Drei Tage später verließen wir Glitnir und brachen zum Gipfel auf.
Diesmal fuhren wir tatsächlich mit dem Zug, schon wegen der riesigen Gefolgschaft aus Dienern, Höflingen und Soldaten, die Vater und Rhea immer begleiteten. Nachdem sich die ganze Aufmerksamkeit auf Kronprinz Dominic Ripley konzentrierte, konnten Reiko und ich uns im Hintergrund halten – eine echte Erleichterung. Doch in der Öffentlichkeit musste ich trotzdem meiner Rolle als Prinzessin Gemma gerecht werden. Ich lächelte, lachte und tat, als wäre alles absolut in Ordnung … Ich ließ mir also nicht anmerken, dass ich für den Gipfel um unser aller Leben fürchtete.
Früh am nächsten Morgen erreichten wir die Stadt Caldwell. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, wo mein Vater mit der andvarischen Hymne willkommen geheißen wurde. Vater winkte der jubelnden Menge lächelnd zu, schüttelte den Eisenbahn-Gildenmeistern und anderen Arbeiterinnen und Arbeitern die Hände und stieg schließlich zusammen mit Rhea und mehreren Wachen in eine Kutsche. Reiko und ich kletterten in die Kutsche dahinter, dann fuhr der Konvoi mit unserem Gefolge los.
Caldwell gehörte zu den ungewöhnlichsten Städten auf dem gesamten buchovischen Kontinent – denn der Ort lag nicht in einem Königreich, sondern erstreckte sich über drei Reiche gleichzeitig. Der Großteil davon war in Andvari, doch die Läden und Häuser hatten sich schon vor langer Zeit auch nach Unger und Morta ausgebreitet. Seit Jahrhunderten existierte in Caldwell eine unsichere Waffenruhe zwischen den drei Königreichen und ihren Staatsbürgern. Allerdings hatten die Spannungen ein wenig nachgelassen, seit Maeven den Thron von Morta bestiegen hatte. So ungern ich es auch zugab, Vater hatte recht. Einige Dinge hatten sich in ihrer Regentschaft tatsächlich zum Besseren gewendet.
Reiko spähte die ganze Fahrt über neugierig aus dem Fenster der Kutsche.
»Du warst noch nie hier?«, fragte ich.
»Nein, aber die Stadt erinnert mich an Glanzen. Graue Pflastersteine auf den Straßen, Plätze mit hübschen Springbrunnen in der Mitte, silberne und goldene Verzierungen an Häusern und Läden. Wirklich charmant, wie aus einem Märchenbuch.«
»Caldwell hat immer schon zu meinen Lieblingsstädten gehört. Natürlich wird hier der Gipfel abgehalten … aber Caldwell ist auch die Heimatstadt meiner Mutter, also waren wir schon in meiner Kindheit ein paarmal hier.«
Wunderbare Erinnerungen an Picknicks, Schwimm- und Segelausflüge im Sommer und Schneeballschlachten im Winter stiegen in mir auf. Ich sah das freudestrahlende Gesicht meiner Mutter und hörte ihr warmes Lachen.
Obwohl wir einen Großteil unserer Zeit in Glitnir verbracht hatten, hatte ich mich Merilde in Caldwell immer besonders nahe gefühlt. Es war fast, als versteckte sich meine Mutter irgendwo hinter einer Ecke und wartete darauf, dass ich sie fand … so wie es beim Versteckspiel in meiner Kindheit immer gewesen war.
Die Kutsche erreichte die Kuppe eines Hügels, und Reiko lehnte sich vor. »Das ist also der See, von dem ich schon so viel gehört habe.«
Alle drei Königreiche – und damit die Stadt – grenzten an den Caldwell-See, der sich vor der Silhouette der Nadelberge kilometerweit in die Ferne erstreckte. Viele Häuser standen in der Hügellandschaft um den pittoresken See verteilt. Und auch Schloss Caldwell erhob sich an der felsigen Küste.
Anders als Glitnir, das sich in glitzernde Juwelen, Gold und Silber hüllte, bestand Schloss Caldwell nur aus nüchternem, grauem Stein. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass meine Vorfahren die Wände des Schlosses absichtlich schmucklos gelassen hatten, um die angrenzenden Reiche von Unger und Morta nicht an den Reichtum von Andvari zu erinnern. Es war immer besser, das Schicksal nicht herauszufordern, wenn Freund und Feind so nahe waren.
