Reiko grummelte noch ein bisschen, kletterte schließlich aber auf Ferns Rücken, und ich stieg auf Grimleys. Dann hoben die Gargoyles mit sanften Flügelschlägen ab.
Ich lehnte mich zur Seite, um die leuchtenden Gärten unter uns zu bewundern. Mit Muschelschalen bestreute Pfade zogen sich wie weiße Bänder durch grün leuchtende Rasenflächen. Lauben aus grauem Stein, die überwuchert waren von pinken, purpurfarbenen und blauen Glyzinen, standen neben den riesigen Eichen, denen das Tal seinen Namen verdankte. Der Wind bewegte mein Haar und trug die süßen Düfte der farbenfrohen Blüten in den Blumenbeeten zu mir empor, gemeinsam mit dem erdigen Geruch der Herbstluft. Der Himmel war strahlend blau, und die Oktobersonne verlieh dem Tag trotz der kühlen Luft etwas Wärme.
Nie war ich glücklicher, als wenn ich auf Grimleys Rücken über den Himmel segelte, während die Landschaft sich vor mir erstreckte wie ein Teppich vor den Füßen einer Königin. Und das Schönste war: Hier oben gab es keinen Speisesaal voller arroganter Adeliger, tratschender Diener und gelangweilter Wachen, die in ihren Köpfen Urteile über mich fällten, weil sie dachten, so könnte ich es nicht hören. Derzeit schätzte ich Ruhe mehr als je zuvor – nicht zuletzt wegen der ständigen Unruhe in meinem eigenen Geist. Also hob ich das Gesicht der Sonne entgegen, atmete tief durch und genoss jede Sekunde unseres Fluges.
Die Gargoyles brauchten nicht lange, um erst über die Steinmauern zu fliegen, die Lord Eichens Anwesen umgaben, und dann über die nahe gelegene Stadt Haverton. Auf den Plätzen unter uns erkannte ich das normale Treiben eines geschäftigen Ortes. Niemandem schien aufzufallen, dass wir über den Köpfen der Leute schwebten. Andererseits gab es auch keinen Grund, darauf zu achten, schließlich flogen ständig Gargoyles über die Stadt, um in der Umgebung Jagd auf Ratten, Kaninchen und anderes Getier zu machen.
Bald schon lag auch die Stadt hinter uns. Grimley und Fern flogen noch ungefähr eine halbe Stunde weiter, bis ich eine seltsame Form auf dem Waldboden entdeckte. Auf einer kleinen Lichtung unter uns befand sich eine Feuerstelle. Die Asche darin wirkte fast wie der schwarze Kreis in der Mitte einer Zielscheibe.
Ich deutete nach unten. Da. Das könnte sein, wonach wir suchen.
Alles klar.
Grimley zog einen Flügel an, um in die angegebene Richtung abzubiegen. Doch statt auf der Lichtung zu landen, flog er daran vorbei. Ich nahm schon ein Risiko auf mich, indem ich den Gerüchten nachging, die ich aufgeschnappt hatte … aber ich hatte nicht vor, direkt neben der Feuerstelle zu landen. Damit hätte ich mich nur in Gefahr gebracht – vor allem, da ich nicht wusste, wie viele Mortaner sich hier vielleicht versteckten.
Ein paar Minuten später sank Grimley in einer Spirale dem Boden entgegen und landete schließlich auf einer zweiten, kleineren Lichtung. Fern und Reiko folgten uns.
Ich glitt von Grimleys Rücken. Sobald meine Füße den Boden berührten, zog ich den Dolch aus der Scheide an meiner Hüfte und sah mich vorsichtig um. Hinter der Lichtung erstreckte sich Wald, so weit das Auge reichte. Mein Atem dampfte leicht in der kühlen Luft. So hoch oben in den Nadelbergen ging der Herbst bereits zu Ende. Viele der Bäume waren bereits kahl, während einige immer noch in strahlenden Rot-, Gold- und Orangetönen leuchteten, die fast an die farbenfrohen Ballkleider adeliger Damen erinnerten.
Niemand huschte zwischen den Bäumen hindurch auf uns zu, also sah ich Reiko an, die immer noch auf ihrem Gargoyle saß.
