand was gönnen.» (Wie er und seine Nachtigall, von der man nie was bekommt.)
Die Professorenfrauen staunen, dass es so edle Menschen gibt, die andern die Eier ins Haus bringen und nichts dafür nehmen. Und dann muss die Korzfleisch noch eine unerhörte Angelegenheit loswerden von den zwei Studenten und den jungen Damen aus den feinsten Familchen, «die Sie alle kennen», aber sie will ihre Namen nicht nennen. Sie wohnen im Villenviertel am Zoologischen, die angetroffen worden sind von der Nachtstreife im «Schwarzen Kater», nachts um halb drei!»
Entrüstung bei den Damen. Onkel Dolf regt sich in seiner Ecke.
«Was haben sie denn auf einmal gegen den ‹Schwarzen Kater›, Frau Korzfleisch?», fragt er. «Ich denke, da sind Sie früher auch nicht ungern hingegangen.»
«Ich?!» Frau Korzfleisch sitzt kerzengerade auf dem Sofa. Wie eine Königin thront sie da, in ihrem schwarzseidenen Kleid, das prall ihren Busen umspannt. «Ich? In den ‹Schwarzen Kater›? Herr Stadtrat, ich glaube, Sie irren sich!»
«Ich irre mich nicht, ich hab nur ein gutes Gedächtnis … Wir beide haben doch manchen Walzer dort geschwungen. Sonntag abends … Frau Adele Korzfleisch war nämlich eine flotte Tänzerin, um die haben wir uns gerissen … Wir zwei haben eine Polka hingelegt, da blieb alles stehen, um zuzusehen. Wissen sie noch? Polka, Polka tanz ich gern, aber nur mit jungen Herrn …»
Die andern lächeln, Frau Korzfleisch ist rot geworden, der Falter auf ihrem Busen wiegt sich unruhig hin und her.
«Sollten Sie das vergessen haben, gnädige Frau?» Onkel grinst sie ein Satan in seinen grauen Spitzbart. Er sitzt da, massiv, seinen Sessel füllend, dreht die Daumen umeinander und bläst eine Rauchwolke aus seiner Zigarre, die er sich mitgebracht hat.
Aber Frau Korzfleisch ist nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. «Der Herr Stadtrat ist heute ja so gut aufgelegt», meint sie und geht dann zu den Kriegsrezepten über. Onkel Dolf erhebt sich und verabschiedet sich mit einer galanten Verbeugung von den Damen.
«Wie bist du nur darauf gekommen, das Weib einzuladen?», fragt er mich draußen in der Diele, als ich ihm in seinen Mantel helfe.
«Ja, Onkel, ich wusste ja nicht, dass ihr euch kennt.»
«Die kennt doch die ganze Stadt, außer dir vielleicht.»
Er setzt den steifen Hut auf und kramt aus seiner alten Brieftasche ein paar Scheine hervor. «Da, meinen Obolus. Hätt’s fast vergessen über dem Geschwätz.»
Onkel hat eine reizende Art, einem Geschenke zu überreichen. Es ist immer, als ob uns jemand widerwillig eine Schuld bezahlt. Aber in diesem Fall freut es mich doch, denn die Reise nach Berlin hat mich allerlei gekostet, trotzdem ich dritte Klasse gefahren bin und im Gang gestanden habe.
«Danke sehr, Onkel …»
«Am Sonntag haben wir ’ne Ente. Hab was geschossen, neulich auf der Jagd. Kannst dich dazu einfinden.»
Der Depeschenbote unterbricht uns … Er überreicht mir ein Telegramm. Ich reiße es auf. «Heute Morgen ein prächtiger Junge angekommen, Margot …»
«Na, das ist wenigstens eine erfreuliche Nachricht», sagt Onkel, «Buben können wir gebrauchen.»
Und schimpfend über die glatt gewichste Treppe der Schmeckebier stampft er, sich am Geländer festhaltend, die Treppe hinunter. Die Damen brechen nun auch auf. Ulla muss zu ihren Kindern. Die Korzfleisch hat etwas von Voralarm gehört. Sie machen sich auf den Weg mit ihren Taschenlampen durch die finstere Stadt. Ich schließe die Tür hinter ihnen … Die Gesellschaft ist aus, ich bin allein.