Doch eines war hier genauso wie ein Glitnir – überall gab es Gargoyles.
Darstellungen von Gargoyles waren in die Wände gemeißelt und in die hölzernen Läden neben den Buntglasfenstern geschnitzt. Bronzene Wetterfahnen in Gestalt der Kreaturen drehten sich auf vielen der Türme – zumindest hier, im andvarischen Teil des Schlosses –, flankiert von grauen Flaggen mit dem knurrenden Gargoyle-Wappen der Ripleys. Und natürlich ruhten auf den Dächern diverse Gargoyles in der Morgensonne.
Ein einzelnes Tier kauerte auf dem Turm in der Nähe des Schlosstores und starrte auf unsere Prozession herunter, als wäre es der Torwächter, der uns den Zugang verwehren konnte. Dieser Gargoyle war ein bisschen größer als Grimley, mit einem kompakt gebauten Körper, riesigen Pranken und langen, schwarzen Krallen. Seine hellgrauen Augen leuchteten wie Mondsteine, und die Einschlüsse in seiner dunklen Haut glänzten wie Opale. Der Gargoyle sah stark und gesund aus, auch wenn sein linkes Horn nach der Hälfte in einem gezackten Stumpen endete. Seltsam. Wenige Dinge waren hart oder scharf genug, den steinernen Körper eines Gargoyle zu beschädigen.
Ich kannte viele der Kreaturen, die im Schloss lebten, doch ich konnte mich nicht erinnern, dieses Tier schon einmal gesehen zu haben.
Hallo . Ich schickte den Gedanken sanft in seine Richtung. Wie heißt du?
Otto , grollte er. Nicht, dass es dich oder irgendwen anders hier wirklich interessieren würde, Prinzessin.
Damit breitete er die Flügel aus und flog Richtung See davon. Ich sah ihm stirnrunzelnd nach. Grimley war auch manchmal mürrisch, aber dieser Gargoyle war regelrecht unhöflich gewesen. Doch jetzt war er weg, also verdrängte ich ihn aus meinen Gedanken.
Genau wie von der Stadt allen drei Königreichen jeweils ein Drittel gehörte, so war auch Schloss Caldwell in drei Abschnitte geteilt – hier gab es allerdings einen vierten Abschnitt, der für Gäste aus den anderen Königreichen reserviert war. Ich sah zu den Türmen der anderen Gebäudeflügel auf. Zu meiner Linken wehten Flaggen mit einem knurrenden, roten Ogergesicht mit goldenen Augen auf goldenem Hintergrund – die ungerische Gesandtschaft war bereits angekommen. Wenig überraschend. Die Ungerer liebten Pünktlichkeit beinahe so sehr wie das Tanzen, also reisten sie fast immer als Erste zum Gipfel an.
Zu meiner Rechten, auf der mortanischen Seite des Schlosses, hingen noch keine Flaggen auf den Türmen, was verriet, dass Königin Maeven das Schloss noch nicht mit ihrer Anwesenheit beehrte. Auch das war keine große Überraschung. Die Mortaner kümmerten sich nicht um die Zeitpläne anderer und erschienen immer erst, wenn es ihnen genehm war.
Meine Gedanken wanderten zu Leonidas. Seit ich aus Haverton zurückgekehrt war, spürte ich einen Nachklang seiner Gegenwart in meinem Hinterkopf wie ein ständiger Juckreiz, den ich nicht vertreiben konnte. Meine Magie hob sich, und ein Bild erschien vor meinem inneren Auge – Leonidas, hoch aufgerichtet, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, in seinem üblichen, schwarzen Reitjackett. Irgendetwas verriet mir, dass es keine Erinnerung war, sondern dass ich ihn jetzt im Moment sah, im wahren Leben.
Wieder einmal verfluchte ich meine Magie. Statt eine Geisterreise in die Vergangenheit anzutreten, suchte ich jetzt – was bedeutete, dass mein Geist wanderte, um eine bestimmte Person zu finden. Und genau wie bei den Geisterreisen schien ich auch über diese magische Fähigkeit keinerlei Kontrolle zu besitzen.