»Du kannst jetzt loslassen«, knirschte Fern freundlich.
Reiko zuckte zusammen, als hätte die fröhliche Stimme des weiblichen Gargoyle sie aus einer Erstarrung gerissen, dann löste sie langsam ihren verkrampften Halt an Ferns Flügelansätzen und glitt von ihrem Reittier.
»Probleme?«, fragte ich gedehnt.
Reiko schüttelte den Kopf, und der grünliche Farbton um ihre Nase verschwand. »Nö.« Sie schüttelte noch einmal den Kopf, als müsste sie letzte Reste von Übelkeit vertreiben, dann zog sie ihr Schwert. »Lass uns die Mortaner suchen.«
Wir ließen Grimley und Fern auf der Lichtung zurück und drangen in den Wald vor.
Reiko und ich huschten von einem Baum zum nächsten, wobei wir darauf achteten, soweit möglich nicht auf trockene Zweige und Laubhaufen zu treten. Obwohl wir wirklich nicht lautlos vorankamen, begegneten wir niemandem und erreichten schnell die Lichtung, die ich vorhin entdeckt hatte.
Die Feuerstelle war viel größer, als sie von oben ausgesehen hatte. In der Luft hing der Geruch von verkohltem Holz. Ich rief meine Magie, auf der Suche nach flackernden Gedanken und wabernden Gefühlen, doch die Umgebung lag still und ruhig da. Ich nickte Reiko zu, und wir betraten die Lichtung.
Ich ging sofort zur Feuerstelle und legte eine Hand auf die verbliebene Kohle. Die graue Asche war feucht, was darauf hinwies, dass sich irgendjemand vor Kurzem noch hier aufgehalten hatte. Ich sah mich nach Brotresten, Stofffetzen, verlorenen Münzen oder anderen zurückgelassenen Dingen um, doch es war nichts zu entdecken – außer Stiefelabdrücken.
Davon allerdings gab es einige im weichen, feuchten Boden rund um die Feuerstelle. Ich vermutete, dass mindestens ein halbes Dutzend Leute – vielleicht sogar mehr – sich hier herumgetrieben hatten. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Das musste ein mortanisches Lager sein. Niemand aus Haverton hätte einen Grund, so weit draußen in den Wäldern zu kampieren – vor allem nicht mit so vielen Leuten gleichzeitig.
Reiko musterte die Stiefelabdrücke ebenfalls. »Was für Leute auch immer hier waren, sie haben wenig Spuren hinterlassen. Der nächste starke Regen hätte alle Hinweise weggewaschen.«
Ich wischte mir die Asche am Gras von der Hand, dann stand ich auf. »Wir sollten ihrer Fährte folgen und schauen, ob die Ratten uns zu ihrem Nest führen.«
Mit unseren Waffen in der Hand überquerten wir die Lichtung und drangen tiefer in den Wald ein.
Die Mortaner mochten zwar ihr Lagerfeuer gelöscht und ihren Müll eingesammelt haben, aber sie hatten sich keinerlei Mühe gegeben, ihre Fährte zu verbergen. Reiko und ich folgten mühelos der Spur aus Stiefelabdrücken, geknickten Zweigen und aufgewirbelten Blättern durch die hügelige, felsige Landschaft.
Ich wollte gerade die Spitze einer weiteren Anhöhe erklimmen, als Reiko mich mit erhobener Hand zurückhielt. Sie legte den Finger an die Lippen, dann deutete sie auf ihr Ohr. Die meisten Morphe besaßen überdurchschnittlich scharfe Sinne.
Ich rief meine Magie und spürte sofort mehrere Personen wie Funken in einem dunklen Raum. »Wir haben sie eingeholt«, flüsterte ich.
Reiko nickte. Wir verließen die Fährte, der wir gefolgt waren, dann schlichen wir so leise wie möglich zur Spitze des Hügels.
Die Anhöhe zog sich in einer sanften Kurve nach links, bevor der Hang zu einer weiteren, viel größeren Lichtung hin absank. Am Fuß des Hügels klaffte eine viereckige, von hölzernen Balken gestützte Öffnung im Fels. Ich konnte kein Licht in den dunklen Tiefen erkennen, doch die Öffnung war eindeutig von Menschen geschaffen.