Ich räume das Teegeschirr fort und zünde meine Schreibtischlampe an mit dem zarten blauen, chinesischen Schirm. Jetzt wäre die Stunde gekommen, meinen Flügel aufzuschlagen … Aber mein Flügel ist nicht mehr da … Lisa schrieb, er habe doch sehr im Ton gelitten auf der kalten Reise, sie würde ihn, mit meiner Erlaubnis, gegen einen neuen umtauschen. Sicher ist er es schon, sie haben mir nur nachträglich davon Mitteilung gemacht … In welchem öden Vorstadtsaal mag er jetzt stehen, mein alter Flügel, unter welchen Händen ertönen? Er war so gewöhnt an mich, an meinen sanften Anschlag, es hat ihn kaum ein anderer Mensch je gespielt … Wer wird ihn heute spielen? Ein Kaffeehauskünstler, der Begleiter einer Damenkapelle? Wenn ich ein Radio hätte, würde ich mir jetzt etwas vorspielen lassen, aber ich habe keins mehr bekommen. Die Volksempfänger sind ausverkauft …
«Nach dem Krieg», sagte der alte Großvater im Laden, «kommen Sie noch mal ran. Dann sind vielleicht wieder welche da.»
Die Straßen sind schwarz wie der Himmel, die Häuser und alles. Wir sitzen in unseren Häusern und warten auf das erste Heulen der Sirenen. Sie waren schon öfters da, die Engländer, wir haben manche Nacht im Luftschutzkeller zugebracht. Er ist ganz gemütlich eingerichtet in unserem Haus. Er liegt neben der Heizung. Wir haben alle Liegestühle dort mit warmen Decken, und wenn es lange dauert, spiele ich mit dem Nervenarzt Mühle. Es ist der nervöse Herr, der so lange Nervenarzt war, bis er selbst Nerven bekommen hat. Oder seine Frau liest uns eine Geschichte vor, die vor hundert Jahren bei einer Sturmflut auf Sylt gespielt hat. Das ist beruhigend, weil es so lange her ist. Heut scheinen die Flieger nicht zu kommen, denn es bleibt alles ruhig. Ich habe keine Angst, ich bin Fatalistin geworden. Ich sitze bei meiner abgeblendeten Lampe am Schreibtisch und sehe meine Post durch, wozu ich heute noch keine Zeit gehabt habe. Mary schreibt aus dem Sporthotel in Oberhof. Sie hat sich dort mit einem Major aus Baden-Baden verlobt. Sie wollen sich in diesen Tagen trauen lassen, sie hofft, ich werde sie bald einmal in ihrer dortigen Villa besuchen. Sie liegt so schön, und der Schwarzwald ist so nahe. Sie ist ruhig geworden über den Tod ihres Freundes, der vor Warschau als Hauptmann gefallen ist, nachdem ihr Weg endlich frei geworden war. Glückliche Menschen, die vergessen können. Aber Mary ist Rheinländerin. Sie schickt ihr Bild mit, sie sieht darauf schlanker und jünger aus als je, fast wie ein junges Mädchen, und sehr reizend in ihrer kecken Pelzmütze.