Leonidas runzelte die Stirn und drehte den Kopf, als hätte irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt. Unsere Blicke trafen sich, und die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. Ich wusste einfach, dass er mich trotz der Entfernung zwischen uns sah, genauso wie ich ihn sah.
Gemma …
Seine Stimme flüsterte in meinem Kopf. Bei dem tiefen, heiseren Klang zog sich mir der Magen zusammen. Plötzlich konnte ich nichts anderes mehr sehen als ihn und die intensiven, vielschichtigen Gefühle, die sich in seinen Augen spiegelten …
»Gemma? Gemma!« Reiko schnippte vor meinem Gesicht mit den Fingern. »Alles in Ordnung?«
Ich blinzelte. Leonidas’ Gesicht verschwand, auch wenn ich seine Gegenwart immer noch spüren konnte, intensiver und irritierender als je zuvor.
Raus aus meinem Kopf , knurrte ich.
Doch ich bekam keine Antwort. Ich hörte keine Stimme, ich spürte kein Aufflackern von Gefühlen. Es war, als könnte ich ihn spüren, er mich aber nicht. Doch wie sollte das möglich sein? Er hatte seine Mentalmagie immer viel geschickter eingesetzt als ich meine Macht.
Ich wartete, aber die Gegenwart verblasste nicht. Sie blieb einfach, so nervig wie das Summen einer Mücke. Anscheinend hatte Leonidas Morricone sich dauerhaft in meinem Kopf eingenistet, und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn daraus – oder aus meinem Herzen – vertreiben sollte.
»Gemma?«, fragte Reiko wieder. »Was schaust du gerade an?«
»Nichts«, log ich. »Ich starre nur ins Leere.«
Ich führte Reiko zu meinen Gemächern ganz oben in einem der andvarischen Türme. Sie bezog das Zimmer auf der anderen Seite des Wohnbereichs, den wir uns teilen würden.
Diener servierten Platten mit Törtchen und entzündeten das Kaminfeuer. Sobald sie verschwunden waren, öffnete ich eine der gläsernen Balkontüren im Wohnzimmer und stieß einen leisen Pfiff aus. Ein paar Sekunden später segelte Grimley durch die Tür und landete.
»Endlich!«, grummelte er. »Ich dachte schon, du zwingst mich, den gesamten Vormittag draußen in der Kälte zu verbringen.«
»Du hast schon den ganzen Morgen in der Kälte verbracht«, stellte ich klar. »Und die Nacht auch.«
Grimley war auf dem Dach des Zuges von Glanzen nach Caldwell mitgefahren – schlafend –, denn er hielt sich ungern mit unzähligen Leuten in einem Abteil auf.
»Außerdem habe ich gesehen, wie du dich mit Fern zum Jagen davongeschlichen hast, als Vater am Bahnhof alle begrüßt hat. Wie viele Kaninchen hast du heute schon gefressen?«
Grimley schnaubte. »Nur drei. Das ist kaum genug für den hohlen Zahn. Ich muss nachher noch mal jagen gehen – nach meinem Vormittagsschläfchen.«
Damit trottete der Gargoyle zum Kamin und sank zu Boden. Kaum eine Minute später drang das erste, grollende Schnarchen aus seinem Maul.
»Nach ein paar Wochen in Glitnir mit all dem Gold und den Juwelen wirkt Schloss Caldwell fast … schlicht, auch was die Einrichtung betrifft« Reiko ließ ihre Fingerspitzen über einen Schreibtisch aus Ebenholz gleiten. »Ich habe bis jetzt fast keine Edelsteine gesehen.«
»Hat die furchterregende Drachenmorph-Spionin sich so sehr an den Luxus des Palastlebens gewöhnt?«, fragte ich gedehnt. »Falls das der Fall sein sollte, müssen wir uns vielleicht einen Spitznamen für dich einfallen lassen. Ich bin Glimma und du bist … Reiko die Prächtige.«
Reiko verdrehte die Augen. »Das ist ein schrecklicher Spitzname. Und nur fürs Protokoll, ich mag die schönen Dinge des Lebens genauso wie du. Im ryusamanischen Königspalast gibt es ebenfalls eine Menge Gold und Juwelen und im Heim meiner Familie.«
Die letzten Worte klangen fast wehmütig. Der Drache auf Reikos Hand seufzte, wobei eine kleine schwarze Wolke aus seinem Mund drang und über Reikos Haut glitt.