Ich deutete darauf. »Das muss die alte Zährensteinmine sein.«
Reiko zeigte auf den Boden vor dem Eingang. »Und wenn man sich das niedergetrampelte Gras anschaut, so haben sich hier vor Kurzem noch mehrere Leute aufgehalten.«
Ihre Worte waren gerade erst verklungen, als zwei Männer aus dem Mineneingang traten. Schweigend beobachteten wir sie.
Die Männer überquerten die Lichtung und blieben neben ein paar flachen, vielleicht hüfthohen Findlingen stehen, die fast wie zusammengeschobene Tische wirkten. Die Männer trugen schwarze Tuniken, Hosen und Stiefel. Ich entdeckte keine aufgestickten Wappen auf ihrer Kleidung, doch ihre purpurfarbenen Mäntel und die Schwerter an ihren Gürteln identifizierten sie als mortanische Soldaten.
Mein Herz raste, halb vor Sorge und halb vor Aufregung. Die Gerüchte stimmten. Hier trieben sich Mortaner herum.
Beide Männer stellten je eine schwarze Ledertasche auf die flachen Felsen und machten sich daran zu schaffen. Dabei erklang mehrfach ein leises, aber klar erkennbares Klirren. Ich mochte zwar eine verwöhnte Prinzessin sein, aber Bergbau gehörte zu den Schlüsselindustrien von Andvari, und ich wusste, wie sich Steine – wie sich Erz – anhörte, wenn Brocken davon aneinanderstießen.
»Bist du dir sicher, dass das alles ist?«, fragte einer der Männer so laut, dass seine Stimme bis zu uns drang.
Der zweite Mann nickte. »Jepp. Wir haben alles bis auf den letzten Brocken eingesammelt. Lass uns verschwinden.«
Der erste Sprecher hängte sich seine Tasche über die Schulter und überquerte erneut die Lichtung. Der zweite Mann beeilte sich, ihm zu folgen, doch er hatte seine Tasche nicht fest genug verschlossen, sodass etwas daraus auf den Boden fiel. Wieder erklang dieses Geräusch, doch der Mortaner folgte seinem Freund, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich kniff die Augen zusammen, leider konnte ich aber nicht erkennen, was er verloren hatte.
Die beiden verließen die Lichtung und verschwanden zwischen den Bäumen.
Reiko und ich verharrten an unserer Position. Meine Freundin ließ den Blick wachsam über den Waldrand gleiten, während ich meine Magie aussandte. Abgesehen von den zwei Männern spürte ich keine Gegenwart in unmittelbarer Nähe. Ich nickte Reiko zu, dann folgten wir der Biegung des Hügels zur Lichtung hinunter.
Sobald wir die Mine erreicht hatten, musterte ich den Eingang, den staubbedeckten Boden und die Wände – nur für den Fall, dass die Mortaner Stolperfallen hinterlassen hatten. Da ich nichts entdecken konnte, drang ich tiefer in den Schacht ein. Doch ich konnte nur grob behauene Felswände erkennen, bevor das letzte Sonnenlicht von der Finsternis geschluckt wurde. Allerdings hing der Geruch von frischer Erde in der Luft, was darauf hinwies, dass irgendjemand noch vor Kurzem hier gearbeitet hatte.
Mein Blick fiel auf einen kleinen Haufen Schutt in der Nähe des Eingangs. Ich ging in die Hocke, um ihn mir genauer anzusehen, doch es war einfach nur ein Haufen Steine, von denen viele gezackte und geschwärzte Kanten hatten, als beständen sie aus verbranntem Glas und nicht aus Fels. Seltsam. Vielleicht hatte Milo seine Blitzmagie eingesetzt, um Zährenstein aus den Felswänden zu lösen … auch wenn ich keine Brandstellen an den Wänden erkennen konnte. Auf jeden Fall jagte mir der Anblick der verkohlten Steine aus irgendeinem Grund einen kalten Schauder über den Rücken. Ich schob einen davon in meine Tasche, um ihn später genauer zu untersuchen, dann erhob ich mich wieder.