Von Dieter kam ein Telegramm aus Frankfurt an der Oder. Er hat mich über seinem Glück nicht vergessen … Auch Margots Mann gratuliert. Er ist auf ein paar Tage nach Gießen beurlaubt, er kam gerade an, als der Junge einpassierte. Tante Constanze schickt eine Ansichtskarte aus Gastein, auf der das Bad aussieht wie eine amerikanische Wolkenkratzerstadt, auf Felsen erbaut. Und dann wurde noch am späten Abend ein Korb aus einer Blumenhandlung geschickt, den die Wirtschafterin der Frau Schmeckebier heraufbrachte. Lauter rote Rosen, wie immer. Es liegt keine Karte des Absenders bei, aber ich weiß, von wem sie kommen. Der Korb kommt an jedem Geburtstag. Die Rosen stehen vor mir, und ihr zarter Duft weht mich an. Das ist schön, viel schöner als alle Geschenke. Er denkt doch noch an mich in der Ferne … Er lebt also noch, und vielleicht, vielleicht wird er eines Tages wiederkommen und vor meiner Türe stehen … Aber dann werden wir beide alt sein. Er und ich …
Das Alter hat auch seine Vorzüge. Man ist ruhig und abgeklärt, die Wünsche sind schlafen gegangen und eingesargt. Man weiß, dass nun nicht mehr viel kommen wird, und sieht dem, was kommt, gewappnet entgegen. Es kann uns nicht mehr überfallen, nicht mehr erschrecken …
Ich kann mit gutem Gewissen dem Tag entgegensehen, an dem man mich zur Rechenschaft fordern wird. Ich habe meine Schulden abgetragen, ich habe alles hergegeben, was mir lieb war, meine Musik, meinen Flügel, meinen warmen Pelzmantel, meine Wohnung und meine Bilder. Ich habe nur noch mein blaues Zimmer mit den großblumigen, hellen Sesseln, auf denen er so gern saß und zuhörte, wenn ich Schumann spielte …
Die Gräber kommen nun auch dran. Der alte Friedhof wird abgetragen, die Grabsteine kommen fort. Es soll ein Fußballplatz hinkommen. Wohin die Gräber an der Mauer kommen, weiß ich nicht … Ich ging am Abend, eh ich meine Wohnung verließ, noch einmal dort hin und legte einen großen Blumenstrauß auf das Grab an der Mauer. Ich stand lange davor … Hans Dankwarth … Warum? … Wenn ich abends still daliege und alles ist dunkel um mich, denke ich über manches nach, was mir Stetten erzählte an jenem Winterabend. Aber ich komme immer wieder darauf zurück: Ich kann ihm keine Schuld geben. Und doch ist er ein Mörder.
Ich habe kürzlich im Luftschutzkeller einen Staatsanwalt getroffen. Er saß die ganze Nacht neben mir auf einer Kiste. Und er entwickelte mir ähnliche Fälle aus seiner Praxis, wo man auf Indizienbeweise hin die Menschen jahrelang im Zuchthaus behielt, bis dann schließlich der wirkliche Täter auftrat und seine Schuld gestand … Und es gab Fälle, wo der Täter schon gestanden hatte und abgeurteilt war, und plötzlich ein anderer erschien, der sich derselben Tat beschuldigte. Aus Verrücktheit, aus Großmannssucht, aus Hysterie … Und man hatte auf einmal zwei Mörder. «Ich erinnere mich zum Beispiel eines merkwürdigen Falles, der bis heute noch unaufgeklärt ist, den ich als junger Richter hatte», erzählte er. «In einer kleinen Stadt wird in einer Villa eine junge Frau erschossen aufgefunden von ihrem Personal nach einer Gesellschaft … Niemand wusste, wie es geschehen war, denn es war niemand im Haus als die Frau. Der Mann hatte bei einem Freund am Bahnhof übernachtet. Die Mädchen hatten nichts gehört, die im Chauffeurhaus schliefen. Das Haus lag einsam am Wald, der Täter hatte es leicht einzusteigen. Niemand hat ihn gesehen, die Tat war zwischen drei und vier nachts verübt worden. Warum, weiß kein Mensch, denn es wurde nichts geraubt.»
«Und es ist nie herausgekommen?», fragte ich, während mir die Kehle plötzlich eng ward.
«Nein, nie. Man nahm erst Selbstmord an, aber der Schuss in den Spiegel, den die Frau aus ihrer Pistole abgegeben hatte – die Waffe lag neben ihr –, deutete darauf, dass jemand eingestiegen sein musste, gegen den sie einen Schuss abgab, worauf der Unbekannte ihr wohl die Waffe entrissen haben musste und sie damit getötet hat …»
«Und der Mann?», fragte ich.