»Freust du dich, beim Abendessen Königin Ruri zu sehen?«, fragte ich.
Reiko verzog das Gesicht, und ihr innerer Drache tat es ihr nach. »Das hängt davon ab.«
»Wovon?«
»Ob mein Vater sie begleitet oder nicht.«
Obwohl wir in den letzten Wochen viel Zeit miteinander verbracht hatten, hatte Reiko nicht viel über ihren Vater oder den Rest ihrer Familie gesprochen – außer über Königin Ruri. Ich war durchaus neugierig, was die anderen Yamatos anging, hatte aber nicht in sie dringen wollen. Doch jetzt, da wir beim Gipfel waren, stand die Politik im Vordergrund, und ich brauchte so viele Informationen über die Ryusamaner wie möglich.
»Dein Vater heißt Tatsuo, oder?«
Natürlich wusste ich das bereits, weil ich mir schon vor langer Zeit Namen und Stand von jedem Mitglied aller königlichen Familien auf dem buchovischen Kontinent eingeprägt hatte, vom kleinen Kind bis zur ältesten adeligen Witwe.
Reiko nickte. »Tatsuo Akio Bunta Yamato, der berühmte ehemalige Gladiator und jetzige Chefberater von Königin Ruri.«
»Das hört sich nach einem wichtigen, mächtigen Mann an.«
»Oh, ja, mein Vater ist sehr wichtig und verfügt über eine große Macht. Genau wie meine beiden älteren Schwestern. Ich kann da kaum mithalten.« Ihre Miene blieb ausdruckslos, doch ich hörte den Schmerz in ihrer Stimme.
»Was willst du damit sagen?«
Reiko starrte schweigend auf den Schreibtisch. Meine Freundin konnte unglaublich stur sein, besonders, wenn es darum ging, ihre Geheimnisse zu wahren, also sah ich mich im Raum um, auf der Suche nach einem Weg, zu ihr durchzudringen. Mein Blick blieb an dem Tablett mit Törtchen auf dem Tisch vor dem Kamin hängen. Das müsste klappen.
»Du kannst es mir genauso gut erzählen«, meinte ich und ließ mich auf einen Stuhl neben dem Tisch sinken. »Weil ich mich sonst gezwungen sehe, diesen gesamten Teller Törtchen allein aufzuessen, während du vor dich hin brütest.«
Reiko schnaubte. »Du magst doch dieses seltsame Käse-Marmeladen-Brot viel lieber als Törtchen.«
Ich schob mir einen der kleinen Kuchen in den Mund. »Hm-mmm-mmmm. Moosbeere-Apfel. Wie lecker!«
Schon nahm ich das nächste Törtchen in den Mund, dann goss ich mir ein Glas Moosbeeren-Cidre ein. Reiko hob herausfordernd die Augenbraue.
Ich aß noch ein Törtchen, ein viertes, ein fünftes … Die Gebäckstücke waren winzig, jedes nur zwei Bissen, aber mein Magen füllte sich schnell. Trotzdem war ich entschlossen, dieses Spiel zu gewinnen. Und wenn ich dafür jedes Stück auf diesem Teller essen musste, dann würde ich es tun und mich später ins Bad zurückziehen …
Reiko schnaubte, stiefelte zu mir herüber und ließ sich in einen Stuhl sinken. »Schön. Du hast gewonnen. Gib mir die verdammten Törtchen.«
Ich schob den Teller über den Tisch. Reiko aß drei Küchlein in schneller Folge und spülte sie mit etwas Cidre hinunter.
»Mein Vater war nie besonders glücklich über meine Entscheidung, Spionin zu werden«, gestand sie schließlich.