Das letzte Mal hatte ich mich vor ein paar Wochen in einer Mine aufgehalten, in Blauberg. Dort hatte Conley, ein korrupter Vorarbeiter, mich in einen Abgrund gestoßen, um zu vertuschen, dass er Zährenstein stahl und an die Mortaner verkaufte. Ich starrte in die Dunkelheit der Mine, während die Erinnerungen in mir aufstiegen.
Der kühle Luftzug bei meinem Sturz. Mein Körper, der auf einen Vorsprung der steilen Felswand knallte. Das Brechen der Knochen in meinem linken Arm und Bein. Weißglühende Schmerzen. Die Kälte des Todes, die sich in meinem Körper ausbreitete. Und dann ein Schatten, der hoch über mir aufragte und sich langsam in einen Mann mit amethystfarbenen Augen verwandelte …
»Gemma«, rief Reiko. »Komm her und schau dir das an.«
Ihre Stimme riss mich aus den Erinnerungen, auch wenn ich immer noch glaubte, den Schmerz zu spüren, der im Takt meines Herzens durch meinen Körper pulsierte. Vielleicht lag es an all den Traumata, die ich in Myrkvior durchlitten hatte, aber seit meiner Rückkehr nach Hause hatte meine Magie ganz neue Eigenheiten entwickelt. Unter anderem schickte sie mir regelmäßig diese kurzen Blicke in die nähere Vergangenheit.
Mit zitternder Hand wischte ich mir den kalten Schweiß von der Stirn. Dann riss ich mich zusammen und trat wieder auf die Lichtung.
Reiko kauerte neben den zwei flachen Findlingen, die von den Mortanern vorhin als Tische verwendet worden waren. Sie zog etwas aus dem Gras, dann stand sie auf und streckte mir die Hand entgegen.
Das gezackte Bruchstück erinnerte in Form und Größe an einen kleinen Dolch. Ich rollte den Stein zwischen den Fingern und beobachtete, wie das Erz seine Farbe wechselte, von hellem Grau zu dunklem Blau und zurück.
»Das ist definitiv Zährenstein. Die Mine scheint nicht ganz so erschöpft gewesen zu sein, wie Lord Eichen beim Mittagessen erklärt hat.«
»Entweder das … oder Lord Eichen arbeitet mit den Mortanern zusammen.«
Überrascht öffnete ich den Mund, um meinen Landsmann zu verteidigen, doch Reiko musterte mich kritisch.
»Erste Regel der Spionage: Jeder kann dich jederzeit verraten. Selbst jemand, den du für einen treuen Verbündeten hältst.«
Sie sprach von Eichen, doch ich sah ein anderes Gesicht vor meinem inneren Auge – dasselbe attraktive Gesicht mit den amethystfarbenen Augen, das ich gerade in meiner Vision gesehen hatte. In gewisser Weise hatte Leonidas Morricone einen viel größeren Eindruck bei mir hinterlassen als die Verletzungen, die ich in der Mine in Blauberg davongetragen hatte.
Ich verdrängte die Erinnerungen und dachte über Reikos Worte nach. »Eichen könnte mit den Mortanern zusammenarbeiten, aber es ist sehr unwahrscheinlich. Der Lord besitzt jede Menge Geld und Macht … trotzdem hat er nie Interesse daran gezeigt, meinem Großvater den Thron streitig zu machen. Außerdem wurde Eichens Schwester vor einigen Jahren von mortanischen Banditen getötet, also hasst er alles Mortanische.«
Reiko akzeptierte meine Erklärung mit einem Nicken.
Ich drehte das Stück Zährenstein erneut zwischen den Fingern. »Wir sollten den Mortanern folgen. Es könnte sein, dass sie irgendwo im Wald ein Lager aufgeschlagen haben. Vielleicht bewahrt Milo dort den gestohlenen Zährenstein auf – und die Waffen, die er daraus geschaffen hat.«
Reiko zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Das könnte auch eine Falle sein. Es macht mich ziemlich misstrauisch, dass wir gerade zufällig zwei Mortaner vor einer alten Mine entdeckt haben und einer von ihnen zufällig ein Stück Zährenstein verloren hat.«
»Ich weiß, aber …«
»Es ist das Risiko wert«, beendete sie meinen Satz.