«Der war ja die Nacht bei seinem Freund. Es war eine glückliche Ehe, es bestand kein Grund, die Frau umzubringen. Aber ganz geklärt wurde dieser Fall nie. Ja, meine verehrte Frau, das Leben gibt mehr Rätsel auf, als wir erfinden könnten», sagte er und putzte seine Brille …
«Seltsam», sagte ich.
«Ja, sehr seltsam. Ich habe nicht oft einen ähnlichen Fall in meiner Praxis erlebt. Es sind die sogenannten interessanten Fälle, die die Herren Mediziner so schätzen.»
Ich bin kein interessanter Fall, Herr Staatsanwalt. Mein Leben war schrecklich banal.
Die Hauptmannsfrau in der Heidukstraße mit den vielen Kindern … Die Dame in dem grünen Kleid, die niemand kannte, auf der Hochzeit in Berlin, die immer dasaß und lächelte. Ich habe über zehn Jahre in dieser Straße gewohnt. Zehn Jahre haben mich die Menschen dort ein und aus gehen sehen. Haben sie sich Gedanken über mich gemacht? Ich glaube kaum … Nun bin ich weg, verschwunden aus ihrem Gesichtskreis. Sie sehen mich nur zuweilen, wenn ich zu Ulla gehe, aber zu ihr werde ich auch nicht mehr lange gehen, denn, wenn der Krieg aus ist und Heinz ist zurück, wird Vater Frosenius ihnen ein Häuschen in der Heide bauen. Ullas Traum … Dann werde ich ganz verschwinden, dann kennt mich niemand mehr, denn in der Friedenstraße kümmert sich keiner um den anderen.
Ich bin dieser Tage einmal in der Dämmerung zu meinem Arzt gegangen, aber als ich hinkam, hing eine Tafel an seiner Haustür: «Wegen Einberufung geschlossen.»
Ich ging wieder nach Hause. Es ist auch einerlei, ob man weiß, wie lange es noch dauert. Jeder Tag ist ein Geschenk, jeder Frühling ein Wunder, jeder Sonnentag ein Glück.
Ich sah einmal in einem alpinen Museum in Zermatt, am Fuß des Matterhorns, ein dickes Bergseil, das mitten durchgerissen war. Es lag da, wie eine Schlange gekrümmt zwischen blutbefleckten Taschentüchern und zerbrochenen Bergstöcken der Abgestürzten. Es war für die Ewigkeit gemacht, aber eines Tages riss es doch. Es hat vier Bergsteigern das Leben gekostet.
Eines Tages reißt es eben …
Manchmal, wenn ich dasitze des Abends in meiner stillen Wohnung, versunken in Gedanken, träume ich, ich wäre wieder jung und meine Kinder noch klein, und ich müsste alles noch einmal durchmachen. Und wenn ich dann aus diesem Traum erwache, bin ich froh, dass es nur ein Traum war. Jeden Abend, wenn ich mich hinlege, denke ich, es wäre schön, hinüberzuschlafen in das fremde Land, aus dem noch niemand wiedergekommen ist.
Einst wird kommen der Tag, auch für mich …
Ich wäre nicht unglücklich. Ich habe das Glück genossen, geliebt zu werden, ich hatte meine Kinder. «Meine Schmerzen haben herrliche Früchte getragen.» Sie sind bis auf den armen Ben alle durchgekommen, nun kann ich ausruhen … Ich liebe das Leben, die sonnigen Morgen, wenn ich die Fensterläden öffne, die Gärten im Morgentau, im frischen Frühlingsgrün, im sommerlichen Glanz oder im bunten Herbstlaub und im weißen Winterkleid, wenn die Bäume von Raureif glitzern. Ich hatte meine Musik. Und vieles, was ich erlebt, war schön … Aber ich möchte es nicht noch einmal durchmachen …
Ich bin zu Ende. Ich schließe mein Tagebuch und drücke mein Siegel drauf. Was nun kommt, wird des Erzählens nicht mehr wert sein. Wenn meine Kinder es einmal finden, werden sie vielleicht verwundert sagen: Das war unsere Mutter? Wo hat sie nur die Zeit hergenommen, das alles zu schreiben?
Aber, ich weiß nicht, ob sie die Zeit finden werden – es zu lesen.
Ende.