»Warum denn nicht?«
Reiko schob sich noch ein Törtchen in den Mund und kaute sorgfältig, bevor sie antwortete. »Weil ich früher Gladiatorin war.«
»Was?«, kreischte ich überrascht. »Das hast du mir nie erzählt!«
»Weil ich nicht besonders gut war.«
»Aber du bist eine tolle Kriegerin. Klug, stark, diszipliniert. Ohne dich wäre ich in Blauberg ein halbes Dutzend Mal gestorben … und auch im Wald bei Haverton.«
Reiko stieß ein harsches, bitteres Lachen aus. »Laut meinem Vater reicht es nicht, herausragend zu sein. Ich muss die Beste sein – so wie er der Beste war. In ungefähr meinem Alter hat Tatsuo das Turnier der Streiter gewonnen – zweimal .«
Ich wollte gerade noch eine Frage stellen, überlegte es mir aber anders und klappte den Mund wieder zu. Das war Reikos Geschichte, und sie sollte sie mir auf ihre Weise erzählen dürfen.
»Die meisten Yamatos sind Drachenmorphe. Sakura, meine älteste Schwester, ist eine talentierte Musikmeisterin, die eines Tages das Anwesen meines Vaters übernehmen wird, während Akari, meine andere Schwester, eine leitende Funktion in der ryusamanischen Marine bekleidet. Also hat mein Vater seine gesamten Gladiatorenhoffnungen auf mich projiziert.« Reiko stieß den Atem aus. »Tatsuo war sehr enttäuscht, als ich bei Weitem nicht so gut war wie er … besonders, als ich im letzten Turnier der Streiter in der vierten Runde rausgeflogen bin.«
Sie trank den letzten Rest ihres Cidres und drehte den leeren Becher dann in den Händen. »Tatsuo hat mir erklärt, ich müsste härter trainieren, doch mit dem Herzen war ich nie wirklich dabei.«
Ein reumütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich habe dir mal gesagt, dass du zu viele Bücher gelesen hast, in denen ein Held Menschen rettet. Nun, ich habe in meiner Kindheit zu vielen Geschichten von Cho gelauscht.« Reiko wedelte mit der Hand in Richtung des Törtchentellers. »Er hat immer süße Köstlichkeiten und Limonade aus der Palastküche besorgt, dann hat er mich mit auf ein Picknick genommen und mir von all den hinterhältigen Dingen erzählt, die er so angestellt hat, zusammen mit Xenia Rubin, Serilda Swanson und seinen anderen Freunden.«
Cho Yamato war der Ringmeister der Gladiatorentruppe zum Schwarzen Schwan. Er war berühmt, seit er Everleigh Blair dabei geholfen hatte, den Sieben-Türme-Palast zu infiltrieren und ihre mörderische Cousine Vasilia vom Thron zu stoßen. Cho war oft in Glitnir zu Besuch gewesen, daher kannte auch ich seine wunderbaren Geschichten – Geschichten voller Action, Abenteuern, Gefahren und Intrigen. Kein Wunder, dass Reiko sich danach gesehnt hatte, Spionin statt Gladiatorin zu werden.
»Ich hatte über die Jahre immer mal wieder mit den ryusamanischen Spionagemeistern trainiert wie alle Mitglieder der königlichen Familie. Aber nach diesem schrecklichen Turnier der Streiter habe ich angefangen, mich wirklich von ihnen ausbilden zu lassen«, fuhr Reiko fort. »Irgendwann habe ich sie auf die ersten Missionen begleitet – was Tatsuo absolut nicht gutgeheißen hat. Als Königin Ruri jemanden brauchte, der den Gerüchten nachgeht, Milo Morricone würde andvarischen Zährenstein horten, habe ich mich freiwillig für die Mission gemeldet.«
»Weil du von deinem Vater wegwolltest?«
Reiko seufzte. »Eher, weil ich einfach keine Lust mehr hatte, mit ihm zu streiten. Ich liebe meinen Vater, aber Sakura und Akari haben ihr Glück mit der Laufbahn gefunden, die er für sie ausgewählt hat. Er hat nie verstanden, wieso ich das nicht auch wollte; wieso ich es einfach nicht konnte .«
»Weil du einfach keine Gladiatorin bist«, murmelte ich.