Ich warf ihr einen missmutigen Blick zu. Reiko grinste nur – genau wie ihr innerer Drache –, dann nickte sie. »Lass uns gehen, Prinzessin.«
Reiko ging dorthin, wo die Männer im Wald verschwunden waren. Ich schob den Zährensteinsplitter seitlich in meinen Stiefel, um ihn auf keinen Fall zu verlieren, dann dachte ich intensiv an Grimley.
Wir haben die Mortaner gefunden. Könnte sein, dass wir dich und Fern brauchen.
Grimley antwortete fast sofort. Unsere Jagd ist abgeschlossen. Wir sind bald da.
Unauffällig bitte. Wir wollen die Mortaner doch nicht verschrecken.
Du magst gerne herumschleichen, aber ich schätze ein direkteres Vorgehen.
Wirklich? Hast du das letzte Woche auch den Glasmeistern von Glitnir erzählt, als du, Fern und ein paar andere Gargoyles in der Luft Saltos geschlagen und dabei eines der Fenster von Alvis’ Werkstatt zerstört habt?
Glas sollte nicht so verdammt zerbrechlich sein , grummelte er.
Grinsend gab ich meine Magie frei, dann schloss ich mich Reiko bei der Suche nach unseren Feinden an.
Reiko und ich schlichen durch den Wald. Wir sprachen nicht, doch Reiko hielt ihr Schwert fest in der Hand, und ich spürte ihre Sorge wie einen Splitter im Herzen. Ich verstärkte den Griff an meinem Dolch und versuchte, ihre Bedenken genauso zu ignorieren wie meine eigenen.
Auch in diesem Teil des Waldes entdeckten wir eine Fährte, doch aufgrund des harten Bodens gab es hier keine Stiefelabdrücke, sodass wir nicht erkennen konnten, wie viele Leute diesen Weg eingeschlagen hatten. Reiko und ich huschten von einem Baum zum nächsten, hielten aber nur so einen großen Abstand zu der Spur, dass wir sie nicht aus den Augen verloren.
Wir legten einen guten Kilometer zurück, bevor die Fährte uns zu einer weiteren Lichtung führte, die noch größer war als die vor der alten Mine. Breite, flache Felsformationen ragten aus den umliegenden Hängen wie Tribünen und erweckten so den Eindruck einer nicht fertiggestellten Gladiatorenarena.
Ich konnte die zwei Mortaner nirgendwo entdecken, doch die Spur verlief quer über die Lichtung, bevor sie auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den Felsen nach oben führte. Die anderen Hänge waren zu steil, um ohne Ausrüstung hinauf zu gelangen, also mussten die Mortaner diesen Weg eingeschlagen haben.
»Wie nah ist die mortanische Grenze?«, fragte Reiko.
Ich deutete auf den gegenüberliegenden Hang, wo neben dem Weg ein vielleicht eineinhalb Meter hoher Steinobelisk aufragte. Auch wenn ich es nicht sehen konnte, wusste ich, dass auf der Spitze des Obelisken das Ripley-Wappen mit dem knurrenden Gargoyle-Gesicht prangte. »Siehst du die Stele?«
Reiko spähte in die angegebene Richtung. »Ist das eine Wegmarkierung?«
»Ja. Außerdem ist es eine Warnung, dass sich der Wanderer nur noch einen Kilometer von der mortanischen Grenze entfernt aufhält. Die Obelisken an der mortanischen Grenze sind purpurrot angemalt und tragen das Morricone-Wappen … damit es wirklich jeder mitbekommt, wenn er von dem einen Königreich in das andere überwechselt.«
»Wir sind zu nah«, murmelte Reiko. »Vor allem, wenn das hier eine Falle ist.«
Nach dem katastrophalen Ausflug nach Myrkvior, der noch nicht lange zurücklag, hätte ich mir gewünscht, ich müsste niemals wieder mortanischen Boden betreten. Doch herauszufinden, wo Milo Morricone all den gestohlenen Zährenstein lagerte, konnte uns helfen, seine Pläne zu durchkreuzen, bevor noch mehr Menschen starben.