Sie nickte, dann starrte sie in ihren leeren Becher. Der Drache auf ihrer Hand senkte ebenfalls den Blick. Tiefes Leid strahlte von den beiden aus. Mir zog sich das Herz zusammen.
Ich dachte daran, wie mühelos sich Reiko in Blauberg unter die Bergarbeiter gemischt hatte – als hätte sie seit Jahren nichts anderes getan. Oder wie sie in Myrkvior gelächelt und sogar mit Königin Maeven gescherzt hatte, obwohl es ihren sofortigen Tod bedeutet hätte, wenn sie aufgeflogen wäre. Außerdem dachte ich daran, wie sie sich als mortanische Wache verkleidet und auf einem Strix geflogen war, um mir in der Schlacht von Blauberg zur Seite zu stehen. Und wie sie ihr gesamtes Auftreten und ihre Körperhaltung von einem Moment auf den anderen ändern konnte, sodass sie innerhalb einer Sekunde nicht mehr wie eine arrogante Adelige wirkte, sondern wie eine einfache Dienerin.
Nein, Reiko Yamato war keine Gladiatorin – sie war durch und durch Spionin.
»Vielleicht macht Tatsuo sich nur Sorgen wegen der Gefahren, die mit der Arbeit als Spionin einhergehen«, bot ich diplomatisch an. »Du weißt doch … auch mein Vater hasst es, wenn ich zu einer Mission aufbreche.«
»Du bist die Kronprinzessin, die Erbin«, antwortete Reiko. »Du bist zu wertvoll, um dein Leben bei Spionagemissionen zu riskieren.«
»Aber es ist in Ordnung, dein Leben zu riskieren, weil du keine Erbin bist?« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist lächerlich.«
Reiko warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Oh, Gemma. Du weißt genauso gut wie ich, dass manche Leben wertvoller sind als andere. Bisher warst du nur noch nicht gezwungen, eine solche Wahl zu treffen – zu entscheiden, wen du retten willst und wen du aus welchen Gründen auch immer besser sterben lässt. Nun, Tatsuo hat schon vor langer Zeit entschieden, dass mein Leben weniger Wert besitzt als das meiner Schwestern – wenn ich nicht das Leben führe, das er für mich gewählt hat.«
Sie atmete tief ein, dann folgte ein Redeschwall. »Ich hatte gehofft, wenn ich Milos Intrige enthülle und Ryusama beschütze, könnte ich meinen Vater davon überzeugen, dass ich als Spionin viel bessere Arbeit leiste, als es mir in der Kampfarena je gelungen ist.«
»Dass du die Beste bist«, murmelte ich und nahm damit Bezug auf das, was sie vorhin gesagt hatte.
Reiko hatte diese Formulierung schon oft verwendet. Als ich ihr das erste Mal begegnet war, hatte ich es für Arroganz gehalten, wahrscheinlich hatte sie aber auch versucht, sich selbst zu überzeugen. So wie ich immer noch versuchte, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich meine Magie genauso kontrollieren konnte wie meine Gefühle für Leonidas – obwohl das natürlich nicht stimmte.
Ich streckte den Arm über den Tisch, um ihre Hand zu ergreifen und ihr zu erklären, dass ich sie verstand, doch Reiko sprang auf die Beine.
»Grimley hat recht mit seinem Nickerchen. Das heutige Abendessen wird lang und ermüdend werden, aber ich werde mich bemühen, nicht einzuschlafen.« Sie hielt kurz inne, dann schnappte sie sich den Teller mit den Törtchen vom Tisch. »Und die hier nehme ich mit.«
Damit stapfte Reiko aus dem Wohnzimmer in ihr Gemach und schloss die Tür hinter sich.
Vor dem Kamin brummelte Grimley etwas im Schlaf und rollte sich auf die andere Seite. Der Gargoyle war nicht aufgewacht trotz meiner Unterhaltung mit Reiko.
Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen und rieb mir die Schläfen, weil ich plötzlich Kopfschmerzen bekam. Politik und Intrigen zwischen Königreichen waren schon kompliziert genug … dennoch hatte ich manchmal das Gefühl, dass nichts gefährlicher war als das Gestrüpp aus familiären Gefühlen und Pflichten.
Das würde ein langer Gipfel werden – in mehr als einer Hinsicht.