»Was sagt dir deine Magie?«, fragte Reiko. »Fängst du irgendwelche Gedanken auf?«
Ich konzentrierte mich, kontrollierte erneut die Lichtung und die Hänge außen herum, doch ich hörte nicht mal einen geflüsterten Gedanken und spürte auch keine gespannte Erwartung oder andere Emotionen. »Es versteckt sich niemand im hohen Gras, um uns aufzulauern. Über die andere Seite des Hanges kann ich allerdings nichts sagen, ohne näher heranzugehen.«
Reiko ließ ihr Schwert in der Hand kreisen. »Dann sollten wir näher herangehen.« Sie grinste. »Schließlich ist es das Risiko wert.«
Ich verdrehte die Augen. »Willst du das jetzt jedes Mal sagen, wenn ich etwas Gefährliches tun will?«
Sie grinste breiter. »Sicher doch.«
Ich stieß ein genervtes Schnauben aus, bevor wir aus dem Wald auf die Lichtung traten. Wir glitten so schnell und lautlos wie möglich durch das kniehohe Gras, doch je weiter wir kamen, desto unruhiger wurde ich. Ich spürte immer noch keine Gegenwart in der Nähe, doch die Lichtung und der Wald wirkten unheimlich ruhig. Keine Vögel zwitscherten auf den Ästen, es sprangen keine Eichhörnchen herum, und selbst der Wind war verklungen. Es herrschte eine vollkommene, unheimliche Stille.
Ein Schatten glitt über uns hinweg. Ich sah auf und rechnete damit, Grimley oder Fern zu entdecken. Doch der Umriss dieser Gestalt war schmaler und stromlinienförmiger als die breiten Körper der Gargoyles. Der Schatten verschwand hinter einem Felsgrat, bevor ich etwas Genaueres erkennen konnte, dafür spürte ich eine Gegenwart in meinem Geist, so weich und sanft wie eine Feder, die mir über die Haut glitt. Ich runzelte die Stirn. Das fühlte sich an wie …
Plötzlich erklang das Knirschen von Leder, und ein Mann trat neben die Wegmarkierung auf der höchsten Stelle des Hangs. Ich erstarrte, während Reiko einen Fluch flüsterte. Wir standen vollkommen ungeschützt mitten auf der Lichtung, also konnte er uns nicht übersehen.
Der Mann war über einen Meter achtzig groß, mit kurzem, schwarzem Haar, haselnussbraunen Augen und bronzefarbener Haut. Sein Körperbau war untersetzt und muskulös, und er hielt sein Schwert wie ein erfahrener Soldat. Obwohl wir erst späten Nachmittag hatten, verdunkelte bereits ein Bartschatten seine Wangen. Die meisten Leute hätten den Mann wahrscheinlich attraktiv gefunden. Vielleicht hätte ich diese Einschätzung sogar geteilt, hätte ich nicht genau gewusst, wie grausam, hinterhältig, rachsüchtig und bösartig er war.
Genau wie die zwei Mortaner, die wir vorhin beobachtet hatten, trug auch dieser Mann einen purpurnen Mantel über einer schwarzen Tunika, eine schwarze Hose und Stiefel. Ein schickes, kursives M umgeben von einem Ring aus Strixfedern – das königliche Wappen der Morricones – glänzte in goldenem Garn über seinem Herzen und verriet seinen hohen Rang.
Wexel, der Hauptmann der königlichen Wache von Morta … und ein loyaler Gefolgsmann von Milo Morricone.
Wexel warf mir einen höhnischen Blick zu, dann senkte er in einer schnellen Bewegung sein Schwert. Wieder hörte ich Leder knarzen, danach erklangen Schritte. Mehr als ein Dutzend Männer erschien auf dem Grat, und alle hatten sie Armbrüste in den Händen.
Mir rutschte das Herz in die Hose, und ich verfluchte meine Dummheit. Reiko hatte recht gehabt.
Wir waren in einen Hinterhalt geraten.